Dr. Robert Zollitsch – emeritierter Erzbischof von Freiburg und ehemaliger Vorsitzender der deutschen Bischofskonferenz mit donauschwäbischen Wurzeln

Eine Skizze seines Werdens und Wirkens

zu seinem 80. Geburtstag

Von Stefan P. Teppert, MA

 

Dass im Juni 2003 ausgerechnet Domkapitular Dr. Robert Zollitsch, der den meisten Katholiken unbekannte Personalreferent der Diözese im deutschen Südwesten, zum Erzbischof von Freiburg gekürt wurde, war eine veritable Überraschung, die zunächst auch für Unverständnis und Verstimmung sorgte. Als unangefochtener Favorit hatte nämlich der überaus beliebte und mit der Kirchenlehre unbedingt konform gehende Weihbischof Paul Wehrle gegolten. Ihn hatte das Freiburger Domkapitel als kanonisch geeigneten Anwärter auf das Pallium im Vatikan zur Neubesetzung der vakanten Stelle des früheren Kirchenoberhauptes Oskar Saier (1978–2002) vorgeschlagen, ferner Weihbischof Bernd Uhl und Domkapitular Wolfgang Sauer. Zweifellos wäre Wehrle das hohe Amt zuteil geworden, hätte nicht Papst Johannes Paul II. mit der römischen Bischofskongregation ihn von der Liste gestrichen und andere Kandidaten vorgeschrieben, darunter auch Zollitsch. Der Apostolische Stuhl hat sich bewusst nicht hindern lassen, ihn trotz fehlender Bischofsweihe, eine sonst gebotene Voraussetzung, zu nominieren. Als dann die Entscheidung des 13-köpfigen Freiburger Domkapitels in freier, geheimer Abstimmung auf Zollitsch fiel, ernannte der Papst den damals 64-jährigen am 16. Juni 2003 zum 14. Erzbischof von Freiburg. Zugleich stand er als Metropolit an der Spitze der Oberrheinischen Kirchenprovinz, zu der neben dem Erzbistum Freiburg auch die Bistümer Mainz und Rottenburg-Stuttgart gehören, ein Gebiet, das vom Bodensee über den Oberrhein, die Kurpfalz und Hohenzollern bis ins badische Frankenland reicht.

Zur Bischofsweihe am 20. Juli 2003, einem sengend heißen Tag, konnte das Freiburger Münster die Masse der Gläubigen nicht annähernd fassen. Große Sympathien haben dem soeben Geweihten seine zur Gemeinschaft im Glauben einladenden Worte und sein ansteckendes Lächeln eingetragen, es spiegelte sich in den freudigen Gesichtern der versammelten Gemeinde und machte seine Akzeptanz augenscheinlich. Als der neue Oberhirte des Erzbistums nach der Eucharistiefeier bei einem „Fest der Begegnung“ auf dem Münsterplatz ein Bad in der Menge nahm, war von der anfänglichen Skepsis nichts mehr zu spüren. Zollitsch führte sich damit als „Bischof zum Anfassen“ ein, der er ausdrücklich sein wollte.

Seit dem 18. Februar 2008 war der Erzbischof auch Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz und damit für die folgenden sechs Jahre oberster Repräsentant der mehr als 25 Millionen deutschen Katholiken. Der 69-jährige setzte sich bei der Frühjahrsvollversammlung der deutschen Bischöfe und Kardinäle im Exerzitienhaus des Würzburger Klosters Himmelspforten gegen den Favoriten durch, den neuen Erzbischof von München und Freising Reinhard Marx. Viele der 69 ranghohen katholischen Geistlichen hätten sich den ebenso dynamischen wie selbstbewussten Westfalen und profilierten Sozialethiker als Nachfolger Karl Lehmanns gut vorstellen können. Favorit für einen verzögerten Amtsantritt 2014 blieb Marx dennoch, zumal abzusehen war, dass er zum Kardinal aufsteigen würde. Wiederum überraschend für die Öffentlichkeit erhielt der weniger mediengängige Ältere bereits in den ersten beiden Wahlgängen die einfache, im dritten Wahlgang die absolute Mehrheit der Stimmen. Der Freiburger Erzbischof löste als optimale Zwischenlösung und Bürge für Kontinuität Kardinal Lehmann ab, der das Amt nach fast 21 Jahren wegen einer lebensbedrohlichen Herzkrankheit niedergelegt hatte. Wie Lehmann galt Zollitsch als ein Mann der Mitte und des Ausgleichs. Die beiden standen sich nicht nur menschlich nahe, sondern auch theologisch auf einer vom römischen Dogma zuweilen abweichenden Linie. Der erste Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der zuvor nicht Kardinal geworden war, wollte sich nicht in Klischees wie „liberal“ oder „konservativ“ pressen lassen. Als er 75 Jahre alt war, bot er dem Papst seinen Rücktritt an, wie es geltendes Kirchenrecht vorsieht.

Seine Wahl stieß damals bei den Konferenzteilnehmern, aber auch bei vielen Politikern und Vertretern der evangelischen Kirchen, ja sogar bei der kirchenkritischen „Initiative Kirche von unten“ auf breite Zustimmung. Die meisten seiner Mitbrüder trauten dem weißhaarigen Kleriker zwar keine großen Auf- und Umbrüche zu, wohl aber die Fähigkeit, geduldig Brücken zu bauen, die Vertreter unterschiedlicher Positionen miteinander ins Gespräch zu bringen und innerkirchliche Gräben zwischen Laien- und Amtskirche zuzuschütten. Vielleicht jedoch hatten sie mit Zollitsch nicht nur eine leichtgewichtige Übergangslösung, sondern eine wenn auch zeitlich begrenzte Richtungsentscheidung im Sinn. Verschiedene Etikettierungen haben sich später jedenfalls als fragwürdig erwiesen, der Berufene hat Akzente gesetzt und eigene Statur gewonnen, seinen theologischen und politischen Stil gefunden, genau das also, wovon dieses Amt an der Spitze der größten Institution Deutschlands eigentlich lebt.

Zollitsch ist mit seinem neuen Amt neben der Belastung als Bischof eine zeit- und reiseintensive Repräsentationsaufgabe zugefallen. Im Frühjahr und Herbst hatte er die Vollversammlung der Bischofskonferenz, dazwischen ihren Ständigen Rat zu leiten sowie deren Kurs nach außen zu vertreten, in die Mediengesellschaft hinein. Nicht selten musste er ohne Deckung durch konkrete Beschlüsse oder Vorgaben seiner Gremien zwischen ihren Meinungspolen ausgewogen formulieren. War er zuvor viel in der Erzdiözese unterwegs, um Kirchweihen, Firmfeiern oder Gemeindejubiläen zu besuchen, so hatte er nun ganz Deutschland zu bereisen, um Bischöfe in ihr Amt einzuführen oder zu verabschieden, um Koordinations- und Vermittlungsaufgaben wahrzunehmen. Es oblag ihm, die Beziehungen der Bistümer untereinander zu pflegen, aber auch diejenigen nach außen zum Rat der europäischen Bischofskonferenzen, nach Brüssel und zum Vatikan, zu den Nachbarkirchen und zur Weltkirche, weit über die Partnerschaft der Erzdiözese Freiburg mit den Katholiken Perus hinaus. In Konferenz und Rat wurden pastorale, strukturelle und gesellschaftspolitische Probleme gewälzt. Seinen Mitbrüdern konnte Zollitsch aber keine Vorschriften machen. Die Position des Vorsitzenden ist lediglich die eines moderierenden Primus inter pares, kaum mit kirchenrechtlich greifbaren Kompetenzen ausgestattet. Nichtsdestoweniger wurde der Vorsitzende als das Gesicht der katholischen Kirche in Deutschland wahrgenommen und konnte sich zu einer einflussreichen, zeitgeschichtlich prägenden Persönlichkeit entwickeln. Nach der Wahl erklärte Zollitsch, der sich nicht nach dem Amt gedrängt, sondern sich zuvor vehement für die Wiederwahl Lehmanns eingesetzt hatte, er habe sich in die Pflicht nehmen lassen: „Ich musste etwas nach Luft ringen, als das Ergebnis vorlag. Ich ahne erst jetzt, was für Aufgaben auf mich zukommen.“

Viele Menschen erleben den Mann auf den ersten Blick als unaufdringlich, höflich-distanziert, bedächtig, ja fast zurückhaltend. Angeblich – so die Presse – sei er wenig telegen und mediengewandt, bei seinen Predigten etwas zu salbungsvoll und im Auftreten von begrenztem Charisma. Für einen Mann, der das Wort und nicht seine Talente zu verkünden hat, wäre dies indes ein verkraftbarer Mangel. Bald leuchtet aber ein: Seine Zurückhaltung hat mit dem Umstand zu tun, dass er interessiert schweigt. Er pflegt tatsächlich die unspektakuläre Kunst des Zuhörens und tut das nicht etwa schüchtern, sondern bescheiden. Auf gleicher Augenhöhe, frei heraus kann man mit ihm reden. Er sei sehr korrekt, zuvorkommend, humorvoll, fein, ein guter Priester, ein „sehr angenehmer Mensch“, wird von ihm gesagt, einer, „der sichtlich in sich ruht und eine ungeheure Harmonie ausstrahlt“. Die Selbstironie, zu der er fähig ist, signalisiert, dass er sich auf seine Respekt gebietenden Ämter nichts einbildet, war es doch auch nicht das eitle Streben nach Karriere, das ihn nach oben beförderte. Der direkte Kontakt zu den Menschen ist Zollitsch ein Herzensanliegen. Er geht auf sie zu und hat für jeden ein verständnisvolles Wort übrig. Ihre Ansichten und Sorgen lässt er zur Geltung kommen, spricht mit ihnen geduldig – keine Spur von klerikaler Attitüde, akademischer Anmaßung oder markiger Inszenierung – und weckt gerade dadurch ihren Willen zu verantwortungsbewusster Mitarbeit, zu Loyalität und Glaubensbereitschaft. Viel hat er mit seinem dialogischen, vermittelnden, kollegialen, unprätentiösen Führungsstil bewirkt und erreicht.

 

 „Es gibt eine Pflicht zum Gedenken“. Erzbischof Robert Zollitsch erinnerte sich mit seinen Landsleuten aus Filipowa der Toten der Heimat. Haus der Donauschwaben in Sindelfingen, 2004, Foto: Stefan P. Teppert

 

Ein „Manager des Herrn“

Auch schon vor seinem Aufstieg zum Erzbischof besetzte Zollitsch eine Schlüsselstellung im diözesanen Geschehen. Angesichts seiner einflussreichen, aber dem gesellschaftlichen Rampenlicht entzogenen Tätigkeit als Personalreferent der Erzdiözese Freiburg (1983 bis 2003) wurde er die „graue Eminenz“ oder auch der „Manager des Herrn“ genannt. In der Öffentlichkeit war er zwar kein Unbekannter, er begegnete vielen Menschen draußen etwa bei Festpredigten oder Wallfahrten. Aber er trat zu dieser Zeit weder als Prediger noch als Seelsorger besonders hervor, vielmehr bewährte er sich als kompetenter Verwaltungsmann, überzeugte durch Qualitäten, die im Anforderungsprofil des Seelsorgers nicht im Vordergrund stehen, aber in der heutigen Kirche vor ihrer Überlebensfrage hoch im Kurs stehen. Mit Organisationstalent, diplomatischem Geschick und sicherer Menschenkenntnis hat er sich als entschlossener Modernisierer maroder kirchlicher Strukturen erwiesen. Er war verantwortlich für die Pastoral- und Personalplanung, bestimmte über Bildung, Aufgaben und Einsatz aller in der Diözese tätigen hauptamtlichen Mitarbeiter, also der Pfarrer und Vikare, der Ständigen Diakone, der Pastoral- und Gemeindereferent(inn)en, ferner der Pfarrhaushälterinnen. Jede Personalie ging über seinen Schreibtisch, keine Versetzung erfolgte ohne seine Zustimmung. Mit feinem Bleistift pflegte er die betreffenden Akte zu signieren. Er habe eine klare Linie, bestätigen Mitarbeiter, man wisse bei ihm stets, woran man ist, auf sein Wort sei Verlass. So gab es fast keinen Mitarbeiter des Bistums, den er nicht persönlich kannte und in seinem hervorragenden Gedächtnis bewahrt hat. Wie keinem anderen ist ihm aus dieser Tätigkeit ein exzellenter Überblick über seine Pfarrgemeinden und eine große Vertrautheit mit dem kirchlichen Apparat und seinen Verwaltungsabläufen zugewachsen.

