Erinnerungskultur im Gespräch der Nationen und Generationen

In ihrer dritten gemeinsamen Jahrestagung hatten die „Gemeinschaft evangelischer Schlesier“ und das „Heimatwerk Schlesischer Katholiken“ am 1./2. Februar 2025 in den Erbacher Hof in Mainz geladen, um 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs „Erinnerungen an Schlesien im Gespräch der Generationen“ zutage zu fördern.

Generalsuperintendent i. R. Martin Herche aus Görlitz, Vorsitzender der Gemeinschaft evangelischer Schlesier, sowie Dr. Bernhard Jungnitz aus Holzwickede, Vorsitzender des Heimatwerks Schlesischer Katholiken, begrüßten die Teilnehmer und freuten sich über einen mit über 70 Teilnehmern gut gefüllten Saal. Sie zeigten sich zufrieden über ihre Allianz und optimistisch, das erfreuliche Miteinander auch künftig zu pflegen und hatten sich selbst auf die Tagungsordnung gesetzt, um Rechenschaft über ihre Aktivitäten abzulegen und sie zu hinterfragen.

Den Tagungsorganisatoren war es gelungen, nicht nur eine namhafte Referentin aus Tschechien einzuladen, nicht nur die Erlebnisgeneration zu Wort kommen zu lassen, sondern auch Kinder, Enkel, Nichten und Neffen von Flüchtlingen, Vertriebenen und Spätaussiedlern. Es galt herauszufinden, was die vormals an Leib und Leben unmittelbar Bedrohten, die vom Verlust ihrer Habe und Heimat direkt Betroffenen den nachfolgenden Generationen mitgeteilt oder auch verschwiegen und in sich vergraben haben. Was davon haben die Jüngeren aufgenommen und verinnerlicht? Leben sie dieses Erbe heute noch, sind sie davon geprägt und zur sogenannten Bekenntnisgeneration geworden – oder ist die einstige Heimat nur ein ferner, kaum berührender Nachklang?

