Die Charta der deutschen Heimatvertriebenen – Revision eines 70 Jahre alten Grundsatztextes

Vehement wurde seit der Unterzeichnung der „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ am 6. August 1950 vor wohl 150.000 Menschen im noch von der Kriegszerstörung gezeichneten Stuttgart gestritten: über Inhalt, Sprache, Bedeutung und die Verfasser. Die politische Spannweite der einander teils ausschließenden Meinungen, Stellungnahmen und Polemiken kann mit den Stichworten „Revanchismus“, „Heimatnostalgie“, „Mitgründungsdokument der Bundesrepublik“ und „Friedensverhinderungsdokument“ umrissen werden. Einen Beitrag zur nüchternen Beurteilung lieferte am 20. Juli 2020 Dr. Otfried Pustejovsky im Stuttgarter Haus der katholischen Kirche.

Der Bohemist und Historiker war vom Katholischen Bildungswerk Stuttgart und der Ackermann-Gemeinde in der Diözese Rottenburg-Stuttgart eingeladen worden. Prof. Dr. Dr. Rainer Bendel, Projektleiter der Arbeitsgemeinschaft katholischer Vertriebenenorganisationen (AKVO), hatte die Veranstaltung organisiert und moderierte sie. Er stellte Pustejovsky als Kenner der Geschichte Böhmens und Mährens vor, der nicht nur über den christlichen Widerstand gegen den Nationalsozialismus sowie die verfolgte Kirche zu Zeiten der ČSR gearbeitet, sondern vor wenigen Jahren auch einen umfangreichen Aufsatz über einen Vorläufer der Charta der Vertriebenen veröffentlicht hat, nämlich über die von sudetendeutschen Politikern und Wissenschaftlern 1949 abgegebene „Eichstätter Erklärung“.

Dr. Otfried Pustejovsky

Pustejovsky präsentierte keinen Festvortrag oder eine verehrungsvolle Würdigung, sondern ordnete die Formulierungen der Charta in den Kontext ihrer Vorgeschichte und Zeitumstände ein und untersuchte das Netzwerk der Protagonisten dieser Erklärung. Einleitend erinnerte er an die in den ersten Nachkriegsjahren bei weiten Teilen der Bevölkerung in Westdeutschland herrschende negative bis feindliche Stimmung gegenüber den Flüchtlingen. Mit einem Aufruf an Binnendeutsche und Flüchtlinge wies 1947 der sudetendeutsche Augustiner-Chorherr Paulus Sladek gerade den persönlich unschuldig gebliebenen Menschen die Berufung zu, den Fluch des Bösen zu überwinden. Solche Appelle, so der Referent, können bei einem hochkomplexen Thema, das sich jeder Vereinfachung oder gar nachträglichen Ideologisierung entziehe, als „Rahmen“ für die politische Willensbildung eingeordnet werden. Die Charta sei jedoch von Anfang an und bis heute polarisierend gesehen und bewertet worden: einerseits unkritisch-verteidigend, andererseits ablehnend und abwertend. Je größer der zeitliche Abstand, umso heftiger seien die Äußerungen und Debatten geführt worden, vielfach von Voreingenommenheit, Ignoranz oder Besserwisserei bis zu fundamentloser moralischer Überheblichkeit bestimmt. Deshalb müsse man viel stärker den Zeitabstand, die gewandelte Bedeutung von (politisch aufgeladenen) Begriffen und Vorstellungen in Rechnung stellen sowie die Zeitumstände des Jahres 1950 berücksichtigen. Dazu gehören am Beginn erneuerter Staatlichkeit und in diese eingebettet die Neubildung von Parteien und Interessenverbänden in all ihrer Heterogenität, darunter die Gruppierungen der deutschen Flüchtlinge, Heimatvertriebenen und Ausgesiedelten.