Robert Zollitschs Reformarbeit spielte sich vor dem Hintergrund eines gewaltigen Erosionsprozesses ab. Im Zeichen einer von technologischer Selbstüberschätzung geleiteten Globalisierung wächst vor allem in der westlichen Welt die spirituelle Orientierungslosigkeit. Während menschliche Grundwerte und private Verantwortlichkeit degenerieren, sieht sich selbst die Grundlage des Sozialen der Demoralisierung preisgegeben. Die katholische Kirche in Deutschland ist von den Auflösungserscheinungen nicht ausgenommen. Bei einer Organisation, die mit versiegendem Priesternachwuchs, steigendem Durchschnittsalter des Klerus, sinkenden Mitgliederzahlen und daher schwindenden Ressourcen, rückläufigen Gottesdienstbesuchern, Taufen und kirchlichen Trauungen zu kämpfen hat, ist strukturell eine historisch beispiellose Transformation zu leisten. Zollitsch hat als Personalchef der Erzdiözese diese Herausforderung frühzeitig erkannt und angenommen. Mitte der 1990-er Jahre veröffentlichte er den wegweisenden Text „Seelsorge auf dem Weg ins Jahr 2000“, der damals auf Kritik stieß, heute aber Allgemeingut ist. Seine Anstrengungen wirkten in der mit 2,12 Millionen Katholiken, über 1.000 Priestern, 2.600 Ordensleuten sowie fast 500 Pastoral- bzw. Gemeindereferenten zweitgrößten Diözese im wiedervereinigten Deutschland vornehmlich nach innen, sie seien ein „Dienst im Stillen“ gewesen, wie er selber sagt. Seinen Job als Rück- und Umbauer erledigte er effizient und geräuschlos, auch gegen Widerstände: Mittel mussten eingespart, Pfarreien fusioniert, Kirchen geschlossen, Prioritäten gesetzt und Vernetzungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden. Es wurden keine Unternehmensberater hinzugezogen, wie andere deutsche Diözesen dies für angemessen hielten, man verließ sich ganz auf die gemeinsame Analyse und Kreativität in stetem Rückbezug auf die „Hauptressource“, die „zugesagte Nähe des Herrn in der Kraft des Geistes“.

Einsame Entscheidungen über die Köpfe seiner Schutzbefohlenen hinweg sind Zollitschs Sache nicht. Er setzte entschieden auf den Weg des Miteinanders. Diskussionskultur an der Basis, in Räten und Gremien hält er für unumgänglich, seine Freiburger Erfahrungen in der Zeit der Studentenrevolte mögen für diesen Standpunkt Pate gestanden haben. Mit großer Beharrlichkeit hat er über einen Zeitraum von 15 Jahren, immer im Gespräch mit den Betroffenen, das Konzept einer kooperativen Pastoral in so genannten Seelsorgeeinheiten entwickelt und umgesetzt. Dabei wurden 1.083 Pfarrgemeinden zu 350 Seelsorgeeinheiten gebündelt mit dem Ergebnis, dass wenigstens diese noch mit Priestern besetzt werden können. Im Schnitt wurden also drei Gemeinden unter der Leitung eines Priesters zu einer Seelsorgeeinheit zusammengefasst. Bewusst wurden diese Einheiten unterschiedlich groß gestaltet, um lebensnah aus dem Studium abweichender Entwicklungen geeignete Korrekturen zu gewinnen. Ein dauerhaftes Konzept sind jedoch auch die Seelsorgeeinheiten nicht, ihr Schöpfer taxiert ihre Lebensdauer auf höchstens zwei Dekaden. Dann müssen wohl neue Anpassungen erfolgen, weiterhin weg von einer flächendeckenden Seelsorge, hin zu synergetischen „Biotopen des Glaubens“, die den modernen Sozial- und Lebensräumen der Menschen besser entsprechen als herkömmliche Pfarreien.

Verzögerungsfrei konzipierte der pragmatische Verwaltungsmann gleich nach seiner Amtseinführung als Bischof „pastorale Leitlinien“, berief daraufhin Runde Tische ein, ließ die Vorlage breit diskutieren und setzte sie erst hernach, am 1. November 2005, als verbindlichen Handlungsrahmen für Pfarrer und Laien in Kraft. Entscheidend ist die Erkenntnis, dass Seelsorge nicht mehr allein von den Priestern geleistet werden kann, sondern sich, wie in der frühen Kirche, aus dem gemeinsamen Einsatz verschiedener Dienste und Ämter, inklusive der Ehrenamtlichen, zusammensetzt, die sich nicht mehr auf Kosten des jeweils anderen profilieren, sondern sich mit einer Kultur gegenseitiger Wertschätzung durchdringen sollen. Laien sind dabei durch Taufe und Firmung in selbstverständlicher Weise zum Glaubenszeugnis, zum Dienst am Nächsten, zur Feier des Gottesdienstes und zur Mitwirkung am Leitungsdienst befähigt. Die Satzungen der diözesanen Gremien mussten den veränderten Anforderungen angepasst werden, ebenso die Berufsprofile der kirchlichen Laien. Für die Seelsorge ist jetzt jeweils ein ganzes Team zuständig, in dem sich verschiedene Begabungen wie auch die spezifischen Stärken von Frauen und Männern ergänzen können.

Die vor kurzem verabschiedete Dekanatsreform bringt Synergien und eine weitere Konzentration der Kräfte. Statt wie bislang 39 gibt es jetzt nur noch 26 Dekanate im Bistum, allerdings sind sie territorial weitgehend den Landkreisen angepasst und mit den breiteren Kompetenzen von Körperschaften des öffentlichen Rechts ausgestattet worden. 90 Millionen Euro sollten dadurch bis 2012 eingespart werden, das ist ein Viertel der Personalkosten. Dass manche Unzufriedenheit bei den ihrer Dekanate beraubten Städten, den neu zugeteilten Pfarrgemeinden und den zusätzlich belasteten Dekanen auftraten, kann bei solchen Einschnitten nicht verwundern, doch hat das anfängliche Murren bald einem erhöhten Engagement Platz gemacht. Auf mehr eigene Verantwortung und nicht delegierte Initiative wird es künftig – wie in der überforderten Solidargemeinschaft des Staates – auch in der Kirche ankommen. Im Sommer 2007 hat Zollitsch deshalb nach evangelischem Vorbild und mit Blick auf die Menetekel einer sich tief greifend wandelnden Altersstruktur eine Stabsstelle installiert, die Finanzquellen in seinem Erzbistum erschließen sollte. Deren erhoffter Fundus war Anliegen der Seelsorge in den Gemeinden und allfälligen Kirchenrenovierungen vorbehalten.

 

Schlichtende Regieführung

Den Ruf schlichtender Regieführung hat sich Zollitsch auch im Finanzausgleich der Diözesen erworben. Seit 2004 steht er dem mächtigen Verband der Diözesen Deutschlands (VDD) vor, der übergreifend die finanziellen und rechtlichen Interessen der Kirchenprovinzen regelt und ihre gemeinsamen Aufgaben von der Entwicklungshilfe und Mission bis zur Medienarbeit trägt. Der Etat des Verbandes belief sich für 2008 auf 140 Millionen Euro. Zuzeiten galt es, konkursreife Notfälle zu sanieren. Diözesen wie Aachen oder Essen waren in den Jahren zuvor an den Rand der Zahlungsunfähigkeit geraten. Die notorisch armen Diözesen in den neuen Bundesländern mussten alimentiert werden. Etwa die Hälfte des Etats geht in die Dritte Welt, auch der Vatikan bekommt einen Anteil. Von Deutschland wurde der größte Teil der Priesterausbildung in Afrika finanziert. Es bedurfte schon der integrationskräftigen Umsicht eines Zollitsch, dass 27 souveräne Kirchenfürsten mit krass divergierenden Interessen jeweils einen tragfähigen Konsens über die Verteilung der Mittel errangen. Da verfing oft nur das Einzelgespräch, um den Einstimmigkeit erfordernden Haushaltsplan durchzubringen.

„Jede Art der Veränderung sorgt für Unmut“, sagte Zollitsch, doch er wusste auch, dass die Anpassung an veränderte Umstände ein neues Nachdenken über die Frage notwendig macht, was Kirche überhaupt sein soll. Der Geistliche mit der späten Blitzkarriere wollte nicht bei Klagen über Missstände stehen bleiben, sondern sich den Problemen der jeweils gegenwärtigen Situation stellen und optimistisch die Chancen ergreifen, um gemeinsam einen verantwortlichen Weg in die Zukunft zu finden. Er hat sich deshalb ein chinesisches Sprichwort zum Motto gemacht: „Wenn der Wind des Wandels weht, bauen die einen Mauern, die anderen Windmühlen.“ Wer sich bewahren will, muss sich aktiv ändern und den Wandel nicht nur erleiden. Jeder Umbruch muss einen Aufbruch bergen, eine Reform muss mit einer geistlichen Vertiefung einhergehen, umschreibt der sorgliche Seelenhüter denselben Sachverhalt mit anderen Worten. Aufbruch und Fortschritt seien eine durch und durch biblische und christliche Angelegenheit. Der hergebrachte und für das Christentum so charakteristische Wegcharakter impliziert für Zollitsch des Näheren die immer gegebene Möglichkeit zur Fortentwicklung, einschließlich der dazugehörigen Elemente wie Selbstkritik, Fehleranalyse, Mut zur Innovation, die Bewährung im Alltag, dies alles natürlich unausgesetzt unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit. So wenig Christen also der Versuchung erliegen dürfen, sich von den Herausforderungen der Welt abzuschotten, so sehr hat die Arbeit an den kirchlichen Strukturen einen Dienst an Gott und Menschen zu erfüllen.

Zollitsch glaubt in diesem Sinn, dass Gott die Berufungen schenke, es komme aber auch darauf an, sie zu entdecken, auch wenn das nicht ohne Navigationshilfe erfolgt. Eine Ministrantenwallfahrt nach Rom im Jahr 2006 mit 9.000 Teilnehmern aus der Diözese – mehr als aus jeder anderen in der gesamten katholischen Welt – war solch eine Gelegenheit. Auch andere Bemühungen, junge Leute den Dienst am Evangelium als Chance erkennen zu lassen, haben Früchte getragen. Als der erzbischöfliche Menschenfischer damals ein „Jahr der Berufung“ mit einer Vielzahl von Begleitveranstaltungen ausrief, stiegen die Neuaufnahmen des Priesterseminars im folgenden Jahr über alle Erwartungen.