Im folgenden, von Dr. Matthias Paul, Pfarrer in der Innenstadtgemeinde von Görlitz seit 2020, moderierten „Erzählcafé“ ging es um den Verlust der Heimat und das Ankommen an einem fremden Ort. Drei Vertreter der Erlebnisgeneration äußerten sich dazu. – Annemarie Glinka, deren 75. Geburtstag auf den Tagungssonntag fiel, ist seit acht Jahren pensioniert und versieht das Amt der 1. Stellvertretenden Vorsitzenden des Heimatwerks schlesischer Katholiken. Sie kam 1973 mit ihren Eltern als Spätaussiedlerin nach Darmstadt, erlebte eine gelungene Überbrückung im Jahr ihrer Ankunft und wuchs ohne Integrationsprobleme in die neue Gesellschaft hinein. Sie studierte Praktische Theologie an der Katholischen Fachhochschule in Mainz, wohnte im Seminar und fühlte sich dort integriert und gut untergebracht. Dies und ihre guten Kenntnisse der deutschen Sprache (keine Selbstverständlichkeit nach 22 Jahren in Polen und nur polnischsprachiger Schule) trugen wiederum zur schnellen allgemeinen Integration in die deutsche Gesellschaft bei. Nach dem Studium arbeitete sie 40 Jahre lang bis zu ihrer Verrentung als Gemeindereferentin im Bistum Mainz. Beheimatet fühlt sie sich bis heute in der katholischen Kirche in Schlesien mit ihren zu Herzen gehenden Vesperandachten und Liedern, mit ihrer Marienverehrung. Andererseits stimmt sie die Verarmung in der deutschen Kirche besorgt und traurig, wo sich Messen zu bloßen Wortgottesdiensten zu reduzieren drohen. Aber ihr ist bewusst, dass sich auch in ihrer Heimat Krappitz ein ungünstiger Wandel vollzieht. Ihre Ausreise aus Schlesien sieht sie auch als Ruf Gottes in den Dienst hier in der deutschen Kirche, wo sie gebraucht wurde. Heimat bedeutet für sie, wenn sie mit Menschen in Kontakt kommt, zu Besuch fährt, telefoniert und schreibt, sich austauschen und in regem Kontakt bleiben kann. – Dr. Otfrid Pustejovsky floh mit seiner Familie (nachdem der Vater im März 1945 gefallen war) von Ostrava nach Fulnek und wurde im September 1946 im Zuge der Vertreibung von rund drei Millionen Sudetendeutschen aus der damaligen Tschechoslowakei vertrieben. Ihr Transport nach Westen in den Kreis Miesbach sei Glück im Unglück gewesen, denn vor der Sowjetarmee hatte man größere Angst als vor den Amerikanern, wenngleich von Willkommenskultur keine Rede sein konnte. Pustejovsky studierte Geschichte, Germanistik und römisch-katholische Theologie in München, Wien und Chicago. Hass hatte in seiner Familie keinen Platz. Schon während des Kalten Krieges und seines Schuldienstes pflegte Pustejovsky freundschaftliche Kontakte nach Tschechien und zu Russlanddeutschen. Pakete wurden in die CSSR geschickt und Waisenkinder patenschaftlich betreut. Seit der Wende haben sich seine Kontakte in die alte Heimat intensiviert. Zum Spektrum seiner besonders seit seiner Pensionierung 1996 wissenschaftlich bearbeiteten Themen gehört vor allem die tschechische Geschichte, darunter der christliche Widerstand gegen die NS-Herrschaft. Für seine Verdienste um die deutsch-tschechische Verständigung wurde Pustejovsky 2011 ausgezeichnet. Abgrenzungen hält er für schädlich und plädiert für ein freies Europa mit seinen unterschiedlichen Sprachen. – Christoph Scholz aus Burgwedel wurde 1935 in Groß-Rosen in Niederschlesien geboren, wo sich ein deutsches KZ befand (heute mit organisierten Führungen). Ein Jahr lang musste seine Familie unter Russen und Polen ohne Informationen über ihr weiteres Schicksal ausharren, immer am Rande des Verhungerns. In Obernkirchen im Weserbergland wurden sie problemlos in Kirche, Schule und Gymnasium aufgenommen, nicht als Fremde behandelt, keiner der Einheimischen fragte nach Herkunft und Fluchtgeschichte. Begeistert wurde aber eine Schallplatte mit polnischen Weihnachtsliedern aufgenommen. Scholz studierte alte Sprachen, schlug die Lehrerlaufbahn ein und setzte sich im Jahr 2000 zur Ruhe. Seit 1984 fährt er immer wieder in die schlesische Heimat nach Polen, besuchte die evangelischen Restgemeinden, hat ein gutes Verhältnis zu den polnischen Pastoren. Er betrachtet es als wichtige Aufgabe, den Weg zur Versöhnung zu ebnen, und denkt, wenn man miteinander spricht, herrsche auch Frieden. Die Vertreibung betrachtet er auf menschlicher Ebene als Verbrechen. Der Heimatverlust habe die Menschen in ihrer Existenz bedroht. Als Fügung Gottes sei dies schwer zu begreifen.

Prof. Dr. Rainer Bendel, der Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft katholischer Vertriebenenorganisationen (AKVO) in Stuttgart, stellte die tschechische Kulturvermittlerin und Autorin Kateřina Kovačková vor und führte in ihr Thema „Grundlagen zur Bewahrung und Weitergabe der Erinnerungen“ ein, indem er auf die zunehmend dringende Aufgabe hinwies, Erinnerungen und Erfahrungen zu dokumentieren. Geschichtsschreibung und persönliche Erinnerungen seien allerdings ungleiche Geschwister, die manchmal in einem polemischen Verhältnis zueinander stehen. Mancherlei Initiativen für diese Aufgabe seien bereits am Werk, die nicht zuletzt dabei helfen zu erkennen, dass es auch im polnischen Kontext nicht nur Opfer und heroische Verteidiger des Vaterlandes gibt, sondern auch Verbrechen und Täter.

