Dr. Herbert Czaja – Opposition gegen den Nationalsozialismus in Ost-Oberschlesien

Ich will ganz einfach nur erzählen, was ich erlebt habe und woran ich mich erinnere, also ein Stück eigenen Erlebens; Goethe sprach von „Dichtung und Wahrheit“. Ich konnte nicht exakt alles überprüfen, was ich Ihnen sage. Hier und dort mag sich auch etwas Phantasie oder Zeitverwechslung in die Erinnerung eingeschlichen haben.

Bis 1939 kam man in Ostoberschlesien wegen des stillen oder offenen Auftretens gegen den Nationalsozialismus oder wegen kritischer Haltung zur Diktatur im Reich nicht in Konzentrationslager. Allerdings konnte man zwischen zwei Stühle geraten. Von polnischer Seite wur­den die Deutschen meist ohne Rücksicht, wozu sie politisch zählten, diffamiert und diskriminiert, sehr oft der Arbeit, Unterstützung oder der Einhaltung des Berufsweges beraubt. Von hundertprozentigen Nationalsozialisten wurden dagegen verdiente Deutsche, die sich gegen die Diktatur stellten, als „verfluchte Volksverräter“ auch öffentlich diffamiert und im übrigen durch die verschiedenen Vermittlungsstellen und reichsdeutschen Behörden von allen Subsidien ausgeschlossen, ohne die infolge der polnischen Verfolgungsmaßnahmen die deutsche Minderheit und ihre Angehörigen, wenn sie nicht selbständig waren, kaum existieren konnten.

Wenn ich den Begriff Widerstand etwas vorsichtiger fasse, so möchte ich keineswegs der Haltung der mutigen Oppositionellen gegen die NS-Ideologie in Ostoberschlesien Abbruch tun. So mussten insbesondere die führenden Personen Ehre, Ansehen und ihr Vermögen für ihre kritische Haltung opfern. Ich sage das auch deshalb, weil insbesondere von linker und von kommunistischer Seite im In- und Ausland die Meinung verbreitet wird, dass es keinen bürgerlichen Widerstand gab. Echten Widerstand hätten nur Kommunisten geleistet. Die zahlreichen Bürgerlichen, die Offiziere und Adligen werden von den Linken als Mitläufer des Nationalsozialismus, sogar als führende Unterstützer des Nationalsozialismus, die entweder sehr spät aufgewacht sind, oder nur, als der Krieg verloren war, umschalteten, bezeichnet. Sicherlich gibt es auch unter dem bürgerlichen Widerstand Personen, die anfangs den Nationalsozialismus kräftig unterstützten. Diese Unterstützung reichte auch in Teile deskirchlichen Widerstandes hinein, wo vereinzelt Bischöfe und auch Personen, die später zur Bekennenden Kirche auf evangelischer Seite gehörten, dem Nationalsozialismus positiv gegenüber­standen.

Im übrigen darf ich auf ein Erlebnis aus meiner Krakauer Studienzeit nach 1937 verweisen: Im ersten Trimester studierte ich Jura und kam auch dort mit vielen jungen polnischen Jesuiten zusammen. Diese waren ebenso wie die in dem von Pater Kolbe geleiteten Verlag erscheinende Massenzeitung „Das kleine Blatt“ vom Nationalsozialismus begeistert und meinten, dass er in Deutschland Ordnung gegenüber Missständen wie Pornographie und moralische Zersetzung durch die Juden schaffe. Vergebens habe ich in stundenlangen Diskussionen ver­ sucht, diese Jesuiten zu warnen. Sicherlich sind manche von ihnen später in Konzentrationslagern oder in den Kerkern zu Tode gekommen.

Ich sage das nur, um die allgemeine Stimmung zu kennzeichnen.

Dennoch muss man unterstreichen, dass es eine breit gefächerte katholische Opposition und einen kirchlichen Widerstand sowohl auf katholischer wie auf evangelischer Seite gab. Wenn heute junge, auch schlesische, Professoren meinen, es habe kaum einen kirchlichen Wider­stand gegeben, so rate ich ihnen, nicht nur die Annalen der ermordeten katholischen Laien und Priester durchzusehen, sondern vor allem auch ein paar Nummern der Jugend­­­zeitung „Michael“, „Junge Front“ oder aber des „Hochlands“, der „Stimme der Zeit“, des „Christlichen Ständestaats“ usw. aus dieser Zeit durchzulesen. Sie müssten dann ihre Ansicht massiv revidieren. Der nicht-kommunistische Widerstand wollte ein sittlich gereinigtes deut­sches Volk, eine von Fehlern befreite Rolle der Deutschen in Europa, er wollte möglichst wenig oder nichts von Deutschland preisgeben und die Rolle der Deutschen in Europa wahren. Vieles davon ging in das Grundgesetz ein, aber auch in die Auffassungen politischer und gesellschaftlicher Gruppen über die Bindung und Einbindung Deutschlands und der Deut­schen in gesamteuropäische Aufgaben und in einen freiheitlichen und förderalen europä­ischen Ausgleich. Beispiel nenne ich die Briefe von Pater Delp, die aus dem Gefängnis herausgeschmuggelt wurden, insbesondere im vierten Band der gesammelten Schriften. Darin steht auf den Seiten 328 und 329 eine Aufzeichnung Deutschland“. Deutschland dürfe sich durch nichts die Hoffnung auf die Zukunft nehmen lassen, schrieb Delp wenige Tage vor der Hinrichtung. „Entweder wir sind in Ordnung oder die Welt ist durcheinander“. Die Deutschen werden auch großen Einfluss auf die kommende  Gestalt der Kirche haben. Auf den Seiten 358 und 359 unternimmt er eine Analyse des Urteils des Volksgerichtshofes unter Freisler gegen seine Person. Die letzte Ursache seiner Hinrichtung sei, dass seine Freunde und er bereit sind zu sterben, weil sie als Christen an Deutschland geglaubt haben. Freisler sei der Auffassung, nach seiner Niederlage der NSDAP gebe es kein deutsches Volk mehr. Dagegen hätten die Widerständler und er den Standpunkt vertreten, dass es auch nach einer militärischen Niederlage die Möglichkeit gebe, die Ziele Deutschlands politisch zu behaup­ten. Der Tod der Widerständler könne Grundlage für die geistige Entwicklung des kommenden Deutschland sein.