 

Christ ist man niemals allein

In einem Alter, in dem andere längst ihr Rentendasein genießen, stand der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz vor gewaltigen Herausforderungen, und seine Ziele waren ehrgeizig. Vor allem strebte er an, dass die Kirche gesellschaftspolitisch präsent, ihre Stimme hörbar bleibt. Dazu müsse sie sich mehr auf ihre Zukunft und ihre Verheißung besinnen. Einen neuen Gemeinschaftsgeist wollte er ihr einhauchen, wie dies schon aus der Ansprache bei seiner Bischofsweihe beeindruckend und vielleicht auch ein wenig zündend hervorging. In vielen seiner Predigten und Ansprachen umkreiste der Erzbischof die versammelnde Qualität der christlichen Botschaft. Christ sei man niemals allein, sondern stets mit anderen und für andere. Ein zentrales Anliegen, das ihn spätestens seit seiner Dissertation über die Rolle des Presbyters im frühen Christentum umtreibt, ist daher die Stärkung des christlichen Gemeinschaftsgeistes, der im Zeitalter der „Selbstverwirklichung“ zunehmend einer individualistischen Atomisierung zum Opfer fällt. Dass Deutschland zu einer weitgehend atheistischen Wohlstandsgesellschaft und damit zum neuheidnischen Missionsland verkommen ist, gab der ranghohe Geistliche mit Bedauern zu. Nur noch zwei Drittel der deutschen Bevölkerung sind getauft. Jedoch erkannte er zugleich die verbreitete Sehnsucht der Menschen nach Spiritualität. Es gelte deshalb, die Gemeinschaft stiftende Kraft der Kirche zu aktivieren und dem Zerfall entgegenzusetzen, der die ganze Gesellschaft bedroht. Für Zollitsch ist die Frage des Glaubens an Gott entscheidend für die Zukunft der Menschheit. Mit Bedacht hat er sein Bischofsamt unter den Wahlspruch „In fidei communione“ gestellt, „In der Gemeinschaft des Glaubens“. Noch in der Nacht, als er zum Bischof gewählt wurde, fiel er ihm spontan ein:

Auch in seinem Wappen erscheint die Maxime unten auf dem Pallium, das neben grünem Bischofshut mit 20 grünen Quasten sowie einem Doppelkreuz den Rahmen um das vierfach geteilte innere Feld abgibt. Dieses zeigt in den Abteilungen 1 und 4 das Wappen des ehemaligen Bistums Konstanz, das von der Erzdiözese Freiburg übernommen wurde. Die Abteilungen 2 und 3 sind nochmals unterteilt, sie zeigen fünfblättrige Rosen, eine rote auf weißem Grund und eine weiße auf rotem Grund, entnommen aus dem Wappen der Familie Zollitsch. Die Rose, die „Königin der Blumen“, ist auch ein Symbol für Maria, die Mutter Gottes.

Zollitsch möchte evangelisierend wirken, aber ohne Beigeschmack von Zwang, kennt er doch die mitunter diskreditierende Last der Missionsgeschichte im Namen des Christentums. Speisen soll sich die Evangelisierung allein aus der freien Mitteilung eigener Stärkung durch den Glauben. Sie soll Zeugnis ablegen. Weiterzugeben, wie zuverlässig Gott ihn getragen hat, bedeutet für ihn der Beruf des Priesters, ganz im Sinne seines Lieblingswortes aus dem Johannes-Evangelium (8,29): „Der mich gesandt hat, ist bei mir. Er lässt mich nicht allein.“

Auch religiös wenig Sozialisierte, gesellschaftlich an den Rand Gedrängte und Abtrünnige von der Kirche sollten nicht außen vor bleiben. Wieder verheirateten Geschiedene hieß er in der Kirche willkommen, selbst wenn es ihm verwehrt war, ihnen die Kommunion zu spenden; statt dessen offerierte er Scheidungsopfern und in Trennung lebenden Menschen speziell auf ihre seelische Notlage zugeschnittene Seminare. Für Zollitsch war klar, dass die Kirche sich unausweichlich mit dieser Frage auseinandersetzen muss, wenn hierzulande 35 bis 40 Prozent der Ehen zerbrechen. Daher ging auch bereits im Oktober 2013 aus dem Freiburger Ordinariat ein Entwurf an den Vatikan, wonach Geschiedene in bestimmten Fällen wieder zur Kommunion zugelassen werden sollten. Die Anliegen von Kindern und Jugendlichen, die häufig der Kirche besonders fremd gegenüberstehen, weil sie nicht mehr in einem religiösen Kontext aufwachsen, suchte er zu verstehen und sie dort abzuholen, wo sie waren. Wie wörtlich er das nahm, zeigte sich schon bei seiner ersten Firmpredigt als Erzbischof, in der er das Sakrament der Firmung durch Vergleiche aus der Computerwelt veranschaulichte. Seine lockere Herzlichkeit fand Anklang bei den jungen Leuten, er hatte einen guten Draht zu ihnen und damit zur Zukunft des Glaubens. Der Kontakt zur Jugend scheint umgekehrt auf ihn einen verjüngenden Einfluss ausgeübt zu haben. Nicht zuletzt dem kirchlichen Personal selbst, einschließlich der Bischöfe, hat der Oberhirt mehr Kollegialität anempfohlen. Um das Wir-Gefühl im Erzbistum aufzuwerten, erfand er kurzerhand einen jährlichen diözesanen Begegnungstag und legte ihn bezeichnenderweise auf das Fest Mariä Heimsuchung. Schon zu dessen Premiere im Juli 2005 strömten über 5.000 Katholiken nach Freiburg.

 

Innerkirchliche Reizthemen: Zölibat, Ökumene, Frauenordination

Innerkirchlichen Reizthemen weicht Zollitsch ebenso wenig aus wie gesellschaftspolitischen Problemen. Da er erkannt hat, dass der Wandel die Konstante in aller Tradition ist, sucht er den Fortschritt auch in religiösen Angelegenheiten zu befördern, ohne dabei die Substanz des Tradierten zerstören zu wollen. In diesem dem Kern der christlichen Botschaft gegenüber unverbrüchlich loyalen Sinn lässt er sich keine Denkverbote auferlegen und zögert nicht, auch kontrovers Stellung zu beziehen.

Kaum zum Erzbischof geweiht, stellte er in einem Spiegel-Interview zwei Tage vor seinem Amtsantritt die für alle katholischen Priester bindende Kraft des Zölibats in Frage, was heftige Diskussionen auslöste. Konservative Bischöfe wie Meisner, Mixa und Müller warfen ihm vor, alte Debatten aufzuwärmen, reformorientierte Kräfte dagegen wie „Wir sind Kirche“ freuten sich über das Wasser auf ihre Mühlen. Die Verbindung zwischen Priestertum und Ehelosigkeit sei theologisch nicht notwendig, argumentierte der Freiburger Kirchenfürst. Tatsächlich beruht sie nicht auf biblischem Gebot. Im frühen Christentum gab es für das Amt des Episkopen und des Presbyters nur das Verbot einer zweiten Ehe, wie Zollitsch dies schon in seiner Dissertation artikulierte. Erst seit dem 2. Laterankonzil 1139 existiert der Zölibat als eine unabdingbare Zugangsvoraussetzung für den Empfang der Priesterweihe in der römisch-katholischen Kirche. Die orthodoxe Kirche und die katholischen Ostkirchen schlossen sich dieser Entscheidung allerdings nicht an. Dort sind bis heute nur Bischöfe und Ordensleute zum Zölibat verpflichtet. Die in der römischen Hemisphäre wirksame Regelung verbaut auch solchen Kandidaten den Priesterberuf, die ansonsten optimal geeignet wären, fatal bei dem in vielen Ländern herrschenden Personalmangel. Es würde deshalb genügen, so Zollitsch, die Entscheidung für Keuschheit und Enthaltsamkeit jedem einzelnen zu überlassen. Unerhört offen für einen Bischof bekennt er, dass auch er in seiner Jugend verliebt war und gern Vater geworden wäre, es habe ihn Überwindung gekostet, sich für die Priesterlaufbahn zu entscheiden. Ein theoretisch denkbarer Abschied der Kirche vom Zölibat käme, räumt er ein, einer Revolution gleich. Nur ein neues Konzil könne solch eine Wende herbeiführen. Dort würde ein vielleicht entscheidender Teil der Kirche die Abschaffung eines mittlerweile 870 Jahre lang bewährten Disziplinierungs- und Lenkungsinstruments nicht mittragen. Die Freiwilligkeit vorausgesetzt, hält Zollitsch den Zölibat übrigens durchaus für eine segensreiche Einrichtung, ein Zeichen der unbedingten Hingabe für den Dienst an Gott, wie er in der Bibel auch mehrfach empfohlen wird. Die Freiheit von Begierden gehört schließlich zu den christlichen Kernidealen. Um für die geistliche Vaterschaft frei zu sein, soll die irdische ausgeschlossen werden können, nur eben nicht müssen. Diese Feinheit ging allerdings in der hitzigen Debatte häufig unter, ebenso jene, dass Zollitsch das eigene Priestertum unter dem Zeichen der Ehe-Abstinenz nie angezweifelt hat.

Bereits sein Landsmann, der wie Zollitsch aus Filipowa stammende Religionsphilosoph Stefan Augsburger alias Ronáy (1840–1893), hatte in seinen Aphorismen über „Das natürliche Christentum“ einen freigeistigen Vorstoß in die gleiche Richtung gewagt. Er argumentierte, dass der Zölibat als gebotener kirchlicher Zwang Fluch und Unnatur sei, dagegen als selbst gewählter Stand des dazu berufenen Individuums der Vater großer Werke und Gedanken. Solcherlei ketzerische Ansichten duldete die Kirche seinerzeit freilich nicht: Augsburger, der Kaplan und Abgeordnete des ungarischen Parlaments, wurde von seiner Budapester Wirkungsstätte in die Provinz abgeschoben und damit seines Einflusses beraubt.

Zollitsch warb dafür, die in Baden ohnehin bereits weit gediehene Ökumene weiter auszubauen, sich auf das Gemeinsame mit der evangelischen Kirche zu konzentrieren und den Partner bei sensiblen theologischen Unterschieden wie der Eucharistiefeier nicht zu überfordern. In seinem Bistum gab es beispielsweise schon seit 1971 interkonfessionelle Trauungen. Viele Christen empfinden das ökumenische Klima im Südwesten als wohltuend, es hat Maßstäbe gesetzt. Auch die wiederholten Irritationen, die in jüngster Zeit von Rom ausgingen und Verstimmungen bei den Protestanten auslösten, konnten es nicht trüben, zumal Erzbischof Zollitsch den evangelischen Glaubensbrüdern ihren Status als Kirche im voll umfassenden Sinn nicht wie der Vatikan rundweg absprechen mochte. Zahlreiche Vertreter der Protestanten waren davon angetan und reagierten hoffnungsfroh. Vollends zum Vorreiter in Deutschland machte das Erzbistum seine 2005 mit der evangelischen Landeskirche in Baden und deren Bischof Ulrich Fischer geschlossene ökumenische Rahmenvereinbarung. Sie ermöglicht Partnerschaftsverträge auf Gemeindeebene. Das gemeinsame Gebet kann dort ebenso verankert sein wie die arbeitsteilige Kooperation etwa bei Bildungsveranstaltungen und der Sonderseelsorge in Krankenhäusern, bei Polizei und Feuerwehr. Mustergültig war auch das Projekt eines zeitweise konfessionsübergreifenden Religionsunterrichts. Regelmäßig einmal im Jahr trafen sich das Erzbischöfliche Ordinariat und der Evangelische Oberkirchenrat. Ihre Begegnungen waren vor allem deshalb fruchtbar, weil strittige Themen nicht ausgeklammert wurden. Diesen geschwisterlichen Geist, „die Rückkehr zu einer christlichen Grundhaltung im Umgang miteinander“, wollte Zollitsch auch auf die Kirchen in ganz Deutschland übertragen sehen. Je enger die christlichen Konfessionen zusammenarbeiten, so sein Credo, desto glaubwürdiger sind sie.