Pustejovsky stellte einige der 30 ausschließlich männlichen Unterzeichner der Charta vor. Ausgenommen vier oder fünf ehemalige höhere Funktionäre im NS-System bzw. drei höhere SS-Angehörige ragten sie nicht über den Durchschnitt der deutschen NS-Vergangenheit hinaus, stammten überwiegend aus Verwaltung und Justiz und verschiedensten Gebieten des Reiches und des Auslands. Namentlich nannte Pustejovsky den aus Ostpreußen stammenden Linus Kather und Helmut Gossing sowie die ehemaligen SS-Mitglieder Rudolf Wagner, Erik von Witzleben und Franz Hamm. Eine besondere Rolle habe der sudetendeutsche Nationalist Rudolf Lodgman von Auen gespielt, der nach 1939 die Judenverfolgung gutgeheißen und die Unterzeichnung der Eichstätter Erklärung abgelehnt hatte und zum unversöhnlich eingestellten Sprecher der Sudetendeutschen Landsmannschaft wurde. Bis heute gebe es keinen faktenorientierten Nachweis, wer von den 30 Unterzeichnern die Friedensgeste durchgesetzt und wer den Text letztlich verfasst hat und wieso dieser bald darauf auch von den Nichtunterzeichnern Bundeskanzler Adenauer überreicht wurde. Um zu demonstrieren, wie zerrissen die deutsche Gesellschaft nach 1945 war, wie Binnendeutsche ihre NS-Vergangenheit kleinreden, vertuschen und verbergen sowie beim Aufbau des Staatswesens oft entscheidend mitbestimmen konnten, nannte der Redner Namen wie Kurt Georg Kiesinger, Hans Filbinger, Franz Josef Schöningh und Martin Heidegger.

Der Text dieses Zeitdokuments bestehe aus insgesamt nur 423 Wörtern und vier inhaltlichen Abschnitten. Die Präambel mit drei Grundsatzaussagen sei in der Diktion emotional, im sprachlichen und inhaltlichen Aufbau eher provinziell formuliert und gehe von einem tradierten Glaubens- und Geschichtsverständnis aus. Der folgende Abschnitt mit dem kollektiven „Verzicht auf Rache und Vergeltung“ biete bis heute den Ansatz zu weit gespannter und vielfach unseriöser oder oberflächlicher Kritik. Doch sei zu bedenken, dass im Begriff Verzicht substanziell auch die ethisch-moralische Kategorie des Verzeihens enthalten ist. Die Formulierung kategorialer Positionierungen wie eines europäischen Zukunftsgedankens, der allgemeinen Arbeitswilligkeit sowie Aufbaubereitschaft innerhalb eines nunmehr freiheitlichen Deutschlands und Europas zeige einen neuen Ansatz für die historische Darstellung auf. Die Postulierung des in der deutschen Sprache emotional aufgeladenen und schwer zu fassenden Phänomens der Heimat nur nostalgisch zu interpretieren, es mit Revanchismus oder gar Faschismus gleichzusetzen, gehe an jeglichem soziologisch-historischen Untersuchungsansatz vorbei. Im dritten Abschnitt formulierten die Unterzeichner einen 4-Punkte-Forderungskatalog mit ausdrücklich innenpolitischer Ausrichtung: 1. Staatsbürgerschaft, 2. Kriegslastenverteilung, 3. Berufsintegration, 4. Europapolitische Mitbeteiligung. Im vierten Abschnitt wird die deutsche Vertriebenenproblematik in einen transnationalen und staatsübergreifenden Kontext gestellt und eine höchste sittliche Verantwortung beschworen. Auch dies entspreche der allgemeinen Verfasstheit der Menschen im Nachkriegsdeutschland.

Die Charta weise jedenfalls etliche grundsätzliche Bezugspunkte zur ersten Regierungserklärung von Bundeskanzler Adenauer vom 20. September 1949 auf. Ihre kritische Bewertung reiche von ernst zu nehmender Einordnung in die Nachkriegsgeschichte bis zu polemischen Attacken, von der Verteidigung der Verletzlichkeit der Betroffenen bis zur Ignoranz historischer Fakten oder Unterstellungen, etwa derjenigen, dass die Charta die Kriegsschuld Deutschlands relativiere, einem nationalistisch verengten Opferdiskurs Vorschub geleistet habe und ihr Europabezug nur eine taktische Variante sei.

Auch nach 70 Jahren sei die Charta der deutschen Heimatvertriebenen ein zwar umstrittenes, doch fundamental positiv-zukunftsorientiertes politisches Dokument aus der Frühzeit der Bundesrepublik Deutschland sowie der beginnenden neuen Sesshaftigkeit der mehr als zwölf Millionen wie auch immer entwurzelten Menschen. Um aber für die vierte Generation der Nachkriegsgeborenen doch noch zu einer ausgewogenen Beurteilung des Textes dieser Charta und seiner gesellschaftspolitischen Bedeutung zu gelangen, bedürfe es einer umfassenden, aufwendigen und nüchternen Forschungsarbeit sowie einer offenen Einordnung in die gesamtdeutsche und europäische rechtsstaatliche Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts.

Stefan P. Teppert