Ich will hier nicht untersuchen, wie weit das der Fall war und wie weit vieles davon nicht verwirklicht ist. Einige Ansätze davon zeigten sich, wie gesagt, im Grundgesetz und in den europäischen föderalistischen Auffassungen, einiges könnte heute wieder in manchen Jugendkreisen neu belebt werden.

Doch ich muss zu meinem Thema zurückkehren und einige Sätze über Ostoberschlesien selbst sagen, das ja nach einer Abstimmung 1921 im Jahre 1922 – nach einer Abstimmung, die in den national gemischten Kreisen die rein deutschen Kreise wurden in die Abstimmung nicht einbezogen) mit etwa 60 zu 40 für Deutschland ausging – durch Entscheidung der Botschafterkonferenz vom Deutschen Reich abgetrennt wurde. Politisch war das von den meisten deutschen Parteien im Reich nicht hingenommen worden, völkerrechtlich wurde dies jedoch anerkannt.

Stresemann und andere betrieben lange Zeit diesbezüglich eine Revisionspolitik im Weima­rer Staat. Bei der Teilung waren die Städte Beuthen, Hindenburg, Gleiwitz, Oppeln und Ratibor beim Reich geblieben. Dagegen stehen z.B. Stadt und Kreis Kattowitz, Königshütte, Pless, Rybnik, Teile des Kreises Tarnowitz, aber auch Teile der Kreise Beuthen und Hindenburg, Ratibor und Lublinitz, die an Polen fielen, und damit 85 % der Kohlevorkommen.

Durch die Abtrennung Ostoberschlesiens waren die Industriegebiete und die Verkehrsstränge geteilt, der Zusammenhalt der Bevölkerung zerschnitten.

Bei freien Wahlen in der reichsdeutschen Provinz Oberschlesien gab es ab 1924 höchstens fünf bis sieben Prozent der Stimmen für polnische Listen, 1932 nur zwei Prozent. Die Nationalsozialisten waren lange Zeit in Westoberschlesien sehr schwach vertreten.

In dem vom Deutschen Reich abgetrennten Ostoberschlesien gab es bei den letzten freien Wahlen zum teilweise autonomen Landesparlament 1930 über 35 Prozent der Stimmen für die Deutschen (dazu gehörten die Deutsche Christliche Volkspartei und die Deutsche Partei, die einen Block bildeten, und die Deutschsozialistische Arbeiterpartei, die allein in den Wahl­kampf ging und später auch mit der Polnischen Sozialistischen Arbeiterpartei, allerdings unter Wahrung deutscher Interessen, zusammenarbeitete).

Die drei polnischen Aufstände von 1919 und 1921 hatten zwischen Deutsche und Polen tiefe Gräben gezogen. Die Gegensätze gingen oft durch die Familien. Man darf nicht übersehen, dass es in Oberschlesien, insbesondere Ostoberschlesien, nicht nur zwei, bzw. wenn man Sudetenschlesien hinzunimmt, drei Nationalitäten gab, sondern auch schwebendes Volkstum. Im Zusammenhang mit den Aufständen war es zu schweren Greueltaten gekommen, wobei die weitaus größte Zahl von polnischer Seite verübt wurde.

Korfanty war ein wohl kaum mit Skrupeln belasteter Anführer der Polen, der nach 1922 mit großer Entschiedenheit für die Autonomie des zu Polen gekommenen Teiles Oberschlesiens und gegen die immer diktatorischer werdende Herrschaft des schlesischen Wojwoden Grazynski auftrat. Vor 1939 wurde er, wenn ich nicht irre, nach dem Tode Pilsudskis von der sich diktatorisch gebärdenden Zentralregierung in Warschau in Kasematten in Ostpolen festgesetzt, wo er sich den Todeskeim holte. In den Kämpfen im schlesischen Landesparlament war Korfanty in der Zeit, als der Nationalsozialismus stärker wurde, an die Seite der Deutschen Christlichen Volkspartei bzw. der Katholischen Volkspartei getreten und hatte auch in Debatten im schlesischen Parlament für die deutschen Schulen und für die Muttersprache der Deutschen geredet.

Seine Partei, die später zugunsten der sogenannten „Sanacja“, einer Erneuerungsbewegung der Anhänger Pilsudkis, gespalten wurde, sorgte immer wieder dafür, dass einer der Vize-Marschälle, also der Vizepräsidenten des schlesischen Sejms, ein Vertreter der Deutschen Christlichen Volkspartei, der Senator Dr. Pant, war.

Die Deutsche Sozialistische Arbeiterpartei verhielt sich ambivalent im Landesparlament.

In Oberschlesien war, gemäß den Verträgen, vor Ort eine Vertretung des Völkerbundes mit dem Kommissar Calonder einige Jahre nach Kriegsende tätig, die manchmal Schlimmstes ver­hindern konnte.

Trotzdem gab es massive Eingriffe gegen das deutsche Schulwesen, Repressionen gegen Eltern, die ihre Kinder in die deutschen Schulen schickten, zwangsweise Ausschließung von Kindern aus gemischten Ehen, die in deutsche Schulen gingen, durch die Polizei und die Staatsmacht.

Es gab dieserhalb ununterbrochen Klagen beim Völkerbund. Nachts erfolgten auf dem Lande oft Überfälle auf deutsche Familien. Nach einer bestimmten Frist waren jedoch die Befugnisse des Völkerbundkommissars erheblich eingeschränkt durch das Aufkommen des Nationalsozialismus im Reich, wo der Gegensatz und der nationale Hass wuchsen. Grazynski gab sich immer totalitärer. Eltern, die ihre Kinder in die deutschen Schulen schickten, wurden aus der Arbeit entlassen und zwar auch in den privaten Firmen und in den großen Bergbau- und Industrieunternehmen, die Flick an eine englische Dachgesellschaft abtreten musste. Deutsche Beamte wurden entlassen, Bürgermeister amtsenthoben, Gemeinderäte kommissarisch er­nannt.