Mit seiner aus donauschwäbischen Wurzeln ererbten Marienverehrung verschaffte Bischof Zollitsch der vielfach verdrängten weiblichen Seite des Göttlichen neue Sichtbarkeit. Er gehört der Schönstatt-Bewegung an, eine innerhalb der katholischen Kirche angesiedelte, international verbreitete Erneuerungsbewegung, in deren spirituellem Zentrum die Gottesmutter steht. Dazu fügte sich sein Heimvorteil, dass zugleich das Freiburger „Münster Unserer Lieben Frau“ seit Baubeginn der Himmelskönigin geweiht und Maria Patronin der Erzdiözese Freiburg ist. Seinen Dienst als Bischof hat Zollitsch ausdrücklich unter Marias Schutz gestellt, daher ziert den goldenen Stab seiner Amtswürde die Mutter von der unbefleckten Empfängnis mit dem Jesuskind. In marianischen Zügen fand gerade das Schicksal der Heimatvertriebenen viele Anknüpfungspunkte, sei es das Motiv der Flucht nach Ägypten, der Mutter in der Not oder der Trösterin der Betrübten. Die Gläubigen bei der Vertriebenenwallfahrt 2005 in Ellwangen forderte Zollitsch auf, mit der Gottesmutter aufzubrechen und Europa ein mütterliches Antlitz zu verleihen. Was die Frauenordination anbelangt, nutzte der an der Dreisam residierende Glaubensheger die von Rom gewährten Freiräume weidlich aus. Oder er stellte sich vom Vatikan drohenden Einengungen gar entgegen, ließ sich etwa die in seinem Bistum dienenden Ministrantinnen nicht vom Altar verbannen. Im Gegenteil begrüßt er die zunehmende Präsenz der Frauen im kirchlichen Dienst – sie schüfen neue Zugänge und neue Formen der Gemeinschaft, seien gesuchte Ansprechpartnerinnen bei der Erstkommunion- und Firmvorbereitung, auch fähige Seelsorgerinnen und Religionslehrerinnen –, doch führen diese Konzessionen nicht schon so weit, dass Frauen seiner Meinung nach auch den Priesterberuf und das Amt des Bischofs ausüben dürfen. Hier bleibt der Erzbischof päpstlicher Doktrin verpflichtet, welche sich wiederum auf ihre Treue zum Überkommenen beruft, genauer auf die Gewissheit, dass Jesus Christus nur Männer zu Aposteln berufen hat. Daran zu rütteln, kann drastische Folgen haben. Immerhin riskierten die Anglikaner in England und Wales damals ihre Spaltung wegen eines Mehrheitsbeschlusses für die Weihe von weiblichen Bischöfen. Allerdings sei das Problem theologisch klärungsbedürftig, gab Zollitsch hintersinnig zu und öffnete so doch noch eine Perspektive für zukünftige Emanzipation. Dass die ausschließlich männliche Gestalt des Göttlichen von den biblischen Schriften her betrachtet nicht gerechtfertigt ist, machte übrigens die Ausstellung: „Gott weiblich. Eine vergessene Seite des biblischen Gottes“ (4. Mai bis 3. August 2008) im Rottenburger Diözesanmuseum anschaulich.

 

Gesellschaftliche Positionen:
Soziale Marktwirtschaft, Grundgesetz, Homosexualität und Pädophilie 

Die CDU, so meinte Zollitsch im Spiegel-Interview von 2008, habe sich „stärker neoliberalen Thesen angenähert“ und stehe dabei „in der Gefahr, die soziale Marktwirtschaft oder das Soziale nicht mehr genügend im Blick zu haben“. Die Nähe zwischen der Partei mit dem Christlichen im Namen und der katholischen Kirche sei „deshalb geringer geworden“, und andere Parteien wie SPD und Grüne nähmen „Dinge, die uns wichtig sind, stärker auf als früher“.

Am 30. Mai 2009 fand anlässlich des 60. Jahrestages der Verkündigung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland ein ökumenischer Festgottesdienst im Bonner Münster statt, zu dem die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) eingeladen hatte. Als einer der Hauptzelebranten bemerkte Zollitsch in seiner Ansprache, dieses Jubiläum sei nicht lediglich als „Erinnerung an eine gute Vergangenheit“, sondern als „beständiger Auftrag“ zu werten. Es gelte, „für die Bestimmungen des Grundgesetzes die richtige Anwendung auf die Fragen unserer Zeit“ zu finden. Die Werteordnung des Grundgesetzes entspreche in besonderer Weise dem christlichen Menschenbild und müsse jeden Tag neu mit Leben erfüllt werden.

Homosexualität anerkennt Zollitsch als eine „Veranlagung“ und eine nicht wegdiskutierbare „Realität“. Seiner Ansicht nach kann der Staat für diese Zielgruppe gesetzliche Regelungen schaffen wir etwa die Lebenspartnerschaft. Den Begriff Ehe auf eine solche Partnerschaft anzuwenden, hält er jedoch für falsch, „weil damit suggeriert wird, dass da etwas mit der Ehe zwischen Mann und Frau gleichgestellt wird“.

Sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen hält Erzbischof Zollitsch innerhalb des Kreises der geistlichen Berufe für moralisch besonders verwerflich, denn klerikale Triebtäter würden vor einem vorbildlich hohen Anspruch, dem sie sich unterworfen haben sollten, versagen. Jeder Fall von Pädophilie sei „tragisch“ und wirke sich nachteilig auf das Ansehen von Priesterschaft und Kirche aus. Er könne aber nicht ausschließen, dass sich Priester versündigen, „weil wir alle Menschen sind“. In anderen Berufsgruppen sei die Anzahl solcher Verfehlungen jedoch weitaus höher, sie seien keineswegs ein spezifisches Problem der katholischen Kirche. Sexueller Missbrauch könne weder auf den Zölibat noch auf Homosexualität zurückgeführt werden, auch ein Zusammenhang mit der katholischen Sexuallehre sei nicht evident und entbehre jeglicher wissenschaftlichen Grundlage, was jedoch nicht als billige Rechtfertigung aufgefasst werden dürfe. In seiner 20-jährigen Tätigkeit als Personalreferent des Erzbistums Freiburg habe er sich persönlich jedes Falls angenommen „und den Opfern bestmöglich zu helfen versucht“.1

Als im Januar 2010 der Missbrauchsskandal auch Deutschland erreichte, kam es zur Aufdeckung zahlreicher Fälle sexualisierter Gewalt in kirchlichen Einrichtungen durch Geistliche, angestoßen durch den damaligen Leiter des Berliner Canisiuskollegs, den Jesuitenpater Klaus Mertes. Zollitsch fand immer mehr seine Rolle als gemäßigter, aber entschiedener Aufklärer: Er entschuldigte sich mehrfach für den vielfachen sexuellen Missbrauch von Kindern durch Geistliche in früheren Jahrzehnten, erstellte ein Konzept zur Entschädigung von Opfern, trieb eine neue Präventionsordnung und die Verschärfung der „Leitlinien zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch“ innerhalb der Bischofskonferenz voran, drängte den umstrittenen Augsburger Bischof Walter Mixa, gegen den wegen Vorwürfen der Misshandlung ermittelt wurde, zum Rücktritt, bestellte den Trierer Bischof Stefan Ackermann zum Missbrauchsbeauftragten und richtete eine erfolgreiche Telefonhotline ein. Bei der Krisenbewältigung stimmte er sich eng mit Papst Benedikt XVI. ab und ging mit der Aufarbeitung im Vergleich zu anderen Diözesen voran.

 

Interreligiöser Dialog und die Wahrung eigener Identität

Religionen sollten ihrem innersten Wesen nach zu Frieden und Verständigung beitragen und nicht zu Feindseligkeiten und Kriegen Anlass geben. Dieser Grundüberzeugung gemäß sollte der interreligiöse Dialog nach dem Willen des Erzbischofs intensiviert werden, aber nicht um den Preis der eigenen Identität. Ein echter Dialog ist nach seiner Auffassung ohnehin erst auf dem Hintergrund einer selbstbewusst gepflegten abendländischen Kulturtradition möglich. Nach der umstrittenen Kölner Rede des türkischen Präsidenten Erdoğan im Februar 2008 war der Freiburger Metropolit mit Angela Merkel der Meinung, dass die Türken in Deutschland keine Parallelgesellschaft heranzüchten, sondern sich integrieren sollen. Er wolle ihnen helfen, hier Heimat zu finden. Für freie Religionsausübung, das Recht auf eigene Gotteshäuser und muslimischen Religionsunterricht an deutschen Schulen habe sich die katholische Kirche immer eingesetzt, letzterer freilich müsse in deutscher Sprache und mit in Deutschland ausgebildeten Lehrern abgehalten werden. Umgekehrt müsse die Türkei, die immer noch in die EU aufgenommen werden will, endlich das Recht auf Religionsfreiheit nach europäischen Standards anerkennen. Die Scharia kann jedenfalls nicht, wie es Rowan Williams, der Erzbischof von Canterbury, 2008 gefordert hat, ohne Abstriche in die Rechts- und Werteordnung einer westlichen Demokratie integriert werden, ohne dass diese aufhört, sich selbst zu achten und zu behaupten. Auch gegen das Tragen des Kopftuchs an öffentlichen Schulen hat Zollitsch zusammen mit Bischof Gebhard Fürst Stellung bezogen und damit das Bemühen der baden-württembergischen Landesregierung um eine gesetzliche Regelung unterstützt. Das Kopftuch provoziere Mehrdeutigkeit, sei nicht repräsentativ für alle Muslime und werde zudem politisch instrumentalisiert für ein Menschen- und Frauenbild, das mit unseren Verfassungswerten unvereinbar ist. Es gelte, die staatliche Neutralitätspflicht zu wahren und Missbrauch vorzubeugen.

Vor zehn Jahren, beim 97. Katholikentag in Osnabrück, setzte Zollitsch durch seine symbolstarke Umarmung des Augsburger Landesrabbiners Henry Brandt ein Zeichen brüderlicher Verbundenheit mit den Juden. Sie hatten – verstimmt wegen der Neufassung der Karfreitagsfürbitte in der Tridentinischen Messe – ihre Teilnahme abgesagt. Grund war die dort enthaltene Bitte, die Juden mögen erleuchtet werden und Jesus Christus als Erlöser aller Menschen erkennen. Salomon Korn, der Vizepräsident des Zentralrats der Juden, stellte seinerzeit klar, dass solche Worte die Juden als unmündig und bekehrungsbedürftig degradieren.

Umgekehrt nahm und nimmt Zollitsch Christen in Schutz und strebt die Verbesserung ihrer Lebensbedingungen an, wo immer sie im Einzugsbereich anderer Religionen, insbesondere des Islam, diskriminiert und verfolgt werden. Wohl auch durch sein persönliches Flüchtlingsschicksal für die Leiden der Bedrängten empfänglich gestimmt, hatte der Oberhirt sich an die Spitze einer Bewegung gestellt, die sich für eine dauerhafte Aufnahme aus dem Irak geflohener Christen in Deutschland einsetzte. Blutige Pogrome islamistischer Terroristen zwangen diese zum Exodus in die Nachbarländer, in ihrer Heimat waren sie mittlerweile nahezu ausgelöscht. Zollitsch gab sich schon vor einem Dezennium nicht der Beschwichtigung hin, dass kurz- oder mittelfristig eine Aussicht auf Rückkehr und Neubeginn in ihrer Heimat bestehe.

