Heimat als Aneignung und Gedächtnis
Der Historiker und Studiendirektor i. R. Ingomar Senz gehört noch zur sog. Erlebnisgeneration. Er wurde 1936 in Filipowa in der Batschka geboren, heute Provinz Woiwodina in Serbien, und ist Verfasser diverser Bücher über die Donauschwaben, zuletzt erschien als ihr krönender Abschluss sein Geschichtswerk „Rückkehr ins Sehnsuchtsland“, in dem er die Etappen der Integration der Donauschwaben in der deutschen Nachkriegsgesellschaft behandelt, von denen er jede selbst miterlebt hat und somit als wissenschaftlich forschender Zeitzeuge sprechen kann.
Nach einer gründlichen Definition des Begriffes Eingliederung als freies Spiel der Kräfte mit einem gegenseitigen Geben und Nehmen und Lernprozessen sowohl bei der hinzukommenden wie auch der aufnehmenden Gruppe zeigt der ehemalige Lehrer in Deutsch und Geschichte an Gymnasien in Bayern deren Ablauf, indem er nach der Theorie des Vertriebenenministeriums von 1959 vier praxisorientierte Phasen der Eingliederung zur Grundlage der Einteilung seines Buches macht.
In einer ersten Phase der Heimatlosigkeit nach Ankunft der Flüchtlinge in Deutschland und ihrer Zerstreuung über das ganze Land mussten sie notdürftig versorgt und häufig in Barackenlagern untergebracht werden. Sie suchten ihre weit verstreuten Angehörigen und Freunde und kämpften mühsam um Arbeit. Am konkreten Beispiel dreier Familien mit allen ihren Mitgliedern veranschaulicht der Autor diese Notjahre und beschreibt die Situation in fünf verschiedenen Lagern. Dort entstanden langsam Infrastruktur und Hierarchien, die denen in den deutschen Gemeinden des alten Heimatgebietes glichen. Die Insassen nahmen ihr Schicksal bald selbst in die Hand, organisierten Schulbildung und Freizeitbeschäftigung, knüpften Kontakte nach außen. Die Sehnsucht nach heimatlicher Tradition ließ etwa Orchester, Fußballvereine, Volkstumsabende und Kerweihfeste entstehen. Das Zusammensein mit Menschen des gleichen Schicksals ließ das Unsichere der Fluchtzeit in den Hintergrund treten und mehr Selbstbewusstsein aufkommen. Aber auch hemmende Momente bei der Integration wie Heimweh und Diskriminierungen durch die Bevölkerung des Gastlandes werden klar benannt. Den seelischen Verletzungen durch Heimatverlust und Entwurzelung mit nicht selten lebenslanger Schockstarre und psychischen Deformationen ist ein verständnisvolles Kapitel gewidmet.
Diese erste Phase wurde abgelöst durch eine Epoche des Aufbaus mit der Suche nach neuer Beheimatung und das neue Dasein bejahenden Lebensformen. Dies geschah vor allem mit dem Beziehen menschenwürdiger Wohnungen, dem Bau von Eigenheimen und einem beruflichen Neuanfang, letzterer meist erschwert durch die Umstellung oder Umschulung auf neue Berufe und Arbeitsweisen. Viel Fleiß, Zielstrebigkeit, Aufbauwille, Pionier- und Erfindergeist wurde den Vertriebenen abverlangt. Den krisenhaften Erfahrungen in der Transformationsgesellschaft entspringt die Tatsache, nicht nur eine Heimat haben zu können, sondern sowohl die durch gestaltende Aneignung neu erworbene als auch die alte als Sehnsuchts- und Gedächtnisraum.