Einige Hinweise aus eigener Erinnerung:

Als ich etwa sechs Jahre alt war, tobte ein polnisch­tschechischer Krieg um Ostschlesien. Ich sehe noch die Verwundeten vor mir bei uns im Hof. Der Vater wurde, wie andere Deutsche aus der Stadt, zeitweise von den Polen interniert. Es gab sehr schwierige Lebensumstände. Die freiberuflich Tätigen hatten alles verloren. Mein Vater ging über Land, um von den Bauern etwas Butter und Zucker zu erbetteln oder einzukaufen, und hinüber nach dem von den Tschechen beanspruchten Gebiet, um von dem dort ihm bekannten Amtskollegen – er war Notar – etwas Zucker und Marmelade zu erhalten. Als ich in der ersten Volksschulklasse war, erinnere ich mich noch sehr genau, wie Kinder aus nationalgemischten Ehen vonder Gendarmerie mit aufgepflanztem Bajonett aus der deutschen Schule herausgeholt wurden. Die Zahl unserer deutschen Volksschüler in Skotschau, wo bestenfalls sich ein Viertel der Bevölkerung zu den Deutschen bekannte – wir hatten aber immer einen deutschen Vizebürgermeister, der von dem polnischen katholischen Pfarrer, der Bürgermeister war, sehr gestützt wurde, und eine Reihe deutscher kommunaler Beamten, einen deutschen Sparkassendirektor usw. – schrumpfte immer mehr. Wir waren in einem Raum zwei bis drei Klassen beisammen bei einem Lehrer. Trotzdem lernten wir recht ordentlich. Als ich später im deutschen Gymnasium in Bielitz 1933 das Abitur machte, war die deutsche Volksschule in Skotschau bereits geschlossen. Das zeigt an, wie man hier lebte. Die Deutschen, die aufmerksam die Dinge beobachteten, auch junge Deutsche, spürten geradezu, wie ihnen der Sand unter den Füßen wegrann. Dennoch hatten wir eine breit gestreute deutsche Presse im ostschlesischen Teil Oberschlesiens. Die „Schlesische Zeitung“ in Bielitz, zeitweise auch die „Silesia“ in Teschen waren liberale Blätter, ferner der „Oberschlesische Kurier“, ein katholisches Blatt, und aus dem Sudetengebiet kamen die sehr liberale und antinationalistische „Morgenzeitung“ und verschiedene Prager Zeitungen zu uns. Man las auch in gebildeteren Kreisen die Wiener „Pres­se“ sowie andere Organe aus dem Reich.

Mein Vater war zeitweise deutscher Gemeinderat. Ich erinnere mich noch sehr genau, wie er sich nach der polnischen Machtübernahme weigerte, den Doppeladler, den er als Notar am Hause hatte, abzunehmen, ebenso die Kaiserbilder in der Kanzlei; der Doppeladler wurde dann durch die Feuerwehr entfernt. Die Kaiserbilder blieben lange Zeit und stießen auf anfangs milde Kritik der noch in diesem Teil altösterreichischen polnischen Beamten des Kreisgerichts, insbesondere des Kreisgerichtspräsidenten, die noch aus der österreichischen Schule kamen und tolerant waren.

Etwa 1930 schieden aber auch diese Beamten aus, und die Atmosphäre wurde viel schlimmer. Als mein Vater erblindete, wurde er entgegen den gesetzlichen Bestimmungen amtsenthoben, und es begann, da Notare in diesem Bereich freiberuflich tätig waren und nur von Ersparnissen im Alter leben konnten, eine recht schwierige Zeit für uns, menschlich und finanziell, einige Zeit vor meinem Abitur.

Im Gymnasium waren in den letzten Jahren nach 1930 schon voll die Gegensätze zwischen Nationalsozialisten und den wenigen, die da nicht mitmachten, durchgeschlagen. Wir hatten in unserer Klasse immer etwa ein Drittel jüdischer Mitschüler, die in diesem Gebiet viele Jahre treu zu den Deutschen standen. Das änderte sich allerdings etwas nach 1933. Ebenso hatten wir etwa ein Viertel bis ein Drittel von Mitschülern aus deutschen Kolonien in Galizien, die in einem deutschen Schülerheim untergebracht waren. Als ich ins Gymnasium ein trat, hatten wir ein eigenes humanistisches und ein Realgymnasium. Mit der Zeit wurden sie zusammen gelehrt. Die Klassen wurden auch dort immer kleiner. Zwei bi drei Jahre vor dem Abitur bekamen wir schon den Geschichtsunterricht geteilt, einen Teil allgemeine Geschichte in deutscher Sprache, die polnische Geschichte erteilt von polnischen Lehrern in polnischer Sprache. Diese waren aber recht tolerant. Ebenso war die erste Fremdsprache Polnisch. Knapp vor dem Abitur wurde der deutsche Direktor der Anstalt zwangspensioniert. Es kam ein polnischer Direktor, der sich mit den Schülern deutsch unterhielt, aber mit den meist nicht polnisch könnenden Gymnasiallehrern, bei uns Professoren genannt, auf polnisch, was uns immer wieder zu Lachstürmen veranlasste, da diese ihn entweder nicht verstanden oder ein schreckliches Polnisch, gemischt mit Tschechisch, radebrechten, um so mehr, als es darunter eine ganze Reihe deutscher Juden aus Teilen Ostschlesiens und Mährens sowie Böhmens gab.

Bielitz war eine weltbekannte Schulstadt, allerdings auch eine Tuchmacher- und Industrie­stadt. Die Dörfer ringsum waren deutsch, zum Teil auch von deutschen Sozialdemokraten beherrscht. Es gab ein sehr bekanntes deutsches Theater mit Oper und Operette. Ein ähnliches Theater in Teschen war allerdings einige Jahre nach dem Krieg eingegangen, ebenso wie das dortige deutsche Gymnasium. Die Schüler fuhren im Zug nach Bielitz, ebenso ich. Das Bielitzer deutsche Theater wurde von Industriellen, aber auch von jüdischen Kreisen stark unterstützt. Fast alle großen Wiener Opern- und Operettenstars waren zeitweise in Bielitz, Teschen oder Troppau am Theater, bevor sie zu einsamer Höhe emporstiegen. Die Lebensbedingungen wurden ab 1933 schwieriger. Immer mehr der tschechischen Arbeiter, auch die im Bergbau, angefangen vom Steiger, wurden entlassen, wenn sie sich zum Deutschtum bekannten. Der Terror spielte eine immer größere Rolle. Das schlesische Landesparlament wurde willkürlich vom Wojwoden aufgelöst.