 

Schutz der Schöpfung und Balance im Sozialen

Immer stellt sich der Oberhirt bedingungslos auf die Seite des Lebens, dessen Schutzes und Unantastbarkeit. Er kämpfte gegen die Sterbehilfe, gegen die Stichtagsregelung in der Stammzelldebatte und gegen den Abschuss von Zivilflugzeugen zur Terrorabwehr. Er beklagte bitter, dass es wesentlich einfacher sei, sich eine Abtreibung staatlich finanzieren zu lassen als eine allein erziehende Mutter angemessen zu unterstützen. Wenn der deutsche Staat die Tötung von Kindern finanziert, schaufle er sich sein eigenes Grab. Der Bischof argumentierte mit belastbaren Zahlen: Im Laufe von sieben Jahren (1996–2002) hat Deutschland mit 250 Millionen Euro 810.947 Abtreibungen gefördert. Als im Straßburger Europaparlament ein Vorstoß diskutiert wurde, den Frauen in der EU das Recht auf eine sichere und legale Schwangerschaftsunterbrechung zu gewähren, kritisierte Zollitsch in seiner Weihnachtspredigt 2013 diese Absicht als Umkehrung aller Werte des Christentums. Der Antrag habe die Abtreibung eines Kindes aus dem Leib der Mutter als Menschenrecht einfordern wollen. Der Erzbischof forderte dazu auf, das Leben zu achten und zu schützen. Nach heftigem Widerstand aus konservativen Kreisen und der katholischen Kirche wurde der Antrag im EU-Parlament mit knapper Mehrheit abgelehnt.

Das Vertrauen und den Respekt seiner Mitbrüder erwarb sich Zollitsch vor allem dadurch, dass er sein Bistum pastoral, organisatorisch und finanziell im Griff hatte, nicht so sehr durch seine überbietbare rhetorische Ausstrahlung und noch weniger durch seine – etwa im Vergleich zu Karl Kardinal Lehmann – überschaubare akademische Laufbahn. Bahnbrechende theologische Schriften hat er nach seiner Dissertation nicht mehr publiziert. Dennoch beweisen seine einfach und klar aufgebauten spirituellen Vorträge und Predigten nicht nur eine profunde Bildung und theologische Kompetenz, sondern auch eine sachkundige und kritische Sicht in profanen Fragen des gesellschaftlichen Lebens. Wenn Zollitsch nicht schon aus eigenem Antrieb ein homo politicus gewesen wäre, hätte er es als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz notgedrungen werden müssen. Er suchte den Kontakt in die nichtkirchliche Öffentlichkeit, zu den gesellschaftlichen Akteuren, zu Wirtschaftsbossen, Kulturträgern, Künstlern, Wissenschaftlern und Politikern, nicht um selbst Politik zu treiben, sondern um die Einsicht wach zu halten oder vielmehr zu wecken, dass menschliches Handeln stets ethisch fundiert und religiös verankert sein muss. Angesichts gigantischer Managergehälter, astronomisch hoher Abfindungen, grassierender Steuerhinterziehung, rücksichtslos wuchernder Kapitalgesellschaften auf der einen und zunehmender Armut auf der anderen Seite mahnte er den verpflichtenden Charakter von Eigentum und Kapital an, forderte mehr ökonomische Gerechtigkeit zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die Milderung sozialer Notstände. Die Arbeitswelt müsse sich den Bedürfnissen der Familien anpassen, nicht umgekehrt. Andererseits ist er sich im Klaren darüber, dass der deutsche Sozialstaat über seine Verhältnisse lebt und die staatliche Umverteilung das Gefühl für Freiheit und Eigenverantwortung aushöhlt. Das Soziale müsse deshalb neu gedacht, die Balance zwischen Solidarität und Subsidiarität neu ausgewogen werden, dies gehört zu seinen Überzeugungen.

Seit vielen Jahren sorgt sich der Erzbischof um die verantwortungsvolle Nutzung der Natur, um den Umwelt- und Klimaschutz in seiner Diözese, was für ihn immer auch ein Akt der Solidarität mit den Opfern ist, denn die Schwächsten trifft es zuerst. Zu diesem Zweck hat er Richtlinien erlassen, eine „Energie-Offensive“ gestartet und Preise für vorbildliche Leistungen zur Bewahrung der Schöpfung ausgelobt. Sowohl für Fragen der Wirtschaftsethik wie für solche des Umweltschutzes verfügte die Erzdiözese Freiburg über Stabsstellen, die vom Publikum erfreulich intensiv genutzt wurden. Darüber hinaus wurde ein festes Gesprächsforum mit den in Karlsruhe ansässigen Bundesgerichten etabliert. Zollitschs Verhältnis zu den Medien ist seit seinen ersten Interviews vor Fernsehkameras so unverkrampft routiniert, als hätte er nie etwas anderes getan. Die Macht der Medien weiß er zu nutzen, um die Menschen mit der Botschaft des Christentums zu erreichen. Dagegen war er skeptisch gegenüber dem Plan, einen eigenen Kirchenkanal im digitalen Fernsehen zu gründen, vor allem, was die Finanzierung dieses Vorhabens und die Gefahr betrifft, in der Masse der Spartenprogramme nivelliert zu werden.

In seine Amtszeit als Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz fiel auch die Debatte um die extrem konservativen, anti-aufklärerischen Piusbrüder. Annäherungsversuche und gegenseitige Zugeständnisse zwischen der Bruderschaft und der katholischen Kirche gab es vom Pontifikat Johannes Pauls II. bis zu dem von Papst Franziskus. Die Aufregung um den auch mit Erotikliteratur handelnden kircheneigenen Weltbild-Verlag und der Skandal um den Bau der feudalen Residenz des Limburger Bischofs Tebartz-van Elst trugen ebenfalls dazu bei, dass der oberste Repräsentant der deutschen Katholiken sich ständig Fragen und Problemen, die er sich nicht ausgesucht hatte, stellen und im Krisenmodus arbeiten musste. Aus Verantwortung für das Ganze wich er ihnen nicht aus, denn „es liegt ein Reiz in der Herausforderung“.2

Leiten lässt sich der Oberhirt stets von einem umfassenden Bildungsideal, das abendländische Wertvorstellungen, die Tradition des Tugendkanons aus dem antiken Denken zu wahren sucht. Wie der designierte Erzbischof bei seiner Vereidigung am 9. Juli 2003 in der Villa Reitzenstein, dem Amtssitz des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, hervorhob, sei es eine Aufgabe aller gesellschaftlichen Kräfte und eben auch der Kirche, dafür zu sorgen, dass die Quellen der abendländischen Humanität lebendig bleiben. Zu diesen Quellen gehören nicht nur die Leben sichernde Bundesweisung Gottes im Alten und die Zukunft schenkende Verheißung im Neuen Testament, sondern auch die Ideale von Freiheit und Demokratie der griechischen, von Recht und Gerechtigkeit der römischen Zivilisation.

 

Der Donauschwabe – Zeuge von Hunger, Tod und Vertreibung

Robert Zollitsch kam am 9. August 1938 als jüngster von drei Söhnen in der von Donauschwaben bewohnten, rein katholischen Großgemeinde Filipowa auf die Welt, gelegen in Jugoslawien, wo damals mehr als 500.000 Volksdeutsche lebten. Die Donauschwaben, der jüngste deutsche Neustamm, sind die Nachfahren jener vor allem aus Süddeutschland eingewanderten Kolonisten, die von den Habsburgern im 17. und 18. Jahrhundert nach der Verdrängung der Türken aus Südosteuropa in Pannonien angesiedelt wurden. Es gelang ihnen, aus den verwüsteten und weitgehend entvölkerten Gebieten die Kornkammer der Donaumonarchie zu schaffen. 1763 war Filipowa (Filipovo/Filipsdorf/Szentfülöp) von Kaiserin Maria Theresia gegründet worden. Vier Jahre darauf wanderten die Zollitsch-Vorfahren in die Batschka ein, die Tiefebene zwischen Donau und Theiß. Sie stammen aus der Oberpfalz und lassen sich bis 1532 in Tirschenreuth nachweisen. Die mütterliche Geiger-Familie kommt ursprünglich aus dem Schwarzwald. Vater Sebastian handelte mit dem damals auch in Deutschland begehrten Hanf, der hauptsächlich von den Deutschen der Batschka produziert wurde. Mutter Theresia war in noch unangezweifelter Rollenverteilung Hausfrau und Mutter. Robert erlebte eine „schöne, großartige“ Kindheit, eine Zeit, die er nicht missen möchte.

Als er im Alter von fünf Jahren mit seiner Mutter einmal ein Gesangbuch durchblätterte und ein Marienbild betrachtete, fragte er: „Wie kann Gott eine Mutter haben, wenn er schon immer da war?“ Die Mutter konnte ihm diese Frage zwar nicht zu seiner Zufriedenheit beantworten, aber seit diesem Tag ist ihm neben seinen Eltern nichts so lieb wie Maria.

Filipowa war eine ländlich geprägte Gemeinde mit Bauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden. Die Lebenswelt des Dorfes war ganz in die von der Natur vorgegebenen Rhythmen der Landwirtschaft und der religiösen Feste eingebettet. Nach der amtlichen Volkszählung von 1941 hatte das Dorf 5.300 Einwohner. In mehrfacher Hinsicht nahm Filipowa eine Spitzenstellung unter den donauschwäbischen Gemeinden ein: durch seinen Kinderreichtum, sein ausgeprägtes religiöses Leben, den hohen Stand seiner Bildung und Sitten sowie die weltweit ihresgleichen suchende Zahl seiner geistlichen Berufungen. Diese vier Elemente gingen Hand in Hand.

Eine geistliche Laufbahn einzuschlagen, lag in Filipowa gleichsam in der Luft. Wenngleich die reiche Nachkommenschaft der Gemeinde teils in syrmische Tochtersiedlungen und nach Übersee abwanderte, blieben immer noch zu viele Söhne, die wegen der Realteilung vom väterlichen Hof nichts erben konnten, und zu viele Töchter, die unversorgt geblieben wären. Nonne oder Pfarrer zu werden war daher ein nahe liegender Ausweg. Während zweier Jahrhunderte entsprossen der gottergebenen Batschka-Gemeinde 133 Ordensfrauen, 18 Ordensmänner, 32 Priester, 1 Diakon sowie 4 Prälaten, nicht gerechnet jene, die ihr geistliches Amt nur vorübergehend ausgeübt haben. Robert Zollitschs Erwählung allerdings ist „die Krone aller geistlichen Berufe, die aus unserem geliebten Heimatort hervorgegangen sind“, wie Schwester Oberin Benildis Piller vom Kloster Bad Niedernau stolz dem neuen Erzbischof gratulierte. In den 1930-er Jahren freilich hätte bereits ein anderer Sohn der nach dem Apostel Philippus benannten Gemeinde die Chance gehabt, Erzbischof von Esztergom/Gran und damit Primas von Ungarn zu werden, hätte er es nicht abgelehnt, seinen Namen magyarisieren zu lassen und damit seine deutsche Identität aufzugeben. Es war Prälat Dr. Anton Lepold (1880–1971), der übrigens in Esztergom die Königsburg des ungarischen Königsgeschlechts der Arpaden entdeckte und freilegte.

Sein erstes Schuljahr konnte Robert Zollitsch noch in Filipowa beginnen. Dann änderten sich die Verhältnisse grundstürzend. Als im Herbst 1944 die russische Front heranrückte, hatte nur ein Bruchteil der Donauschwaben den Aufforderungen der deutschen Militärbehörden zum „vorübergehenden Verlassen“ der Heimat Folge geleistet. Die Volksgruppenführungen in Jugoslawien, Rumänien und Ungarn konnten nur in geringem Umfang geordnete Evakuierungsmaßnahmen durchführen. Ein Teil der deutschen Bevölkerung, so auch die Filipowas, flüchtete auf Pferdefuhrwerken. Viele aber vertrauten auf ihr gutes Gewissen und blieben.

