Rede von Oberbürgermeister a. D. Dr. Alfred Dregger am 27. Februar 1971 in der Bonner Beethovenhalle

Herr Präsident, meine Damen und Herren!

A.

  1. Sie als Heimatvertriebene sind von der „neuen Ostpolitik“ mehr als andere betroffen. Mir blieb der Verlust der Heimat erspart. Aber als Politiker, der dem nationalen Schicksal seines Volkes und der Freiheit ganz Europas zutiefst verpflichtet ist, erhebe ich mit Ihnen meine Stimme. Es ist bitter, zu sehen, wie die jahrzehntelange Gemeinsamkeit in dieser Schicksalsfrage ohne Not über Bord geworfen wurde. Es ist tragisch, zu erkennen, dass schon 17 Monate „neuer Ostpolitik“ genügt haben, einen ständig breiter werdenden Graben durch unser Volk zu ziehen. Wir können ihn nicht dadurch zuschütten, meine Freunde, dass wir uns einer Politik anpassen, die wir für verhängnisvoll halten. Verhängnisvoll für ganz Europa, auch für Mittel- und Osteuropa, mit dessen freiheitsliebenden Menschen wir uns verbunden fühlen. Die Pflicht zu reden, ehe es zu spät ist, steht weit über parteipolitischen Bestrebungen und Loyalitäten. Ich bezeuge daher tiefen Respekt vor der Haltung jener Politiker, die ohne Rücksicht auf eine Parteilinie ihrem Gewissen folgen. Gerade in Ihrem Verband gibt es rühmliche Beispiele.

Ebenso klar muss gesagt werden, dass unser nationales und europäisches Anliegen nicht von denen mitgetragen wird, die sich nicht klar zu unserer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie bekennen und Methoden anwenden, die außerhalb dieser Ordnung stehen. Daran darf es keinen Zweifel geben: Für die Freiheit Deutschlands und Europas einzutreten, ist die Sache von Demokraten.

  1. In dem Konflikt, der Deutschland und Europa teilt, stehen sich nicht Völker gegenüber. Es ist nicht ein Kampf, der zwischen Deutschen und Polen, zwischen Tschechen und Russen ausgetragen wird. Kontrahenten dieses säkularen Weltkonflikts sind das Lager des Sozialismus und das Lager der Freiheit. In ihm geht es letztlich um die politische und gesellschaftliche Ordnung Europas und der Welt.
  2. a) Unter Sozialismus ist in diesem Zusammenhang nicht das zu verstehen, was Ulbricht als „Sozialdemokratismus“ auf das schärfste bekämpft. Unter Sozialismus ist in diesem Zusammenhang vielmehr das System zu verstehen, das sich in der russischen Oktoberrevolution von 1917 politisch verwirklichte und sich seitdem gewaltsam über große Teile Europas und der Welt ausgebreitet hat. Sein Wesen besteht in der absoluten Unterordnung der sozialistischen Staaten unter ein Staatenkollektiv, unter das von der Sowjetunion beherrschte sozialistische Lager, wie es in der Breschnew-Doktrin formuliert und 1968 in dem Überfall auf die ČSSR praktiziert worden ist.
  3. b) Für das Lager der Freiheit sind demgegenüber die verfassungsmäßig verbrieften Grundrechte kennzeichnend, die dem Menschen auch gegenüber dem Staat einen Freiheitsraum und damit das sichern, was wir als die unantastbare, weil von Gott geschenkte Würde der Menschen bezeichnen. Schutz des Individuums vor staatlicher Willkür sind Kennzeichen unserer Ordnung.

Das, was die beiden Welten trennt, ist nicht eine Grenze, sondern das Zwangssystem drüben. Das, was Moskau und Ulbricht auf Abgrenzung sinnen lässt, ist die Tatsache, dass die Unfreiheit zum Wesen ihres Systems gehört, dass also die Menschen die Freiheit wählen, solange es ein freies und frei zugängliches Land gibt.

  1. Die geistige Trennungslinie zwischen diesen beiden Systemen verläuft nicht am Eisernen Vorhang. Auch auf unserer Seite gibt es Kräfte, die die Freiheit und ihre Errungenschaften, nämlich die freiheitlich-rechtsstaatliche Demokratie und die marktwirtschaftliche Ordnung, verachten und den Sozialismus erstreben. Diese Kräfte finden ihren Rückhalt nicht nur in der KPD. Der dramatische Verzicht des Münchener Oberbürgermeisters Vogel auf sein Amt hat die innerdeutsche Szene schlaglichtartig erhellt.