Dies alles muss man als Hintergrund kennen, um zu wissen, was Widerstand gegen den Nationalsozialismus in diesem Gebiet bedeutete. Natürlich waren die meisten Mitschüler unter diesen Umständen von deutschnationalen Ideen beherrscht. Die Zahl derer, die in katho­lischen Jugendverbänden lebten und vorsichtig andere Auffassungen vertraten, wurde immer geringer. Man darf auch nicht vergessen, dass an sich unpolitische Bünde, die sich von der Jugendbewegung des Hohen Meisner herleiteten, wie beispielsweise der Wandervogel, sich immer mehr national gaben, ebenso die Jugend, die im Turnverein war. Da ich ein guter Schüler war, konnte ich es mir erlauben, etwas abweichende Meinungen in der Klasse ungestraft zu vertreten und mich vor allem schützend vor die jüdischen Mitschüler zu stellen. Diese haben es mir nicht vergessen, und die wenigen, die am Leben geblieben sind, schreiben mir immer wieder. Die meisten sind allerdings nach 1933 umgekommen. Ich machte aus meinen abweichenden Meinungen keinen Hehl, ging dabei aber nicht aggressiv vor. Es war schwer, sich geistig zu behaupten. Nur dadurch, dass ich viel las und viel Rundfunk hörte, auch Rundfunk aus Österreich, und österreichische und deutsche Zeitungen aus der Tschechoslowakei las, konnte ich mich geistig behaupten. Viel haben mir auch das „Hochland“ und der „Gral“ sowie die Stimmen der Zeit und katholische intellektuelle Zeit­schriften damals gegeben.

1933 kam ich zum Hochschulstudium nach Krakau. Es galt als ungeschriebenes Gesetz; dass die Deutschen in Ostoberschlesien, nachdem unter dem Druck so viele abgewandert waren, insbesondere aus intellektuellen Kreisen, ausharren und ihren Berufsweg dort einschlagen sollten, um die letzten deutschen Positionen zu halten. In Krakau gab es eine starke deutsche Hochschülerschaft. Bald nach meinem Studienbeginn war ein großer Krach in dieser organisierten Gruppe im Gange. Pater Friedrich Muckermann war in Krakau gewesen und hatte zu den Katholiken dieser deutschen Hochschülergruppe eingehend über die Lage im Reich gesprochen.

Er hatte dabei kein Blatt vor den Mund genommen. Der Vorsitzende der deutschen Hoch­schülerschaft, ein guter Katholik, der heute in Krefeld lebt, hatte einem anderen Kollegen unter dem Siegel des Ehrenwortes, einem Kollegen, der auf anderer Linie stand, die hauptsäch­lichen Angaben anvertraut, um ihm die Augen zu öffnen. Dieser aber hinterbrachte die Angaben der Gestapo. Muckermann wurde gewarnt und musste Hals über Kopf eines Nachts über die deutsch-holländische Grenze nach Holland entweichen, wo er später mit Monseigneure Pools den sehr gut informierten „Deutschen Weg“, eine katholische Emigrationszeitschrift, herausgab. Ich habe Muckermann übrigens später auch wiederholt vor 1938 in Wien bei großen Kundgebungen erlebt. Wegen des Bruchs des Ehrenwortes trat der Vorsitzende der deut­ schen Hochschülergruppe in Krakau von seinem Amt zurück und gründete mit mehreren Gesinnungsgenossen, darunter auch mit mir, eine deutsche katholische Gruppe, die es schwer hatte, da sie von nirgendher Subsidien für ihre Tätigkeit bekam. Wir hatten aber einige deutsche Theologen aus dem schlesischen Seminar in Krakau, die uns jede Woche interessante Vorträge hielten. Bei diesen wöchentlichen Zusammenkünften debattierten wir eingehend und feierten auch einen deutschen Gottesdienst für Hochschüler in einer kleinen Krakauer Kirche, was beim damaligen Erzbischof von Krakau nicht leicht zu erreichen war. Wir hatten dabei auch gute Prediger, die allerdings nach meinem Weggang, etwa 1937 oder 1938, von einem gleichgeschalteten und mit der Gestapo im Kriege zusammenarbeitenden Franziskaner abgelöst wurden. Diese letzte Zeit war für die Hochschülerschaft sehr bitter und peinlich.

Besonders wertvoll für uns war es jedoch, dass wir regelmäßig durch Bemühungen des Katholischen Akademikerbundes aus dem Reich und durch Unterstützung aus Österreich das „Hochland“, die „Stimmen der Zeit“, den „Gral“ aus Wien, den „Christlichen Ständestaat“, aus dem Reich die Jugendzeitung „Michael“, die „Junge Front“ und vor allem den „Deut­schen in Polen“, der in Kattowitz herauskam, erhielten. Es waren sehr stark prägende und herrliche Zeiten der Kameradschaft und des gemeinsamen weltanschaulichen Erlebens. Auch der den Nationalsozialismus entschieden ablehnende Senator Dr. Pant kam zu uns. Ich erinnere mich noch sehr gut an stundenlange Diskussionen mit ihm in einem Krakauer Café nach dem Begräbnis von Pater Assmann S.J. Dieser deutsche Jesuit war kurz vor der Macht­übernahme Hitlers nach Deutschland gekommen. Er arbeitete wohl mit Friedrich-Wilhelm Förster in Amerika zusammen, den ich als großen deutschen Pädagogen sehr schätzte, dessen scharf antipreußische und zeitweise pazifistische Einstellung ich jedoch nicht sehr teilen konnte. Allerdings muss man auch sagen, dass dieser bedeutende Pazifist 1937 ein Buch über die deut­sche Frage und Europa geschrieben hatte, in welchem er sehr klar für die Verteidigung gegen den Nationalsozialismus eintrat. Friedrich-Wilhelm Förster, der als Professor in Amerika lehrte, war im Deutschen Reich ausgebürgert worden. Pater Assmann S.J. hielt im Reich außerordentlich mutige Widerstandspredigten. Als amerikanischer Staatsan­ge­­­­höriger gestattete er sich, nicht nur im stillen, sondern offen davon zu predigen, dass die Lüge durch das Land humpelt, dass man beten solle für Führer und Verführte und ähnliches. Er wurde schließlich ausgewiesen und kam nach Ostoberschlesien, wo er in diesem Sinne weiterpredigte.