Kateřina Kovačková studierte Germanistik, deutsche Literatur und Kunsterziehung in Böhmen, Bayern und Berlin, promovierte über die Figuren der „Anderen“ an der LMU München, gehört heute dem Lehrstuhl für Germanistik und Slawistik an der Philosophischen Fakultät der Westböhmischen Universität in Pilsen an. Sie ist auch im Rahmen der Ackermann-Gemeinde tätig und beschäftigt sich seit Jahren mit dem Thema Deutsche aus Böhmen. Getragen von dem Gedanken, dass persönliche menschliche Schicksale für die Geschichte mehr sensibilisieren als historische Abhandlungen, hat sie zahlreiche Gespräche mit ihren deutschen Landsleuten geführt, ließ sich die Geschichten ihrer Vertreibung erzählen und gab sie in Sammelbänden heraus. Diese Lebenserinnerungen stellte sie auch dem Audio-Archiv namens Pamêť národa (Memory of Nations) zur Verfügung. Dieses große tschechische Geschichtsprojekt, so Kovačková, mit dem deutlichen Unterschied zur polnischen Parallelorganisation, dass es unabhängig vom Staat ist, wurde von der tschechischen NGO Post Bellum ins Leben gerufen, ist organisch aus der Zivilgesellschaft gewachsen, getragen von mehreren Institutionen und finanziert aus Crowdfunding. Die vielstimmige, kontinuierlich erweiterte Sammlung persönlicher Erfahrungen, mit über 10.000 Zeitzeugen-Interviews heute eines der größten Archive Mitteleuropas, diene als kollektives Gedächtnis, das uns alle verbindet. Es soll die Geschichte Europas und damit auch die Geschichte der Vertriebenen bewahren. Das Archiv umfasst die Erste Tschechoslowakische Republik (1918-1938), die Stalinistische Ära, den Zweiten Weltkrieg, den Prager Frühling, die Samtene Revolution bis in die Gegenwart hinein. Neben Berichten in tschechischer und englischer Sprache seien auch viele in deutscher Sprache zu finden. Erinnerung ist, betonte Kovačková, ein gesamtgesellschaftliches Anliegen. Diese Sammlung sei öffentlich und kostenlos zugänglich, auch für interessierte Laien, werde genutzt von Schülern und Studenten, Wissenschaftlern und Historikern weltweit, ebenso von deutschen Landsmannschaften und Ausstellungsmachern. Man müsse diese lebendigen und authentischen Quellen ergänzend zur offiziellen Geschichtsschreibung, nicht jedoch als Ersatz für sie nutzen. Abschließend forderte die Referentin die Anwesenden auf, nach Möglichkeit auch ihre Erfahrungen dem Archiv mitzuteilen, denn Pamêť národa, mit vielerlei Veranstaltungen präsent in der tschechischen Öffentlichkeit, biete mit seinem umfassenden Ansatz Raum für differenzierte Erzählungen und multiperspektivische Sichtweisen. Sie können Geschichte greifbar machen, Wissen nicht nur weitergeben, sondern auch Bewusstsein schaffen, Korrektiv für Politiker sein, echte gegenseitige Verständigung ermöglichen und den Weg zur Versöhnung erleichtern.