Der Einmarsch der Roten Armee verlief dann unter Plünderungen und Vergewaltigungen, aber im Vergleich zu dem, was noch folgte, erlebten viele Deutsche die Russen trotzdem als „einigermaßen menschlich“. Bis heute hat die Welt wenig davon erfahren, mit welch unvorstellbarer Brutalität die in ihrer jugoslawischen Heimat zurückgebliebene deutsche Zivilbevölkerung von Titos Partisanen danach verfolgt wurde. Gegen jedes Menschenrecht und mit größter Willkür wurden die wehrlosen und entrechteten Menschen von Haus und Hof vertrieben, in Lagern interniert, zu Sklavenarbeit gezwungen und dem Tod durch Erschießungen, Misshandlungen und Folter preisgegeben. Zur Eliminierung der Arbeitsunfähigen existierte ein wahrer Archipel Gulag, für den die Namen von Todeslagern wie Rudolfsgnad, Jarek und Gakowa, Syrmisch Mitrowitz, Valpovo und Kerndija stehen. Dort sorgten Hunger und Seuchen für eine qualvoll langsame, aber effektive Dezimierung der schlimmer als Vieh zusammengepferchten Menschenmassen. Mindestens ein Drittel oder 65.000 der in ihrer Heimat verbliebenen Jugoslawiendeutschen haben durch den Völkermord des kommunistischen Tito-Regimes ihr Leben verloren, meist Alte, Frauen und Kinder, zivile Opfer der Zeit zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 1948. Weil weder in Jalta noch in Potsdam ein Beschluss gefasst wurde, sie ausweisen zu dürfen, sollten die Deutschen Jugoslawiens vollständig ausgerottet werden.

Robert Zollitsch hat die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs hautnah erlitten, auch die „Blutnacht auf der Heuwiese“ am 25. November 1944: „Ich war damals sechs Jahre alt und erinnere mich an viele Details: wie am Morgen alle Männer zwischen sechzehn und sechzig antreten mussten, und wie gegen Abend, als die Dämmerung einsetzte, 212 Männer – begleitet von Tito-Partisanen und von Wagen mit Schaufeln, Spaten und Pickeln – unter Gewehrfeuer hinausgetrieben wurden, um sich ihr eigenes Grab zu schaufeln. Sie mussten sich nackt ausziehen und wurden brutal niedergemetzelt und verscharrt. Ich höre die Schüsse noch heute nach sechzig Jahren … In meinen Ohren klingen noch die bangen Fragen, das Weinen und die Verzweiflung der Mütter, der Ehefrauen, der Kinder.“3 Unter den Ermordeten im Alter zwischen 16 und 60 befand sich auch Roberts gerade 16 Jahre alt gewordener Bruder Josef.

Wie viele andere aus seinem Dorf werden Robert Zollitsch, seine Großmutter und drei Cousinen am 1. April 1945, es war der Ostersonntag, von den kommunistischen Partisanen aus ihren Häusern getrieben und in Viehwaggons in die Vernichtungslager Gakowa und Kruschiwl transportiert. Seine Mutter hatten die neuen Machthaber zunächst in ein Zwangsarbeitslager verschleppt, sein Bruder Paul war schon 1943 mit 18 Jahren zum Militär eingezogen worden, sein Vater wurde im Oktober 1944, wie alle erwachsenen Männer, zwangsrekrutiert, mit unbekanntem Aufenthalt. Am qualvollsten war für den damals Sechsjährigen der bohrende Zweifel an Gott, die Frage, wie er soviel ungerechtes Leiden zulassen konnte: „Sie begleitete uns, wenn wir mal wieder morgens um vier Uhr antreten mussten, um zum wiederholten Mal gefilzt zu werden. Sie begleitete uns, wenn wir mit ansehen mussten, wie eigene Angehörige vor Hunger starben oder erschlagen wurden. Sie begleitete uns, wenn wir auf unserem Stroh lagen und Abend für Abend einen Rosenkranz nach dem anderen beteten. Doch auch dies ist eine unserer Erfahrungen: Je dunkler und kälter es wurde, je aussichtsloser unsere Lage schien, desto mehr und desto fester klammerten wir uns an Gott, an Maria, die Mutter unseres Herrn.“4 Die Glaubensstärke, die er an der Großmutter beobachten konnte, gab immer wieder auch ihm neue Kraft. „In allem Leid gibt es ein Stück Führung“, sollte er später einmal sagen. Damals im Lager Gakowa hat der junge Zollitsch zum ersten Mal daran gedacht, den Beruf des Priesters zu ergreifen. Tief geprüft von ständiger Todesangst, wollte er verhindern, dass solche Abgründe der Gottlosigkeit sich abermals auftun. Bitter hat er lernen müssen, wie der Mensch in atheistischen Ideologien mit seinesgleichen verfährt, wenn nicht Gott dazwischensteht. Das denkbar größte Unglück bleibt für ihn deshalb „eine Welt, die Gott vergisst“.

Robert Zollitsch gehörte zu den wenigen Glücklichen, denen schon im Oktober 1945 die gefahrvolle Flucht aus dem Todeslager durchs Maisfeld über die ungarische Grenze gelang. Ein Dutzend Menschen waren heimlich aus dem Lager geschlichen, darunter auch die Mutter, die es geschafft hatte, von der Zwangsarbeit ins Lager zu kommen. Die resolute Großmutter war dabei die treibende Kraft, sonst hätten leicht auch sie zu den über 9.000 Toten dieses Lagers gehören können. Der Satz, mit dem sie ihre unerschrockene Handlungsweise begründete, wurde ihrem Enkel zur lebensleitenden Maxime: „Wer sich treiben lässt, statt aktiv zu werden, den erwischt es als ersten.“ Über Gara kamen sie nach Csávoly, wo Bekannte des Vaters wohnten. Es waren Frauen, die bis 1919 in Filipowa gelebt hatten, wo ihre Ehemänner als ungarische Beamten wirkten. Dort wurde der Junge zum zweiten Mal eingeschult. Doch bald schlugen sich die Flüchtlinge über Wien und Melk in die westdeutsche Mangelgesellschaft durch. Ihre erste Bleibe lag in der Erzdiözese Freiburg. Es war die nordbadische Ortschaft Oberschüpf im Landkreis Tauberbischofsheim, wo sich die Familie im April 1946 sammelte und wohin im Sommer auch der Vater aus russischer und Bruder Paul 1948 aus englischer Kriegsgefangenschaft fanden. Dort besuchte der achtjährige Robert die Dorfschule im Oberschüpfer Schloss. Über die Klassenkameraden der Volksschule gewannen sie Anschluss und wurden schnell heimisch. Noch heute pflegt der Erzbischof Kontakt zu ihnen, sie kamen sogar zur Palliumsverleihung mit einem eigenen Bus nach Rom. Als Volksschüler kann sich Robert Zollitsch vorstellen Lehrer zu werden. 1953 zog die Familie den Arbeitsmöglichkeiten hinterher nach Mannheim-Rheinau, wo später ein Eigenheim gebaut wurde. Am städtischen Gymnasium in Tauberbischofsheim interessierte sich der hervorragende Schüler für viele Fächer, am meisten für Religion, Deutsch und Geschichte. Auf dem Klavier übte er die Inventionen von Bach, im Schülerparlament demokratische Prozeduren. Nur zögernd dachte Zollitsch daran, die Laufbahn des Priesters einzuschlagen, doch in der Oberstufe fällt die Entscheidung. Über das Konvikt in Tauberbischofsheim bekam er 1955 Kontakt zur Schönstatt-Mannesjugend. Regelmäßig nahm er an Gruppenstunden im Konvikt und Tagungen auf Diözesanebene teil. Auch Führungspositionen im Bereich der Jugendarbeit übernahm er. 1960 legte Robert Zollitsch in Tauberbischofsheim die Reifeprüfung ab. Er ist damals durch die Wirren von Krieg und Flucht schon 22 Jahre alt, als Priesterkandidat wurde er jedoch von Bundeswehr und Zivildienst freigestellt und konnte bis 1964 Theologie und Philosophie studieren, nicht an der päpstlichen Jesuiten-Universität Gregoriana in Rom, der Kaderschmiede kirchlicher Karrieren, sondern „nur“ an der Universität Freiburg, dazwischen zwei Semester in München. Während der Semesterferien musste er Jobs annehmen, als Autowäscher oder beim Waschmittelhersteller „Sunlicht“ auf der Rheinau, um sich über Wasser zu halten. Nach der pastoral-praktischen Ausbildung im Priesterseminar St. Peter weihte ihn sein Vorvorgänger, Erzbischof Hermann Schäufele, am 27. Mai 1965 im Freiburger Münster zum Priester.

 

Priester, Lehrer, Theologe

Nach einer Vertretungszeit in St. Konrad in Mannheim-Casterfeld verbrachte Zollitsch von September 1965 bis August 1967 als Kaplan in der Pfarrei St. Oswald in Buchen/Odenwald. Anschließend war er in mehreren Funktionen lange Jahre in der Priesterausbildung tätig. Im September 1967 berief ihn Schäufele zum Repetitor für Philosophie am Collegium Borromaeum, dem Erzbischöflichen Theologischen Konvikt in Freiburg. 1972 wurde er Dozent für Homiletik am Priesterseminar und übernahm somit die Predigtausbildung der künftigen Priester. Im Juli des gleichen Jahres wurde ihm zusätzlich eine Dozentur am Erzbischöflichen Priesterseminar St. Peter im Schwarzwald übertragen. Von 1974 bis 1983 war er Direktor am Collegium Borromaeum und trug damit die für die Erzdiözese fundamentale Verantwortung für die Ausbildung der Priester. Während dieser Zeit – aus dem Rückblick die schönste seines Lebens – konnte er die Zahl der Theologiestudenten verdoppeln, einige mit sicherem Gespür in zahllosen persönlichen Gesprächen für den Dienst aufschließen und begeistern, andere von vordergründigen Zielen abhalten und ihren eigentlichen Begabungen zuführen. Beliebt war der geistliche Mentor auch für seine unkonventionellen Lehrmethoden. Sein Priesterseminar in Freiburg hat sich so gut bewährt, dass es bis hin zum Papst auf Interesse stieß. Als Pädagoge befasste sich Zollitsch mit der ganzen Breite der Theologie, setzte sich besonders mit den Schriften von Karl Rahner, Joseph Ratzinger und Walter Kasper auseinander. Hans Urs von Balthasar hatte er schon als Schüler gelesen.

Im März 1974 wurde Robert Zollitsch mit einer Dissertation über „Amt und Funktion der Presbyter in den ersten zwei Jahrhunderten“ von der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg zum Doktor der Theologie promoviert. Die anspruchsvolle Untersuchung, die er neben seinen Lehraufgaben bewältigen musste, behandelt ein zuvor kaum erforschtes Thema. Im Oktober des gleichen Jahres wurde die Arbeit unter dem Titel „Amt und Funktion des Priesters“ in der Reihe „Freiburger theologische Studien“ mit einem Umfang von 310 Seiten im Herder-Verlag publiziert. Das Presbyterat steht inhaltlich und formal in der Nachfolge der Apostel und in einem sich wandelnden Verhältnis zum Episkopat. Zollitsch weist nach, dass es je nach geschichtlicher Gestalt bleibende und wandelbare Komponenten hat, „offen für den Anruf und die Erfordernisse der Stunde“ ist und „auch heute in Treue zur kirchlichen Tradition neue konkrete Formen“ annehmen kann. „Die Zeit des Ursprungs vermag Maßstab und Richtung zu geben“, lautet der verheißungsvolle Schlussstein dieser Abhandlung, im Leben des Autors eine bedeutende Wegmarke, ja eine Weichenstellung. Die Beschäftigung mit der Pastoral in den Anfängen der Christenheit kam einer Wiederentdeckung des ursprünglichen Auftrags der Kirche gleich und weitete Zollitschs Blick nicht nur für Gestaltungsmöglichkeiten der Hirtendienste, sondern auch für ökumenische Spielräume durch die gemeinsamen Grundlagen mit anderen christlichen Kirchen und Gemeinschaften.