Dieser Umschichtungsprozess wurde einerseits erleichtert durch staatliche Förderung wie Hausratshilfen, Lastenausgleich sowie gesellschaftliche Absicherung durch Gleichstellungs- und Einbürgerungsgesetze. Andererseits bauten sich alle Vertriebenengruppen Organisationen zur Selbsthilfe und Betreuung ihrer Landsleute auf, sie gründeten Ortsgemeinschaften und Landsmannschaften sowie Institutionen, um das kulturelle Erbe zu sichern, es aber auch im binnendeutschen Raum als Teil einer gesamtdeutschen Kultur zu verankern und bekanntzumachen. Beide Komponenten erwiesen sich als wesentliche Bausteine für das Heimischwerden der Neubürger. Eine weltweit ausstrahlende Stätte der Begegnung und Kulturpflege erhielten die Donauschwaben durch die Patenschaft der Landes Baden-Württemberg in Sindelfingen, regionale Häuser haben sie in Mosbach, Speyer, Frankenthal und München. Das Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde in Tübingen erforscht und lehrt ihre Geschichte mit dem Umfeld der Nachbarvölker, das Donauschwäbische Zentralmuseum in Ulm wahrt ihr dingliches Kulturgut und sucht es historisch im multiethnischen Umfeld der Öffentlichkeit nahezubringen. Diesen Institutionen und Organisationen, den einzelnen Landsmannschaften der Ungarndeutschen, der Sathmarer und Banater Schwaben sowie der Donauschwaben aus Jugoslawien, die wesentlich zur Bildung eines donauschwäbischen Gemeinschaftsbewusstseins beitrugen, widmet Senz jeweils eigene Kapitel, ebenso der Jugendarbeit, den Presseorganen, dem St. Gerhardswerk, dem Südostdeutschen Studentenring, den Arbeitskreisen der Familienforscher und Lehrer, dem Südostdeutschen Kulturwerk sowie der Donauschwäbischen Kulturstiftung. Geschichte kann nicht geschrieben werden ohne die Biographien der gestaltenden und prägenden Persönlichkeiten. Senz befasst sich demgemäß näher mit einigen von ihnen wie Josef Haltmayer als „Apostel der Streusiedler“, Franz Hamm als ausgleichende Führungspersönlichkeit, Stefan Kraft als bedeutender Politiker in drei Epochen, Josef Trischler als erster donauschwäbischer Vertreter im deutschen Bundestag und Annemarie Ackermann als zweite. Jakob Wolf wird gewürdigt als Alleskönner, Dichter und Seele des Hauses der Donauschwaben, Hans Diplich als bedeutender Lehrer, Dichter und Kulturpolitiker.
War es in den beiden ersten Phasen der Integration um den Ausgleich von Verlusten und Schäden gegangen und eine neu hinzugekommene Gesellschaftsgruppe wieder heil zu machen, wurde in der dritten Phase eine Plattform erreicht, auf der sich die Unterschiede zwischen Einheimischen und Fremden abschliffen, ein Austausch möglich wurde, der befruchtend wirkte und das Niveau der Gesamtgesellschaft mit neuen Formen auf eine höhere Ebene hob.
Nach dieser überzeugenden Periodisierung erscheint in der vierten Phase der Eingliederung der Werdegang der Nachfolgegeneration. Sie erhielt bei günstigeren Rahmenbedingungen die Chance, über eine wesentlich verbesserte Bildung mit überproportional vielen akademischen Berufen einen höheren Sozialstatus zu erlangen. Deshalb konnte sie einen wichtigen, allseits geschätzten Beitrag in der jetzt die Integration abschließenden Gesellschaft leisten, von der sie nicht mehr als fremd, sondern als zugehörig betrachtet wird. Die Kindergeneration konnte den durch die Vertreibung erfolgten Rückschlag mehr als ausgleichen und hat das bundesdeutsche Gemeinwesen in all seinen Aspekten bereichert und gestärkt.
Für die junge Generation der Donauschwaben gilt es, fordert Senz, eine bewusste Erinnerungskultur zu betreiben, um nicht nur den Vorfahren etwas zurückzugeben, sondern sich auch das Energiepotential der alten Heimat anzueignen. Daraus entspringe, argumentiert er, „mehr Lebensqualität auch wieder zum Nutzen aller“. Zumal nach dem Fall des Eisernen Vorhangs stelle sich den Kindern und Enkeln auch die Aufgabe, für Ausgleich und Versöhnung mit den Vertreiberstaaten zu sorgen und eine Erinnerungskultur in der alten Heimat ins Leben zu rufen.
Mit dem Ende der Donauschwabentage ausgangs der 1960-er Jahre und der Eröffnung und Inbetriebnahme des Hauses der Donauschwaben in Sindelfingen im Jahr 1970 sei das Ende der donauschwäbischen Geschichte erreicht worden, weil diese Geschichte institutionalisiert, gleichsam an dieses kulturelle „Weltzentrum“ delegiert wurde. Dieses kühne Postulat begründet Senz damit, dass eigengeprägtes donauschwäbisches Leben sich außerhalb dieses Hauses (und weiterer ähnlicher Häuser) kaum mehr abspiele, sondern fortan daran gekoppelt sei. Dass es keinen rein musealen Charakter annimmt, dafür könne der Geist des Hauses noch für eine Weile sorgen. Wenn Geschichte nicht mehr aktiv gestaltet, sondern nur noch passiv hingenommen wird, sei auch ihr Ende erreicht. Grundsätzlich lässt sich diesem Finalisierungsbefund schwer widersprechen, zumindest relativieren könnte man ihn aber mit der im vorhergehenden Absatz erwähnten Aufgabe der Jugend, die durchaus gestaltende Aktivität, geschichtsbewusste Gegenwärtigkeit und politische Verantwortung verlangt.