Generalsuperintendent i. R. Martin Herche und Dr. Bernhard Jungnitz sprachen als Vorsitzende ihrer ausrichtenden Organisationen über deren Bedeutung für die Bewahrung und Weitergabe der Erinnerungen an Flucht, Vertreibung und Ankommen an fremdem Ort. – Martin Herche, geboren 1953 im brandenburgischen Wriezen, wuchs in Forst (Lausitz) an der Neiße auf, wo die Kriegsschäden noch deutlich zu sehen waren. Erst mit dem „Kleinen Grenzverkehr“ ab 1972 konnte man nach Bunzlau fahren, für ihn eine fremde Welt, die nicht mit den Erzählungen der Familie übereinstimmte, die seit Jahrhunderten dort zu Hause gewesen war. Als Vertreter der Bekenntnisgeneration wurde Herche 2015 zum Bundesvorsitzenden der 1950 in Darmstadt gegründeten „Gemeinschaft evangelischer Schlesier“ gewählt. Seit 2022 ist er auch Vorsitzender im „Konvent der ehemaligen evangelischen Ostkirchen“. Herche schätzt die „Gemeinschaft evangelischer Schlesier“ wie auch das „Heimatwerk schlesischer Katholiken“, als Expertengruppen für Osteuropa. Seine evangelische Gemeinschaft hat derzeit 360 Mitglieder (das jüngste 22, das älteste 104 Jahre alt) und eine Liste mit 1.100 Adressen. Bei mehrtägigen Jahrestagungen gebe man das schlesische Erbe an eine große Teilnehmerschaft weiter. Schlesische Frömmigkeit und Tradition wird auch in regionalen Arbeitsgemeinschaften mit Gottesdiensten, Tagungen, Vorträgen, Freizeiten und Begegnungsreisen nach Schlesien bewahrt. Die jährlichen Spendensammlungen kamen beispielsweise den Hochwasseropfern im tschechisch-schlesischen Gebiet zugute. Man pflege mittlerweile vertrauensvolle Beziehungen zu den evangelischen Gemeinden in Polen, halte sich an die emotionale preußische Liturgie, gebe zehn Mal im Jahr die Zeitschrift „Schlesischer Gottesfreund“ und hin und wieder Autobiographien bedeutender Landsleute heraus. Man stehe in ständigem Kontakt mit dem Verein für Schlesische Kirchengeschichte e. V., setze sich für die Erhaltung von Stätten der Erinnerung und für die Einrichtung von Archiven für den Erhalt des Erbes ein. Das geschieht auch durch die beiden evangelischen schlesischen Stiftungen, zwei „Kinder“ der Gemeinschaft. – Dr. Bernhard Jungnitz aus Holzwickede, Kind schlesischer Eltern, 1952 in Krankenhagen/Weserbergland geboren, früher Amtsarzt in Unna, ist seit 2015 Vorsitzender des „Heimatwerks Schlesischer Katholiken“. Er schilderte, wie diese Organisation von Ende 1958 bis Anfang der sechziger Jahre zunächst als eine Arbeitsgemeinschaft in Form eines Dachverbands für die schon bald nach der Vertreibung aus Schlesien sich etablierenden katholischen Vereine wie die Eichendorffgilden, den Verein der Schüler, Absolventen und Lehrer des ehemaligen Breslauer katholischen Jungengymnasiums St. Matthias und andere Gruppierungen gegründet worden ist. Schon vor der Gründung des Dachverbands gab es Kontakte zur Gemeinschaft evangelischer Schlesier. Als Rechtsträgerverein, u. a. für die Abwicklung von Geldtransfers u. dgl., wurde alsbald die „Hauptstelle des Heimatwerkes schlesischer Katholiken e. V.“gegründet. Dieser Verein gab sich 2015, nach Wegfall der Dachverbandsstruktur und einer Neufassung der Satzung den Namen „Heimatwerk Schlesischer Katholiken e. V.“. Heute hat das Heimatwerk 50 Mitglieder und ca. 370 Adressen im Postverteiler. Das Heimatwerk ist für Jungnitz eine Anstalt zur Pflege der schlesischen Tradition, die es zu wahren und an die nachfolgenden Generationen weiterzugeben gilt, nicht allein mit Tagungen und Publikationen (z. B. den zweimal jährlich erscheinenden „Info-Brief“ sowie Erscheinungen über die Geschichte des Heimatwerks und dessen Tagungen), sondern auch etwa seit acht Jahren mit Wandertagen und Ausflügen in Schlesien, die an die einst beliebten Wallfahrten anknüpfen und zu denen Jungnitz nicht nur (aus Schlesien stammende) Deutsche, sondern auch Polen einlädt und sie zuweilen mit Leitthemen zu gestalten sucht. Kulturpflege betrieb Jungnitz auf frischer Wohltat, indem er alle auf der Bühne auftretenden Teilnehmer mit „Liegnitzer Bomben“ (einer mit Schokoladenguss überzogene Pfefferkuchen-Spezialität aus braunem Lebkuchen mit einer Frucht-Marzipan-Füllung) beschenkte. Seit 2010 gibt es als Kind des Heimatwerks auch die in Münster gegründete und vom dortigen Generalvikariat beaufsichtigte Clemens-Riedel-Stiftung, die Zuschüsse für Literaturtransfer und Forschungsarbeiten mit schlesischer Thematik vergibt.

V. l. n. r.: Pfr. i. R. Andreas Laengner, Kateřina Kovačková, Gregor Freudrich, Benjamin Beutler, Sophia Göbel, Ute Lorek, Dr. Matthias Paul.