Kardinal Bertram wandte sich dann an den polnischen, national eingestellten Bischof von Kattowitz, Adamsky, mit der Forderung, Pater Assmann zum Schweigen zu bringen, da seine Predigten in Ostoberschlesien, denen sehr viele deutsche Katholiken beiwohnten, im Reich zu Verfolgungen der Katholiken führten. Assmann musste nach Krakau umziehen, wo er in einem polnischen Lehrlingsheim Hausgeistlicher war. Er bestellte uns jeden Sonntag­nach­mittag zu sich, wo wir fünf oder sechs Stunden von ihm sehr interessante Berichte aus dem Reich und engste Informationen über die Gleichschaltung des Zentrums und vieles andere erhielten. Er war ein durch amerikanische Verhältnisse geprägter, außerordentlich tapferer und energischer Priester, der trotz einer schweren Herzkrankheit und Wassersucht die wenigen deutschen katholischen Studenten in dieser Zeit sehr stark beeinflusst hat. Er erlitt einen Herzschlag nach einer Predigt. Wir hatten noch sechs Tage vorher mit ihm lange zusammengesessen.

Inzwischen war in Ostoberschlesien der Meinungskampf voll entbrannt. Der Verein der deutschen Katholiken im Ausland, an dessen Spitze nominell Bischof Berning von Osnabrück stand, hatte den starken Verein der deutschen Katholiken gleichzuschalten versucht, und es gelang ihm mit einer Mehrheit von ganz wenigen Stimmen, die zum Teil gekauft waren, in einer Generalversammlung den bisherigen unbestrittenen Vorsitzenden der Katholischen Volkspartei und des Verbandes Deutscher Katholiken, den Vizemarschall des Schlesischen Sejms und früheren Senator Dr. Eduard Pant abzuwählen. Daraufhin beschränkte sich Senator Dr. Eduard Pant auf die katholische Volkspartei, die in eine Christliche Volkspartei in Zusammenarbeit mit nicht gleichgeschalteten evangelischen Kräften nicht nur aus Oberschlesien, sondern auch aus dem Posener Bereich umgestaltet wurde, und auf eine Wochenzeitung, die im Widerstand gegen den Nationalsozialismus bald hohes Niveau gewann, auf den „Deutschen in Polen“. Pant war landauf, landab unterwegs, um Gruppen der Christlichen Volkspartei zu festigen und zu gründen. Ich erinnere mich auch noch an seine Besuche in Skotschau, aber er war auch viel in deutschen Kolonien in Galizien, im Posenschen und anderswo unterwegs. Freilich hatte er in Ostoberschlesien nicht die Mehrheit der Deutschen hinter sich. Dennoch behielt er bis zu seinem Tod seinen Sitz im Schlesischen Landesparlament und war dort als ausgezeichneter Redner unumstrittener Sprecher der Deutschen. Ein starker Teil der Deutschen wurde durch den anfangs unpolitischen liberalnationalen Deut­schen Volksbund, an dessen Spitze Dr. Ulitz stand, unterstützt. Inzwischen war eine starke, dem Nationalsozialismus voll hörige Jugendpartei, die Jungdeutsche Partei, entstanden, in deren Reihen auch viele Schulfreunde von mir waren.

Zwischen den Anhängern des Volksbundes und der Liberalen Deutschen Partei und der Jungdeutschen Partei, also zwischen Ulitz und den Jungdeutschen, gab es auch schwere Aus­einandersetzungen, wobei die Deutsche Partei und der Volksbund mehr vom Reichsaußen­ministerium gestützt wurden, dagegen die Jungdeutsche Partei von nationalsozialistischen Reichsorganisationen. Selbstverständlich begannen die Polen immer schärfer gegen die Deutschen Stellung zu nehmen, aber durch die Verträge ab 1934 wurde nach außen hin sogar ab und zu eine Demonstration der Jungdeutschen Partei geduldet und unterstützt. Überhaupt war die Einstellung nationalsozialistischer Polen damals sonderbar. Ein Teil selbst der nationalistischen Nationaldemokraten in Polen lobte anfangs die Jungdeutsche Partei. Erst später begann man, wegen vieler Ausschreitungen, alle Deutschen aufs schärfste zu bekämpfen. Am schlechtesten hatten es die Anhänger der Christlichen Volkspartei, weil sie zwischen allen Stühlen saßen. Mich haben diese Kampfzeiten geistig sehr geprägt.

Die Wochenzeitung „Der Deutsche in Polen“ brachte alle Nachrichten aus dem Deutschen Reich, die dort nicht verbreitet werden durften, alle Hirtenbriefe, natürlich die Enzyklika „Mit brennender Sorge“, aber auch eine Fülle von Gerüchten aus sozialdemokratischer und bürgerlicher Opposition. Das Wochenblatt erschien bis zum Einmarsch der deutschen Truppen im Jahre 1939 und wurde, wie ich erst nach dem Krieg von Schülern in Stuttgart bzw. deren Eltern erfuhr, in einer großen Zahl von Exemplaren auch auf dem Postweg von Post­inspek­toren, die zwischen Straßburg und Stuttgart fuhren, ins Deutsche Reich geschmuggelt; ebenso kamen natürlich an der oberschlesischen Grenze Exemplare ins Deutsche Reich. Mehrmals versuchten die Nationalsozialisten, Senator Dr. Pant, der sich mit anderen nicht gleichgeschalteten Kräften der Sudetendeutschen aus Reichenberg und der Baltendeutschen zu einem Verband deutscher Minderheiten in Wien zusammenschloss, zu entführen, aber Zentrumsfreunde in Westoberschlesien warnten ihn immer wieder. Er hatte ja wohl auch gute Kontakte mit Lukaschek und anderen. An den Folgen des Ersten Weltkrieges – er war mehrfach als Major einer Sturmbrigade schwer verletzt worden – ist er im Jahre 1937 oder 1938, nachdem ein im Rücken verbliebenes Geschoss zu wandern begann, gestorben. Es ist nicht uninteressant, dass sein Beichtvater der spätere Kardinal Kominek war, der sich damals noch recht deutschfreundlich gab und erst nach 1940 völlig umschwenkte. Pant war hochangesehen nicht nur in Wien, sondern auch in polnischen konservativen Kreisen in Krakau und im gesamten noch polnischen Klerus in Ostoberschlesien. Er war ein unbeugsamer Katholik in allen sittlichen und politischen Fragen. Ich habe persönlich wenig mit ihm zusammengearbeitet, da ich ja studierte und vorher in einer deutschen Enklave lebte. Aber ich bin durch sein Wirken politisch außerordentlich stark beeinflusst worden und habe mir immer wieder vorgenommen, politisch für die deutsche Minderheit tätig zu sein, wenn ich das Studium beendet hatte.