1974 wurde Zollitsch Mitglied des Priesterrates, den er von 1978 bis 1983 auch moderierte. Er setzte sich für eine echte Mitbestimmung in diesem Gremium ein. Seine Arbeit fand ihre Anerkennung in der Ernennung zum Päpstlichen Ehrenkaplan (Monsignore) durch Papst Johannes Paul II. im Jahre 1982. Im April 1983 berief ihn sein Vorgänger Erzbischof Oskar Saier als Mitarbeiter ins Erzbischöfliche Ordinariat, übertrug ihm die Aufgabe des Personalreferenten und ernannte ihn kurz darauf zum Domkapitular. Seine Kenntnisse und Verbindungen aus der Zeit als Priesterausbilder waren für dieses Amt, das er bis zu seiner Wahl zum Erzbischof versah, die beste Grundlage. 1992 wurde er zum Päpstlichen Ehrenprälaten ernannt. In der Deutschen Bischofskonferenz war Erzbischof Zollitsch seit September 2003 Mitglied der Kommission für Geistliche Berufe und Kirchliche Dienste. Von September 2003 bis September 2006 war er Mitglied der Glaubenskommission. Seit 2006 ist er Großkanzler der Gustav-Siewerth-Akademie, einer staatlich anerkannten wissenschaftlichen Hochschule in privater Trägerschaft mit Sitz in Weilheim-Bierbronnen, Kreis Waldshut, wo man zur Erarbeitung einer christlichen Gesellschaftslehre auf das interdisziplinäre Gespräch Wert legt. Außerdem gehört er dem Ritterorden vom Heiligen Grab zu Jerusalem an und ist Ehrenmitglied der Katholischen Studentenverbindung K.D.St.V. Ferdinandea (Prag) Heidelberg CV und der K.D.St.V. Wildenstein, Freiburg. Für seine Verdienste um die Versöhnung zwischen den Menschen in Polen und Deutschland ist er im Mai des Jahres 2008 mit der Ehrendoktorwürde der Kardinal-Stefan-Wyszynski-Universität in Warschau ausgezeichnet worden. Im Dezember 2010 berief ihn Papst Benedikt XVI. zum Mitglied des Päpstlichen Rates zur Förderung der Neuevangelisierung.

Als seine Lieblingstugenden nennt Zollitsch „Verlässlichkeit“ und „Treue“; in reichem Maß muss er selbst sie verkörpern, kommt aber gerade als Christ auch in ihren Genuss, einer „Solidarität bis zum Letzten“. Es fällt ihm schwer, Nachlässigkeit und Oberflächlichkeit zu entschuldigen, doch hat er Verständnis dafür, dass jemand Fehler macht, nicht aber dafür, dass er sie nicht zugeben will und sich nicht helfen lässt. Wenn man ihm bei Sitzungen zu langatmig palavert, kann er schon einmal ärgerlich aufbrausen, gesteht er. Die Reform, die er am meisten bewundert, hat ihn als Student mit ihrer Aufbruchstimmung begeistert: das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965), ein gewaltiger Kraftakt mit Leitgedanken, die teils bis heute ihrer Realisierung harren. Dem offenen Geist dieses Konzils fühlt er sich verpflichtet. Große Freude bereitet ihm sein Garten und die Pflege seiner Kakteen. Wo er gern seinen Zweitwohnsitz hätte? In Südtirol! Im Fragebogen der Zeitschrift Focus beantwortete er die Frage nach seiner Lieblingsgestalt in der Geschichte mit Konrad Adenauer. Dasjenige politische Projekt, das er beschleunigt wissen will, ist die Besserstellung der Familien mit Kindern. Für den Maler Matthias Grünewald würde er sich finanziell verausgaben. Die von ihm am meisten geschätzten Schauspieler sind die Opernsängerin Anneliese Rothenberger und Gustav Gründgens. Hätte er sich nicht für das Theologiestudium entschieden, so wäre die Literatur sein Fach geworden. Heute noch liest er gern Heinrich Böll und Günter Grass, Reinhold Schneiders Roman „Las Casas vor Karl V.“ lobt er in einem Atemzug neben der Bibel und dem Buch über „Jesus von Nazareth“ von Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI. Unter den Kirchenvätern, mit denen er sich in seiner Dissertation beschäftigt hat, steht ihm der Heilige Ignatius von Antiochien besonders nahe, auch mit dem Heiligen Ignatius von Loyola hat er sich beschäftigt. Seit er als Jugendlicher die Biografie des Hitler-Kritikers und Märtyrers Karl Leisner gelesen hat, begleitet sie ihn. Sein Traum vom Glück: Mit allen Lieben im Himmel wieder zusammenfinden. Als eigene Tugend empfindet er, dass er anpackt, was ansteht. Wohl nicht umsonst sagt man ihm nach, dass er arbeitswütig sei, jedenfalls gibt er zu, schwer abschalten zu können. Sein Arbeitspensum während seiner Amtszeit war enorm. Um 5:30 Uhr beginnt sein Tag der Gesundheit zuliebe mit Morgengymnastik. Nach dem Beten der Laudes, einem Gottesdienst um 6:30 im Münster und dem Frühstück beginnt er um 7:30 mit der Arbeit, die nicht selten erst spät in der Nacht endet. Im Büro ist eine Menge Post zu erledigen, Gespräche sind zu führen, Anrufe entgegenzunehmen, eine Stichprobe zählte 80 Telefonate an einem Tag. Wenn in diesem Zeitraum einmal weniger als sieben neue Probleme auf seinem Schreibtisch landeten, pflegte er abends ein Tedeum zu singen, wie er einmal sagte. Am besten erholt er sich, wenn er eine Stunde lang schwimmen oder in der freien Natur wandern kann, vorzugsweise in den Bergen, seit jeher Orte der Gottesnähe.

 

„Pflicht des Gedenkens“ und Engagement für Aussöhnung

Dem Thema Flucht und Vertreibung, von dem sein persönliches Schicksal geprägt ist, wendet sich der Erzbischof immer wieder zu und bekennt sich stets freimütig zu seiner Herkunft, eingedenk dessen, dass ohne die Herkunft und das Bekenntnis zu ihr keine Zukunft möglich ist. Daran lässt er keinen Zweifel. Die Gelöbniswallfahrten seiner donauschwäbischen Landsleute nach Altötting, Bad Niedernau, Mary Lake in Kanada und Philadelphia in den USA hat er alle schon zelebriert, nicht nur dem Gelübde seiner Leidensgenossen, sondern auch seiner ureigenen kindlichen Zeitzeugenschaft verpflichtet. An diesen Wallfahrten halten die Entkommenen aus Titos Inferno heute noch fest. Wendelin Gruber, ein Pater wiederum aus Filipowa, hatte in den schlimmsten Tagen der donauschwäbischen Geschichte zusammen mit den Internierten des Lagers Gakowa das Gelübde abgelegt, jährlich zu wallfahren, „wenn wir überleben“. Bei Treffen seiner in 18 Länder rund um den Globus zerstreuten Dorfgemeinschaft, die ihre einstige Zusammengehörigkeit immer noch hochhält, pflegt Robert Zollitsch, ihr berühmtester Sohn, in heimatverbundener Leutseligkeit teilzunehmen. Wenn er mit seiner erweiterten Familie die Messe feiert, gedenken die Überlebenden aus Filipowa ihrer Toten – mit 1413 Kriegs- und Lageropfern hatten sie einen außerordentlich hohen Blutzoll –, erinnern sich an ihr leidvolles Vertreibungsschicksal, aber auch dankbar an alle hilfreichen Menschen, die sie in ihrer Entwurzelung auf- und angenommen haben. Die Verbundenheit mit seiner Heimat und seinen Landsleuten habe ihn nicht daran gehindert, sondern im Gegenteil ihm dabei „geholfen, neu Wurzeln zu schlagen und Bindungen einzugehen, die tragend geworden sind“. Dies sagte der Bischof 2004 in Sindelfingen, dem Ort, wo seit 1970 das „Weltheimathaus“ der Donauschwaben steht. Mit einer aus dem Geist des Christentums geschöpften Unbeirrbarkeit wies er darauf hin, dass es eine „Pflicht zum Gedenken“ gebe. Mit dieser Haltung stellt er sich gegen die breite Phalanx derjenigen Ideologen, die jede Erinnerung an deutsche Opfer als Aufrechnung gegenüber deutscher Schuld verteufeln. Dagegen insistiert der Bischof: „Wir sind aufgefordert, wider alles Vergessen zu arbeiten, den Toten zur Ehre und den Lebenden zur Mahnung.“ Wenn Verbrechen nicht aufgearbeitet werden und ungesühnt bleiben, besteht die Gefahr, so der unerschrockene Warner, dass sie abermals wüten und wieder an unschuldigen Menschen begangen werden, wie im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina vor wenigen Jahren erst geschehen. Die Heimatvertriebenen hätten bereits in ihrer Charta von 1950 die Hand zur Versöhnung ausgestreckt und ihren Willen zu einem friedlichen Miteinander ohne Revanchegedanken bekundet, sagte der Bischof. Daran hat sich bis heute nichts geändert. Nach revanchistischem Zungenschlag wird man bei den Donauschwaben vergeblich suchen. Ihre Bereitschaft zu Verständigung und Versöhnung unterliegt in aller Regel nur der Einschränkung, dass damit nicht Vergessen gemeint sein kann, dass Versöhnung im Gegenteil eine aufrichtige gegenseitige Erinnerungskultur voraussetzt, und dazu gehört eben auch, dass Verbrechen an den Deutschen nicht weiterhin totgeschwiegen und verharmlost werden.

Auch zum 60. Jahrestag der AVNOJ-Beschlüsse – sie hatten den Genozid an den Deutschen Jugoslawiens legitimiert – hielt Zollitsch am 21. November 2004 bei einer Gedenkveranstaltung des Bundes der Vertriebenen im Berliner Abgeordnetenhaus eine in die gleiche Richtung zielende Ansprache. Er mahnte zur Erinnerung an das Schicksal der Deutschen im ehemaligen Jugoslawien. Wer ihr Leid verdränge, mache sie „ein weiteres Mal zu Opfern, zu Opfern des Vergessens“. Die Vertriebenen rief der Erzbischof zu Dialog und Aussöhnung auf. Sie seien durch ihre Geschichte berufene Vermittler zwischen Ost und West.