Im letzten Themenblock dieser Tagung befragte Pfr. i. R. Andreas Laengner (* 1958) aus Rüscheid die Kinder und Enkel von heimatvertriebenen Eltern und Großeltern, wie sie deren Erinnerungen an den Verlust der Heimat und den Neubeginn in der Fremde erlebt haben. Darüber hinaus wollte er erfahren, welche Bedeutung sie diesem Schicksal zumessen, ob es in ihrem Leben immer noch eine Rolle spielt. Auch Kateřina Kovačková gesellte sich zu dieser Runde und antwortete als Tschechin auf seine Fragen. – Für Pfr. Matthias Paul (* 1974) aus Görlitz war die Verbindung nach Schlesien über die Großeltern väterlicherseits (Glogau und Zobten) gegeben. Thematisiert worden sei deren Herkunft aber nur in der Familie, unter Nachbarn und in der Kirche. Als Kirchenhistoriker wisse er darum, wie wandelbar Erinnerungen sind, was die Rückbindung an Quellen unerlässlich macht. Bei seiner Großmutter, die als Witwe allein die Flucht antreten musste, dann den Bruder ihres verstorbenen Mannes heiratete und noch vier Kinder gebar, seien die Erinnerungen an die alte Heimat immer dann aufgebrochen, wenn es in der Familie kriselte. Die städtisch aufgewachsene Großmutter habe darunter gelitten, in einem Dorf ohne Perspektiven gefangen zu sein. Um diesen enormen Abstieg von gepflegter Bürgerlichkeit wettzumachen, habe sie den Umzug nach Görlitz durchgesetzt. Einer Illusion sei Paul als Kind aufgesessen, als er von dem verehrten Schlagersänger Heino erwartete, dass er Schlesier sei. Angesichts der Frage, was man den eigenen Kindern mitgeben soll, wäre die Beschäftigung mit dem Thema „Heimat“ seiner Meinung nach ein spannendes Tagungsthema, aus dem sich andere Chancen ergeben würden als vor 80 Jahren, als die Grenzen geschlossen und Austausch unmöglich waren. Beim Thema heutiger Flüchtlinge könnten, so Paul, die Erfahrungen der Vorfahren vielleicht nicht das Urteil verbessern, aber doch sensibilisieren. – Die Eltern von Ute Lorek (* 1966 bei Freudenstadt) kamen beide aus Schlesien, was ihr von Kindesbeinen an präsent gewesen sei, auch wegen der sieben Geschwister ihrer Mutter, die neben ihrer Heimat auch die Sprache verloren habe. Die Familiengeschichte war anfangs geprägt von Sorge, wieder zusammen und Wohnraum zu finden. Die Eltern waren in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Im Stuttgarter Westen fand der Großvater als Schneider schnell eine geräumige Wohnung, wo die ganze Großfamilie mit acht Kindern unterkam und wo auch ständig Besucher aus Schlesien gastierten. Der Vater kam 1948 als Kriegsteilnehmer aus russischer Gefangenschaft mit seinen traumatischen Erlebnissen nach Stuttgart, fing sofort an, als Kaufmann zu arbeiten, gründete Anfang der 60er Jahre im Landkreis Freudenstadt ein eigenes Geschäft und eine Familie, brachte es zu Wohlstand, fand jedoch in dem pietistischen Dorf keinen Anschluss. Nie gab es einen Moment des Innehaltens. Die Trauerbewältigung blieb auf der Strecke, was viel Konfliktpotenzial in sich barg. Lorek, die heute in Esslingen lebt, wies auf den Buchtitel von Alexander und Margarete Mitscherlich „Die Unfähigkeit zu trauern“ (1967) hin. Emotionale Äußerungen führten, wenn sie nicht ganz ausblieben, zu Konfliktsituationen. Daher wurde kaum gesprochen. Die Eltern waren sozial isoliert, hatten keine Freunde, haben sich nicht wieder verwurzeln können. Bei den geliebten Maiandachten in der Wallfahrtskirche Weggental (bei Rottenburg) sei die Mutter stets tränenüberströmt gewesen. Beim Vater seien erst an seinem Lebensende die alten Ängste durchgebrochen. Heute versteht die Tochter ihre Eltern besser und kann sie als Opfer ihres Heimatverlustes sehen. Für Familien mit solchem Hintergrund sollte, Ute Loreks Auffassung zufolge, die Integration unbedingt von psychologischer Betreuung begleitet sein. – Sophia Göbel (* 1981) aus Troisdorf, Tochter von Dr. Bernhard Jungnitz, bewahrt als frühe Erinnerung den Besuch der Großeltern im Weserbergland. Es wurden Lieder gesungen, die bewegend waren für die Älteren. Vor zwei Monaten habe sie ihre Oma zuletzt besucht. Deren Mutter war auf der Flucht gestorben. Ein wiederkehrender Traum bei ihr sei die offene Tür und bedrohlich vorrückende Russen. Aus Erzählungen ihres Großvaters wisse sie von dessen schöner Kindheit und seinem hart verdienten Geld. Vor elf Jahren bei einem Besuch der Familie in Schlesien standen sie vor dem verlassenen Hof des sonst lebenslustigen Großvaters, der dabei ganz still wurde und Tränen in den Augen