Im dritten Schlesischen Sejm wurde die Zahl der Stimmen für den deutschen Block halbiert, weil eine Reihe von Wahlkreislisten für ungültig erklärt wurde. Dennoch blieb Dr. Pant Sprecher des deutschen Blocks. Zahlenmäßig lässt sich natürlich der Umfang der Gruppen nicht umfassen.

Im Frühjahr 1937 war ich nach Ablegung der Magisterprüfung in Krakau für Deutsch und im Nebenfach Geschichte nach Wien gegangen, um dort ein Jahr auf Wunsch meines Professors an der Doktorarbeit zu arbeiten.

Der Wiener Aufenthalt gab mir ungeheuer viel in der geistigen Bildung; ich hörte Nadler, Srbik, Arnold und andere. Vor allem aber im akademischen Verein Logos waren Christen und konvertierte Juden aller Schattierungen von Nationalsozialisten über Heimwehrleute bis zu begeisterten Österreichern, die in vielen Bereichen, von der Naturwissenschaft bis zur Politik, auf philosophischer Grundlage Vorträge hörten und Diskussionen führten. Es würde zu weit führen, wenn ich hier alle Schattierungen in Wien und den Einmarsch der reichsdeut­schen Truppen schildern würde. In dieser Zeit war ich, was selten vorkam, von der Krakauer Universität für ein Humboldt-Stipendium im Reich als Student vorgeschlagen. Ich wurde auf die Deutsche Botschaft in Wien bestellt und eingehend über Referenzen befragt.

Als ich nicht eine einzige Referenz, auch von nationalsozialistischer Seite, nannte und mich in diesem Punkt völlig taub stellte, wurde ich sehr ungnädig entlassen und erhielt das Stipendium nicht, obwohl es vom Empfängerland, dem damaligen Polen, vorgeschlagen war. Im Sommer 1938 kehrte ich in die Heimat zurück, legte die zweite Dienstprüfung ab, und im Frühjahr 1939 bestand ich das Doktorat. In der Zwischenzeit hatte ich mich nach einer Stelle umgesehen.

Wie ich bereits sagte, waren in Ostschlesien die deutschen Schulen schrittweise abgebaut worden. Inzwischen waren aber 1939 neue deutsche Gymnasien in den Gebieten Oderberg, Karwin, Freistadt, die beim Einmarsch in die Sudetengebiete von den Polen besetzt wurden, vorhanden. Dort gab es noch viele deutsche Schüler. Ich erhielt aber keine Stelle, sondern eine Absage von der in Kattowitz liegenden Schulverwaltung. Durch Bekannte wurde mir mitgeteilt, dass ich natürlich wegen guter Zeugnisse sofort eine Stelle bekommen könnte, wenn ich in das Personalblatt als Nationalität polnisch angeben würde. Ich könnte nachher machen, was ich wolle, selbstverständlich auch nationalsozialistisch orientierte Jugendgruppen unterstützen, aber im Formular müsste das so vermerkt sein.

Ich lehnte natürlich ab. Ich erhielt dann auf Intervention meines Universitätsprofessors eine Stelle als Gymnasiallehrer in Galizien, wo es diese Gegensätze gegen die Deutschen nicht gab, nämlich in Mielec, wo ich ein Jahr Deutsch unterrichtete, als Deutscher zuerst sehr bestaunt wurde, aber guten Kontakt mit meinen Professoren und den Schülerinnen und Schülern fand. Für die Lage in Galizien zeugt der Umstand, dass sich im Eingang eine große Marmortafel befand, auf der vermerkt war, dass dieses Gymnasium unter der segensreichen Herrschaft von Kaiser Franz-Joseph von Österreich errichtet worden war. Die Lage wurde aber immer tragischer, und im Sommer 1939 spürte man, dass es bald zum Krieg käme. Inzwischen war der Oberassistent des germanistischen Lehrstuhls zum polnischen Militär eingezogen worden, und mein Universitätsprofessor holte mich als Oberassistent nach Krakau, was aber nicht wirksam wurde, da es inzwischen Ferien gab und dann der Krieg ausbrach. ach Einmarsch der deutschen Truppen war ich in einer nicht leichten Situation, weil in einer Stadt lebend, in der vielleicht am Schluss 15 bis 20 Prozent der Bevölkerung sich zum Deutschtum bekannten, alle diese namentlich bekannt waren und sofort alle möglichen Ränge in der Partei und der politischen Verwaltung einnahmen.