Ingomar Senz’ Aufarbeitung der donauschwäbischen Nachkriegsgeschichte in Deutschland ist mit ihren (nicht selten aus eigener Anschauung hinterlegten) Betrachtungen und Analysen, Bio- und Monographien, Statistiken, Karten, Schautafeln und Bildern, mit ihrer kritischen Nutzung der vorhandenen Quellen, mit ihren zusammenfassenden Resultaten und den Registern im Anhang die gewissenhafte Demonstration eines gewaltigen Transformationsprozesses gelungen, eines beispiellosen Erfolgs beim Aufbau neuer gesellschaftlicher Strukturen und gleichzeitiger Integration einer großen Zahl von Menschen. Plastisch arbeitet Senz die Art und Weise heraus, wie der unvoreingenommene fremde und doch verwandte Blick der Neubürger dynamisch Innovation förderte, europäisierungsfreundlich öffnete und zu einem nicht nur wirtschaftlichen und sozialen, sondern auch kulturellen Mehrwert führte. Wenn – wie die Denker des deutschen Idealismus glaubten – Geschichtsbewusstsein die Basis aller Kultur ist, dann hat Ingomar Senz dafür einen bedeutenden, unentbehrlichen Baustein bereitgestellt. Er hat eine Epoche in vielerlei Aspekten neu beleuchtet und bewertet, auch als Gesamtdarstellung ist sein Buch ein Novum.
Stutzig macht nur der Titel „Rückkehr ins Sehnsuchtsland“. Er scheint zu suggerieren, die Donauschwaben hätten sich nach dieser Rückkehr in die Urheimat gesehnt. Vielmehr aber verklärten sie das „Mutterland“ als eine Art Paradies, wo sie keine Fremden waren, von dem sie jetzt jedoch „Welten trennen“, wie der „Schwabendichter“ Adam Müller-Guttenbrunn in seinem „Schwabenlied“ sagt. Nur in diesem Sinne ist „Sehnsuchtsland“ zu verstehen.
Die drei Jahrhunderte umfassende Geschichte der Donauschwaben – speziell auch seit ihrer Aufspaltung 1919/20 in die Länder Jugoslawien, Rumänien und Ungarn – ist mittlerweile von ihren Anfängen 1689 bis zur Gegenwart 2020 vollständig geschrieben. Innerhalb von 23 Jahren sind seit 1997 die Werke von drei Historikern in fünf Bänden auf mehr als 3.500 Seiten im Verlag der Donauschwäbischen Kulturstiftung erschienen, einer gemeinnützigen privaten Stiftung mit Sitz in München, die 1978 zur Förderung donauschwäbischer Forschungs-, Dokumentations- und Kulturarbeit gegründet wurde. Ihr Ziel war und ist eine einzig der Wahrheit verpflichtete Geschichtsschreibung, ein Ambition, die sie frei und ohne politische Bevormundung verfolgen konnte, weil sie von keiner offiziellen Stelle, sondern lediglich von privaten Zuwendungen finanziell unterstützt wird. Entscheidender Initiator dieser Stiftung war übrigens der Historiker und Volkskundler Josef Volkmar Senz, Vater und Mentor des Historikers Ingomar Senz.
Nachdem ergänzend auch der Band über die Integrationsgeschichte der Donauschwaben in Österreich von Dr. Georg Wildmann erschienen und damit dieses Großprojekt vollendet ist, besitzen die Donauschwaben eine einzigartige Darstellung ihrer gesamten Historie, wie sie meines Wissens keine andere deutsche Volksgruppe aufzuweisen hat, vergleichbar wohl nur mit der von Zeitzeugen schon vor drei Jahrzehnten geleisteten, umfassenden wissenschaftlichen Aufarbeitung ihres Leidensweges und des an ihnen verübten Genozids im kommunistischen Jugoslawien, die gleichermaßen von der Donauschwäbischen Kulturstiftung getragen wurde.
Ingomar Senz: Rückkehr ins Sehnsuchtsland. Die Eingliederung der Donauschwaben in die deutsche Nachkriegsgesellschaft, 2020 im Selbstverlag, 432 S., Leineneinband mit Schutzumschlag, 25.- € + Versandkosten, Vertrieb: Ingomar Senz, Auweg 2 a, 94469 Deggendorf, Tel. 0991 / 34 37 50, Mail: ingomar.senz@gmail.com
Stefan P. Teppert
Foto: Dr. Ingomar Senz