hatte. Dieses Erlebnis zeigte mir, so Göbel, was ich alles nicht weiß. Sie habe, nicht zuletzt durch das Ferienhaus ihres Vaters in der Herkunftsregion der Familie, kein abstraktes, sondern ein schönes und versöhnliches Bild von Schlesien. Ihrem Vater sei die Familiengeschichte wichtig gewesen, dennoch sei seine Heimat Holzwickede, wo auch ihre Wurzeln liegen. Zum Thema Flucht und Vertreibung habe sie keine persönliche Erfahrung, pflege aber durch ihren pädagogischen Beruf ohnehin einen sensiblen Umgang damit. – Benjamin Beutler (* 2006) aus Görlitz hat durch seine Großmutter eine Beziehung zu Schlesien, obwohl bei Familienfeiern nicht viel darüber gesprochen wurde. Seine Mutter habe ihre Eltern wegen eines offensichtlichen Schmerzes nie dazu befragt. Daher habe es wenige Anknüpfungspunkte gegeben. Die Urgroßmutter war mit ihrer zweijährigen Tochter und ihren Eltern mit Leiterwagen vor den Russen nach Görlitz geflohen, nicht sehr weit von dem Ort, wo sie zuvor gelebt hatten. In den 60er Jahren seien sie zu ihrem einstigen Haus zurückgekehrt und freundlich aufgenommen worden. Seine prägendste Erfahrung sei die Aussage seiner Oma gewesen, so der Enkel, dass dies sein Zuhause hätte sein können. Schlesien übe eine Anziehung und Faszination auf ihn aus, lasse ihn nicht los. Dass er dort Wurzeln habe, finde er passend ausgedrückt. Es sei ein Teil von ihm, der da ist und bleibt. Man verlasse seine Heimat nicht ohne triftigen Grund. Daher müssten wir heute versuchen, entwurzelten Menschen wieder Heimat zu geben. – Gregor Freudrich (* 2007) aus Görlitz ist durch seine Urgroßeltern sowohl mütterlicher- wie auch väterlicherseits mit Schlesien verbandelt. Sein Vater wurde 1944 geboren und kurz danach auf die Flucht von Liegnitz mitgenommen. Er konnte daher nicht viel erzählen. Die Großmutter habe aber Memoiren von der Fluchtgeschichte hinterlassen. Die Urgroßmutter sei mit drei verbliebenen Geschwistern aus dem Kreis Kreuzburg in einen Ort westlich von Görlitz gekommen. Sie hatten anfangs Hoffnung, das alte Gehöft wieder in Besitz nehmen zu können. Dort war aber mittlerweile eine polnische Familie eingezogen, mit der man sich zwar verstand, dann kam aber die endgültige Vertreibung nach Gotha, wo das Leben mit starkem wirtschaftlichem Anfang gut funktionierte und ein zentraler Punkt der mütterlichen Familie entstand. Man habe daher mit dem Verlust des Hofes in Schlesien gut abschließen können, bis in der damaligen DDR die Welle der Zwangsenteignungen und die Überführung in LPGen begann. Man litt unter dem Unrechtsregime, hatte viele Schwierigkeiten, die sogar einen Suizid verursachten. Für ihn, so Freudrich, habe Schlesien im Alltag keine echte Präsenz, trotz seiner Nähe zu Görlitz. Wenn auch die Geschichten ihn faszinieren, präge ihn die Herkunft der Familie nicht groß. Aber gerade deutsche Geflüchtete müssten angesichts der abscheulich populistischen Debatte um die Migration Flagge zeigen. – Nicht ohne Understatement bemerkte die 1981 in Pilsen geborene Tschechin Kateřina Kovačková, sie komme sozusagen von der „Täterseite“. Ihre Urgroßeltern seien als junge Menschen 1946 in das damals noch nicht ganz von Deutschen entleerte Sudetenland gekommen, um sich eine bessere Existenz aufzubauen. Ihre Ferien habe sie dort verbracht, wusste aber zunächst nicht, warum das Land ringsum so vernachlässigt war. Erst als sie die gepflegten Dörfer in Südböhmen sah, wo kein Bevölkerungstransfer stattgefunden hatte, stellten sich ihr erste Fragen. Gemäß damals herrschendem Narrativ kamen und gingen die Deutsche mit Hitler. Die Tschechen wurden nach dem Krieg einer umfassenden Gehirnwäsche unterzogen. Revanchismus und Ressentiments gegen alles Deutsche wurden immer wieder aufgeladen. Echtes Wissen war nicht vorhanden. Die am meisten indoktrinierte Generation sei die im Sozialismus aufgewachsene ihrer Eltern gewesen. In den Jahren 2008 und 2009 fragte die Germanistik-Studentin mit ihrem neuen historischen Wissen ihre Großmutter nach dem emotionsgeladenen Thema aus und erfuhr von der wortkargen Frau, dass sie mit den damals noch nicht vertriebenen Deutschen trotz Sprachbarriere ausgekommen seien, wenn auch der kleine Mann gegen die strukturelle Gewalt nichts ausrichten konnte. Sie wolle, sagte Kovačková, nicht so deprimierend schließen. Hoffnung entstehe aus Lebensgeschichten, und wir seien in erster Linie alle einfach nur Menschen. Sie sei froh, hier zu sein und von Schlesiern lernen zu können.