Ich tat dies nicht und kam sehr bald in erhebliche Schwierigkeiten. Ich trat in keine NS-Organisation ein, und die Situation wurde noch schwieriger, als eine große Zahl von Polen über Nacht verhaftet und ins Konzentrationslager gebracht wurde, darunter auch sehr deutschfreundliche Personen und viele Geistliche. Ich ging mit allen möglichen Tricks – man konnte damals nicht ohne weiteres die Demarkationslinien passieren – nach Krakau und wurde dort wieder nach möglicher Eröffnung der Universität als Oberassistent vorgesehen. Ich konnte vorerst in dem von deutschen Offizieren zugunsten meines viele deutsche Bekanntschaften habenden Universitätsprofessors beschlagnahmten Seminar gut arbeiten und bereitete mich eigentlich auf eine Habilitation vor. Außerdem war es im Seminar mit Fernheizung recht warm und angenehm. Bald aber kam ich in Schwierigkeiten mit der Gestapo. Ich traf einen Jugendfreund, der auch Germanistik studiert hatte und der schon eine Position in der NS-Schulverwaltung in Krakau übernommen hatte, und sprach mit ihm offen über meine Beobachtungen. Dabei sparte ich nicht an massiver Kritik. Ich hielt ihn für zuverlässig. Leider erzählte er alles seiner Frau, von der ich angenommen hatte, dass sie Polin sei; dies stimmte aber nicht, sie stammte aus einer deutschen Kolonie in Galizien, hatte auch Germanistik studiert, aber sich nicht als Deutsche zu erkennen gegeben – zumindest war mir das nicht bewusst. Sie aber hatte nichts anderes zu tun, als alles einer Tochter eines österreichischen Offiziers, der in Krakau verblieben war und bei der Gestapo arbeitete, die ich ebenfalls vom Studium her etwas kannte, detailliert zu erzählen. Darauf erschien die Gestapo in den beschlagnahmten Räumen der Krakauer Universität und begann dort achforschungen nach mir anzustellen, weil sie nicht genau wussten, wo ich war. Inzwischen war ein Glücksfall eingetreten. Ein früherer Gymnasialprofessor war aus verschiedenen politischen Hindernisgründen als Überbrückungsmann in die Treuhandverwaltung der Universität Krakau gekommen und wurde eingehend über mich befragt. Er wies anhand der Universitätspapiere, da er mich persönlich kannte, mein Bekenntnis zum Deutschtum während der polnischen Zeit nach und machte dann die Gestapo darauf aufmerksam, dass ich nicht so ganz gleich­geschaltet sei, aber man mich eben gewinnen müsse und nicht durch Zwangsmaßnahmen dies erzwingen könne. Er ließ mich dann kommen und beschäftigte mich für einen niedrigen Lohn bei Aufräumungsarbeiten in der Universität. Deren Dekanate und das Rektorat waren übersät mit Dokumenten, Zeugnissen und Prüfungsakten, die ich zusammen mit einem Pedell ordnete und vieles der Universität Krakau gegen einen Taglöhnerlohn rettete. Brot verdiente ich mir durch Stundengeben bei Polen, die noch beruflich selbständig tätig waren. Dabei wäre ich um ein Haar ein zweites Mal in die Klauen der Gestapo geraten, als einmal mein Treuhänder mich kommen ließ, mich mit einer bei ihm vorsprechenden Assistentin für Kunstgeschichte bekanntmachte, die ich übrigens flüchtig vorher gesehen hatte, und sagte, ich solle ihr Einblick in ihre Doktorarbeit auf dem Speicher gewähren. Das tat ich auch. Sie bat mich flehentlich, ihr das Ergebnis ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu belassen. Ich sagte ihr, ich hätte nichts gesehen, sie solle sich aber unten, wo beim Portier ein SS-Mann war, nicht fassen lassen. Offensichtlich war sie aufgeregt und wurde gefasst. Nun gab es ein furchtbares Donnerwetter beim Treuhänder, ich hätte mich der Sabotage schuldig gemacht, und vieles andere. Er müsse Meldung machen. Wieder hatte ich Glück. Am nächsten Tage war er versetzt, die Meldung blieb liegen. Es kam ein junger Assessor, wenn ich nicht irre, aus Wiesbaden, der wahrscheinlich nicht viel mit der Partei zu tun haben wollte. Er ging dann am Sonntagnachmittag mit mir spazieren und begann mich vorsichtig auszufragen. Er erzählte mir von der vorgefundenen Meldung, und ich konnte ihn davon überzeugen, dass er sie am besten dem Papierkorb überantwortete. Er wollte noch genau wissen, was die Arbeit enthielt, und ich zeigte ihm anhand der Arbeit, dass sie eine Reihe kunstgeschichtlicher Dokumente, Gemälde, Altäre usw. aus der Annakirche eingehend beschrieb (Universitätskirche). Er kümmerte sich später darum, dass ich als Hilfslehrer an ein deutsches Gymnasium kam.

Nachdem man mich in Zakopane, wo ich einige Wochen war, nicht wollte, weil sich die Schule zu einer Napola entwickelte und ich die außerschulischen Aktivitäten nicht mit­machte, kam ich nach Przemysl, wo meist von der Wehrmacht freigestellte Offiziere, die von Beruf Studien­räte waren, und ein aus Hessen stammender Studiendirektor unterrichteten.

Ich habe allerdings die Vorgänge in Krakau übersprungen. Ich war dort wieder als Oberassistent noch vor der Errichtung der Treuhänderschaft der Universität vom polnischen Universitätssenat gewählt worden und sollte im Oktober meinen Dienst antreten. Einige Tage vorher kam mein Ordinarius in das abgelegene Seminar und erzählte mir, dass alle Professoren zu einem Vortrag über den Nationalsozialismus und die Wissenschaft eingeladen seien. Er sollte dolmetschen, ob ich nicht mitkommen wolle. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass ich in einer schwierigen Situation als Deutscher ohne irgendwelche NS-Mitgliedschaft sei und es doch problematisch sei, wenn ich dahin ginge. Er sah das ein.

Am Nachmittag merkte ich, dass inzwischen alle Professoren und einige Intellektuelle, die mitgekommen waren, verhaftet worden waren und zuerst in Kasernen, später in Konzentrationslager gebracht wurden. Einige Professoren wurden vorher entlassen, auch mein Ordinarius, der gute Beziehungen zum früheren Kattowitzer Deutschen Konsulat und zu Breslauer Universitätskreisen hatte.

Viele namhafte Professoren sind aber im Konzentrationslager umgekommen. Ich konnte meinen Lehrer noch in der Kaserne besuchen und ihm Decken und Lebensmittel bringen. Mit meiner wissenschaftlichen Tätigkeit war es aber zu Ende. Ich kam dann auf dem Wege über die Treuhandverwaltung in ein deutsches Gymnasium als Hilfslehrer. Es war für mich eine Erlösung, dass ich zur Wehrmacht 1942 eingezogen wurde, nachdem ich neuen Verdacht in Przemysl dadurch erweckt hatte, dass ich den Wehrmachtsgeistlichen veranlasste, auf der Erteilung des Religionsunterrichts in den deutschen Gymnasialklassen zu bestehen und am Sonntag mit den Kindern in die Kirche zu gehen, was den schweren Unwillen eines antiklerikalen nicht fertigen Studienrats aus Südtirol erweckte, der mich von da an scharf verfolgte. Ich wusste nicht, dass er damals schon Briefe, die ich aus dem Ghetto in Krakau von Juden, die ich aus Skotschau kannte und denen ich half, und von Polen erhielt, öffnete und kontrollierte sowie Ablichtungen herstellte. Ich habe erst nach dem Krieg erfahren, was sich daraus ergab. Als ich schwer verwundet war, wollte mich die deutsche Schulverwaltung in Krakau wieder ins Gymnasium zurückholen. Da mein Kollege fürchtete, dass ich Leiter in Przemysl würde, übergab er alle Briefe, die ich erhalten oder an verfolgte Personen gerichtet hatte, dem SD. Dieser war sicherlich gefährlicher als die Gestapo. Er begann scharfe Untersuchungen Ende 1944. Meine Kollegen wurden scharf verhört, und es wurden furchtbare Verwünschungen gegen mich ausgestoßen, aber da wurde der gesamte SD ins Sudetenland verlegt, die Untersuchungsakten verschwanden in Kisten. Erst nach dem Krieg benach­richtigte mich eine Kollegin davon, was sich da zusammengebraut hatte. Ich hatte wohl immer in diesen Dingen einen guten Schutzengel, und ich bin für die vorsichtige Opposition nicht schärfer bestraft worden.