Ein deutliches Zeichen als versöhnender Brückenbauer setzte der Bischof selbst mit einer Reise, die er im Juli 2005 in die Woiwodina, seine alte Heimat, unternahm, zum ersten Mal nach 60 Jahren. Zollitsch besuchte in bedrückter Stimmung die Stelle des Massengrabes, auch die Stätten der einstigen Hungerlager Gakowa, wo er selbst mit seinen Angehörigen interniert war, und Rudolfsgnad suchte er auf, um für die grausam Umgekommenen eine Messe zu zelebrieren. Viel herzliche Gastfreundschaft, ermutigende Gesten, der Wille zu Dialog und Zusammenarbeit wurden ihm von der katholischen und orthodoxen Kirche Serbiens entgegengebracht, auch von den Menschen seines Geburtsorts Filipowa, der heute Bački Gračac heißt, wo sein Geburtshaus noch steht. Am 21. Juni 2008 ist endlich auch dort nach dem Vorbild anderer Gemeinden in Kroatien und Serbien eine Gedenktafel für die ehemaligen deutschen Bewohner eingeweiht worden. Für die 212 Opfer der größten Hinrichtung der Batschka auf der Heuwiese folgte ein Mahnmal am 17. Juni 2011, bei dessen Einweihung neben Zollitsch sieben weitere Bischöfe zelebrierten und viel politische Prominenz aus dem In- und Ausland anwesend war. Doch bleibt es, so der Bischof, nicht beim Blick zurück in Zorn oder ohnmächtiger Trauer. „Wir dürfen uns nicht abfinden mit der scheinbaren Übermacht von Hass und Gewalt. Unsere Toten wären sonst ganz umsonst gestorben, wenn wir nicht engagiert für Versöhnung, Dialog und Aussöhnung einstehen.“5 Mit seiner west-östlichen Kapazität setzte sich der frisch gewählte Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz beim Patriarchat der serbisch-orthodoxen Kirche dafür ein, das sperrige Balkanland enger an Europa heranzuführen, wo, wie er glaubt, seine Zukunft liegt. Zollitsch ist zutiefst überzeugt davon, dass die Vertriebenen mit ihren in multiethnischer Umgebung gewachsenen Kenntnissen und mit christlicher Versöhnungsbereitschaft die Welt verändern können. „Unsere Geschichte im Osten war nicht umsonst. Sie wird zur Hoffnung. Wir dürfen sie einbringen in ein größeres und neues Europa.“6

Bei der 58. Gelöbniswallfahrt der Donauschwaben nach Altötting. Predigt im Pontifikalgottesdienst am 9. Juli 2017 in der St.-Anna-Basilika, Foto: Maria Nyffenegger, St. Gallen

 

Seit er als Erzbischof von Freiburg im Jahr 2014 von Stefan Burger und im Amt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz von Reinhard Kardinal Marx abgelöst wurde, hat der donauschwäbisch geprägte Christ Zollitsch sich ganz in diesem Sinn engagiert: auf dem Boden der ganzen geschichtlichen Wahrheit Brücken bauen und Versöhnung stiften. Seit April 2016 ist er Vorsitzender des St. Gerhardswerks, eines katholischen Vereins, der die Donauschwaben aus und in ihren drei Herkunftsländern ehemaliges Jugoslawien, Rumänien und Ungarn vertritt und den in Deutschland lebenden Landsleuten in ihren kulturellen und kirchlichen Belangen beisteht. Bei den vom St. Gerhardswerk organisierten Gelöbniswallfahrten der Donauschwaben nach Altötting, auf den Schönenberg bei Ellwangen, nach Bad Niedernau und auf den Dreifaltigkeitsberg bei Spaichingen hat Zollitsch auch hin und wieder Gottesdienste zelebriert. Die nächste Wallfahrt nach Altötting im Jahr 2019 wird die sechzigste sein.

Nachdem die Armen Schulschwestern von unserer Lieben Frau in ihrer alten Heimat Jugoslawien und Ungarn keine Zukunft mehr sahen, schufen sie für sich und ihre Landsleute in Bad Niedernau eine neue Heimat. Ab 1963 leiteten sie hier das Sanatorium und den Kurbetrieb mit dem seit 1471 bekannten Heilwasser. Seit der Einweihung der neuen Gedächtniskapelle Unserer Lieben Frau als Mitte ihres Klosters wurde Bad Niedernau 1979 zum Wallfahrtsort. Die Ära nach dem Ableben der Schulschwestern will eine von Zollitsch zusammen mit den noch lebenden Schwestern und Landsleuten aus Filipowa 2013 gegründete „Stiftung Arme Schulschwestern“ in die Hand nehmen. In einem Dokumentationszentrum in den Räumen der Kurklinik soll die Erinnerung an die Geschichte des Bades und der Schwestern sowie die Donauschwaben und ihre Vertreibung insbesondere mit Exponaten aus Filipowa weiterleben und gepflegt werden.

Im gleichen Jahr startete der Erzbischof zusammen mit Landsmann Hans Lauber ein ehrgeiziges Hilfsprojekt unter dem Namen „Dr.-Zollitsch-Akademie e. V.“ und dem Slogan „Glaube, Erinnerung, Zukunft“ mit Sitz in Freiburg. Im Kern geht es darum, den Menschen in Serbien zu helfen, Brücken zu bauen und die Versöhnung zu fördern. Man will Initiativen insbesondere in der Woiwodina unterstützen, die sich für die Rettung und Bewahrung von (kirchlichen) Kulturgütern einsetzen und sie zugänglich machen. Darüber hinaus sollen der Europa-Gedanke, internationale Gesinnung und Begegnungen zum Gedankenaustausch gefördert und ein neuer Gemeinschaftsgeist erzeugt und vertieft werden. Konkret ist an die Errichtung eines Gemeindezentrums in Hodschag als Ort der Begegnung gedacht. Zu diesem Zweck soll die Krankenpflegeschule in Traunstein abgebaut, nach Hodschag transferiert und dort wieder aufgebaut werden.

Als am 6. Mai 2017 im serbischen Bački-Jarak (Jarek) unter großer öffentlicher Anteilnahme und in Anwesenheit von Ministerpräsident Aleksandar Vučić die Gedenkstätte bei den Massengräbern endlich eingeweiht wurde, war selbstverständlich auch das ehemalige Haupt der deutschen Katholiken präsent, dem dieser Ort schrecklichen Leidens am Herzen liegt. 14 Jahre lang hatten sich die einst verfolgten Donauschwaben um diese Gedenkstätte bemüht. Aber erst nach Intervention von Bundeskanzlerin Angela Merkel bei Regierungschef Vučić im Jahr zuvor war die Genehmigung plötzlich erteilt.

Deutliche Worte zum Völkermord an den Deutschen Jugoslawiens findet Zollitsch bei jeder sich bietenden Gelegenheit, sei es in Deutschland oder in der alten Heimat, hat er doch das Elend dieser Zeit selbst erlitten und seine Heimat für immer verloren. Es dauerte sechzig Jahre, bis er seinen Geburtsort erstmals wiedersah. Darauf nahm er auch in seiner Rede Bezug, die er zum Gedenken an „Siebzig Jahre Ende der Lager“ hielt. Es war eine am 14. April 2018 von der Landsmannschaft im Haus der Donauschwaben in Sindelfingen ausgerichtete Veranstaltung. Es lohnt sich, den Wortlaut seiner Erörterungen in voller Länge nachzulesen.

 

Schlussbetrachtung

In Robert Zollitsch tritt uns ein Hohepriester entgegen, der allem Exzentrischen, Weltflüchtigen, Schwärmerischen ebenso abgeneigt ist wie lebensfeindlicher Arroganz und dogmatischer Borniertheit. Seine Integrationskraft pflegt das Verbindende und Dialogische zu betonen, sei es zwischen Glauben und aufgeklärtem Verstand, zwischen Protestanten und Katholiken, zwischen Ost und West. Für ihn bilden das Religiöse und das Profane keine unversöhnlichen Gegensätze, für ihn verweisen Spiritualität und Philosophie fruchtbar aufeinander. Bei aller Frömmigkeit steht er auf dem Boden der weltlichen Tatsachen, bei aller Glaubensfestigkeit widmet er sich nüchtern und zupackend den Problemen der Gegenwart. Dabei ist die Kirche für ihn immer eine reformbedürftige, wenn sie auch substanziell unverändert bleibt. Mit Gestaltungswillen und Entscheidungsfreude steht er auch mit 80 Jahren noch mitten im Leben, das für ihn dennoch ein ständiges Gebet mit transzendenter Blickrichtung ist.

Die Kirche soll nach dem Willen dieses Glaubenskünders ihre Stimme vernehmlicher als bisher erheben, auch da, wo sie keine demokratische Mehrheit erwarten kann. Der ehemalige Freiburger Erzbischof und Repräsentant des Deutschen Katholizismus verlangt von der Politik, in die Präambel der europäischen Verfassung den Bezug auf das christliche Erbe des Kontinents aufzunehmen, der seine spirituellen und ethischen Wurzeln nicht preisgeben dürfe. Ohne diese Verwurzelung sei Europa nicht zu verstehen7. Wenn es um die Werte der Gesellschaft geht, auf denen sie ruht und von denen sie lebt, die sie aber nicht selbst garantieren kann, hat die Kirche, obwohl oder gerade weil sie an den Rand des modernen Bewusstseins gedrängt wurde, Unersetzliches zu vermitteln. Diese Option verkörpert Robert Zollitsch als Amtsträger und als Mensch mit gewinnender Zuversicht, erneuernder Tatkraft und Maßstäbe setzender Glaubwürdigkeit.

 

Anmerkungen: 

1) Peter Wensierski, Stefan Berg: Es wäre eine Revolution (Gespräch mit Erzbischof Robert Zollitsch). In: Der Spiegel. Nr. 8, 2008, S. 54–55, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-55854225.html

2) Lucas Wiegelmann: Erzbischof Zollitsch ist neugierig auf den Himmel, Die Welt v. 29.12.2013,

https://www.welt.de/politik/deutschland/article123359207/Erzbischof-Zollitsch-ist-neugierig-auf-den-Himmel.html

3) Begegnung, Erinnerung, Dank. Predigt beim Pontifikalamt zur Totenehrung der Donauschwaben in der katholischen Kirche „Zur heiligsten Dreifaltigkeit“ in Sindelfingen am 4. Dezember 2004

4) Festpredigt bei der 47. Gelöbniswallfahrt in Altötting am 8./9. Juli 2006, Auszug in: Filipowa’er Heimatbriefe 67/2006, S. 19 f.

5) Erinnerung auf dem Weg in die Zukunft. 60. Jahrestag der AVNOJ-Beschlüsse, Berlin, Preußischer Landtag, 24. November 2004, in: Gerhardsbote. Mitteilungsblatt des St. Gerhards-Werkes e. V. und des Südostdeutschen Priesterwerkes, 50. Jg., Jan. 2005, Nr. 1, S. 3–5

6) Aus Leidenschaft für Christus mitleiden mit den Menschen. Predigt beim Kirchweihfest der Ortsgemeinschaft Filipowa zu Ehren der Patrone der einstigen Pfarrkirche, der Apostel Philippus und Jakobus, in der Pfarrkirche Chieming, 1. Mai 2005, abgedruckt in: Filipowa’er Heimatbriefe 65/2005, S. 42–46

7) Aus der Hoffnung leben – Zukunft gestalten. Pontifikalamt zum Jahresschluss, Münster Unserer Lieben Frau Freiburg, 31. Dezember 2007

 

Autor:

Stefan P. Teppert, geboren 1956 in der donauschwäbischen Kolonie Entre Rios im südbrasilianischen Bundesstaat Paraná, wuchs in Gosheim / Kreis Tuttlingen auf. Studium der Philosophie, Germanistik und Geschichte in Freiburg, Wien und Tübingen. Schrieb danach als freier Feuilletonist u. a. für den „Rheinischen Merkur“, die „Esslinger Zeitung“, „Universitas“. und die Zeitschrift „MUT“. 1987–1988 Redakteur im MUT-Verlag. 1988–1999 Bundeskulturreferent der Landsmannschaft der Donauschwaben. Seither freier Journalist, Redakteur, Autor, Herausgeber.