Wie es sich für christlich orientierte Menschen versteht, wurde diese Tagung von Geistlichen und Gottesdiensten, von frommen Gesängen, Gebeten und Fürbitten begleitet, zuerst am Samstag von einem Abendsegen durch Klaus Röhrbein aus Langenhagen, dann am Sonntagmorgen von einer Heiligen Messe in der St. Bernhards-Kapelle des Erbacher Hofs, schließlich ebendort von einer Ökumenischen Abschlussandacht mit Generalsuperintendent i. R. Martin Herche und Pfarrer Gundolf Brosig.

Die dritte gemeinsame Tagung der evangelischen und katholischen Schlesier muss als erfrischend und voller Erfolg bezeichnet werden. Dass die jüngeren Generationen einbezogen und nach den von ihren Familien geteilten Erinnerungen befragt wurden, ist ein Zeichen der Hoffnung und kann anderen Vertriebenengruppen vielleicht gar als gutes Beispiel dienen.

Stefan P. Teppert

Die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen trauert um den am 22. Februar 2025 unerwartet verstorbenen, mit ihr durch zahlreiche Projekte verbundenen Autor und Herausgeber Stefan Teppert, einen profunden Kenner und unermüdlicher Erforscher der Geschichte und Kultur der Donauschwaben, insbesondere der neueren Literatur der Volksgruppe. Nach Tätigkeit als freier Journalist und Verlagsredakteur war er von 1988 bis 1999 hauptamtlicher Kulturreferent der Landsmannschaft der Donauschwaben. Mit der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen realisierte der freie Autor zahlreiche Projekte wie Fachtagungen, Ausstellungen und Publikationen. Er versorgte sie bis vor wenigen Tagen mit Berichten über kulturelle Veranstaltungen, auch über den Bereich der Donauschwaben hinaus. Er wird der Kulturstiftung mit seiner engagierten, gleichwohl stets freundlichen und bescheidenen Art sehr fehlen.

Über sein Leben und seine Tätigkeit berichtete er erst unlängst in einen auführlichen Interview mit Brunhilde Forro https://www.youtube.com/watch?v=f1wM6Xk5dxk&t=2040s