Es gab aber auch eine Reihe von Deutschen in Ostschlesien, die wegen Unterstützung von Juden und Polen ins Konzentrationslager kamen und dort starben. Sehr groß war die Zahl der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung unter den polnischen Intellektuellen. Sehr stark war natürlich auch die polnische Untergrundarbeit.

Beim Militär gab es auch Gruppen, die sich schnell erkennen lernten, die kritisch zum Regime standen. Insbesondere fand ich immer wieder Unterstützung in dem nicht einfachen Dienst – ich war ja nicht mehr der Jüngste – bei braven Soldaten, denen man anmerkte, dass sie aus der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung kamen. Wegen des vielen Briefwechsels auch mit polnischen Verfolgten, der möglicherweise kontrolliert wurde, wurde ich auch mit Vorsicht bei den militärischen Vorgesetzten behandelt und blieb, allerdings nach sehr baldiger schwerer Verwundung, Reserveoffiziersbewerber im Gefreitenrang, da ich vor der Beförderung nach Verlust eines Auges ins Lazarett und lange in einen Ersatztruppenteil kam. Damit will ich meine Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus abschließen.

In einem letzten Punkt möchte ich noch kurz auf folgendes hinweisen: Unsere Jugend weiß viel zu wenig von dem im Reich auch von bürgerlichen und weltanschaulichen Gruppen geleisteten heroischen Widerstand. Viele Gruppen der katholischen Jugend wurden durch Straßen geprügelt, die Hemden wurden ihnen vom Leib gerissen, die Koppel ihnen wegge­nommen, sie wurden verprügelt. Es gab einzelne, die in Konzentrationslager kamen. Ich spreche gar nicht von den vielen Mitarbeitern der christlichen Gewerkschaften und anderen politischen Kräften sowie Geistlichen, denen Ähnliches widerfuhr, auch deutschen Geistlichen, die polnische Beichte hörten oder ein paar polnische Worte zu ihren sie besuchenden polnischen Zwangsarbeitern sagten. Wenig bekannt ist auch, dass – so meine ich wenigstens – die wichtigsten deutschlandpolitischen Bestimmungen des Grundgesetzes eigentlich auf die Meinung der Widerstandskreise zurückgehen. Ich nenne die Präambel des Grundgesetzes, den Artikel 23, den Artikel 146, aber auch die starke Verankerung der Grundrechte. Wer die Schriften von Goerdeler oder Beck liest, der weiß, dass alle diese Kreise ebenso wie Delp von einem starken deutschen Nationalbewusstsein, von einer Liebe zu Deutschland getragen waren. Sie wollten ein sittlich gereinigtes deutsches Nationalbewusstsein und eine angemessene Rolle der Deutschen in Europa.

Freilich erlebten die meisten von ihnen nicht das Jahr 1945/46 bzw. 1948 und 1949. Aber es gab genügend Kräfte, die von ihnen geistig mitbestimmt waren, oder solche, die noch glücklich der Not, den Gefängnissen und der Verfolgung entkommen waren. Diese übten in ihren Wirkungen im Parlamentarischen Rat und im ersten Deutschen Bundestag noch einen gewissen Einfluss aus. Die Jugend hat das alles vergessen. Ich halte es aber für sehr wichtig, darauf zu verweisen, weil sich heute wieder einiges in dieser Richtung regt. Diese Widerstands­kräfte wollten das, was ich immer ein freiheitlich demokratisches, maßvolles, aber entschiedenes und tapferes deutsches Volks-, National- und Staats- sowie Geschichtsbewusstsein nenne – man sollte sich nur durchlesen, was sie direkt über die Heimat und die Geschichte schrieben –, sie wollten aber ein solches Bewusstsein, das nach Europa und nach den christlichen und westlichen Werten geöffnet ist. Sie nahmen Kontakt auf mit Föderalisten unterdrückter Völker und dachten an eine föderale Ordnung in ganz Europa. Am Genfer See gab es Zusammenkünfte westlicher und östlicher Widerstandskräfte, geflüchteter Deutscher aus Konzentrationslagern, von Sozialdemokraten, Christen und Liberalen im Hause der namhaften evangelischen Führungspersönlichkeit Vissert Hooft.

Ich sage Ihnen das, weil man hier anknüpfen sollte, da wir heute wieder diesbezüglich vor ganz schwierigen Aufgaben stehen. Im Osten wird nationalistischer Überschwang mit Ziel auf den realen Sozialismus betrieben, bei uns ein neutralistisches Nationalgefühl von links und rechts, das sich auf die neutrale deutsche Rolle zurückziehen will. Ich meine, dass sich unsere demokratische, freiheitlich und christlich orientierte Jugend frühzeitig auf den oben beschrie­benen Mittelweg eines deutschen Nationalgefühls besinnen muss. Gerade deshalb begrüße ich es, dass sie sich mit dem Widerstand beschäftigt. Sehen Sie zu, dass Ihnen die Dinge nicht wieder davonlaufen, wie in den bürgerlichen und demokratischen Kreisen nach 1929.

Ich wünsche Ihnen, dass es Ihnen gelingt, den deutschen und europäischen Mittelweg zu gehen, der berechtigte deutsche Interessen mit Entschiedenheit vertritt, aber auch eines schönen Tages mit den östlichen und westlichen Nachbarn und Völkern eine föderale gesamtdeutsche und europäische Ordnung der Staaten, Völker und Volksgruppen erreicht. Ich habe mir das im geistigen Widerstand angeeignet und möchte es Ihnen weitergeben.

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Im Juli 1984 führte anlässlich des 40. Jahrestages des Aufstands vom 20. Juli 1944 die “Schlesische Jugend” ein  Seminar über den Widerstand durch. Herbert Czaja leistete hierzu einen sehr persönlichen Beitrag, in dem er allgemeine politische Reflektionen mit autobiographischen Elementen verband. Der Aufsatz stellt eine wichtige Quelle zum menschlichen und persönlichen Erfahrungshintergrund des heutigen BdV-Präsidenten dar. Aus: Koschyk, Hartmut (Hrsg.): Herbert Czaja – Unsere sittliche Pflicht. Leben für Deutschland, München 1989, S. 10-34. Erstveröffentlichung in Leuschner, Markus/ Heiniges, Dirk (Hrsg.): Der Wider­stand gegen den Nationalsozialismus in Schlesien, Bonn 1988, S. 47-61.