Auf der anderen Seite gibt es ungezählte Menschen im Machtbereich des sozialistischen Lagers, die der Freiheit anhängen, bewusster als viele Bürger des Westens, die die Freiheit atmen, ohne sie zu spüren. In keinem Land des sozialistischen Lagers ist dieser Sozialismus in freien Wahlen zur Macht gekommen. Wenn sich die Opposition gegen ihn nicht stärker rührt, dann nicht deshalb, weil sie nicht vorhanden wäre, sondern weil sie durch brutalen Terror unterdrückt wird.

  1. In der Bundesrepublik und in der freien Welt gibt es viele, die diese Tatsachen nicht erkennen oder nicht erkennen wollen.
  2. a) Die einen erkennen sie nicht, weil sie in grenzenloser Einfalt auf den Leim sowjetischer Friedensbeteuerungen kriechen.
  3. b) Andere wollen die Gefahren schon deshalb nicht erkennen, weil ihre Zielvorstellungen entweder mit denen der Sowjets übereinstimmen oder weil sie als Sozialisten zumindest von einem unterschwelligen Solidaritätsgefühl zu denen getragen sind, die auch vorgeben, den Sozialismus verwirklichen zu wollen. Die Erinnerungen an gemeinsame ideologische Grundlagen mit den Kommunisten werden hier wirksam.
  4. c) Die gefährlichsten Vorstellungen bringen diejenigen in die Ostpolitik ein, die die Konvergenz, die Annäherung der Systeme in Ost und West erwarten oder gar betreiben. Dabei fehlt jede Klarheit über den Punkt, an dem sich die beiden Systeme treffen sollen. Der aber ist entscheidend für den Umfang der Abstriche, die wir nach dieser Vorstellung von unserer heutigen Ordnung machen sollen. Ich bin der Auffassung, dass es keine auch nur einigermaßen wichtigen Elemente unserer freiheitlich-rechtsstaatlichen Verfassung gibt, die als Opfergabe auf den theoretischen Altar der Gemeinsamkeit gelegt werden könnten. Freiheit und Diktatur, soziale Marktwirtschaft und Staatswirtschaft, gesicherte Individualsphäre und kollektiver Zwang stehen wie Feuer und Wasser zueinander und lassen sich nicht auf eine gemeinsame mittlere Linie zurückführen. Im übrigen steht diese westliche Konvergenzvorstellung in eklatantem Widerspruch zur östlichen Theorie der „friedlichen Koexistenz“. Diese schließt nach sowjetischem Verständnis weder revolutionäre Bewegungen noch sogenannte „nationale Befreiungskriege“ aus. Sie soll lediglich den Zusammenstoß der Atomgiganten verhindern. Das Ziel des Umsturzes unserer politischen und gesellschaftlichen Ordnung bleibt davon unberührt. Daraus ergibt sich, dass der Wille zur Konvergenz der Systeme völlig einseitig ist. Was muss eigentlich noch geschehen, um den Tagträumern in unseren Reihen die Augen zu öffnen.
  5. In dieser Beurteilung der Situation und in der Politik, die sich daraus zwangsläufig ergibt, haben die demokratischen Parteien der Bundesrepublik bis zur Bildung der derzeitigen Bundesregierung übereingestimmt. Es gibt nicht nur zahlreiche einstimmig verabschiedete Resolutionen des Deutschen Bundestages, sondern eine Fülle von Zitaten Brandts, Wehners und anderer, die das bestätigen. Mit der Bildung der Regierung Brandt Ende 1969 wurde das Ruder der Ost- und Deutschlandpolitik schlagartig herumgerissen, die Gemeinsamkeit der demokratischen Parteien wurde brüsk aufgekündigt, und eine neue Politik begann.

Ihre ersten Ergebnisse liegen vor. Der Moskauer und der Warschauer Vertrag wurden gegen den Widerstand der CDU/CSU unterzeichnet. Über Berlin verhandeln die vier Mächte, ohne dass ein Ergebnis bisher sichtbar würde. Menschliche Erleichterungen sind an keiner Stelle, weder in Berlin noch an der Zonengrenze bis heute eingetreten.

  1. Besonders fatal an der neuen Politik ist ihr Verhältnis zum Recht. Die Bundesregierung toleriert nicht nur die „Bereicherung“ des Völkerrechts durch sowjetische Interventionsansprüche, sondern gibt auch die eigenen Rechtspositionen, ohne Not und Gegenleistung auf. Viele ihrer Propagandisten, die die Regime in Griechenland, Portugal oder Spanien als rechtlos verurteilen, achten das Recht des eigenen Volkes nicht. Sie verkennen insbesondere, dass das Recht die einzige Waffe des Schwächeren ist. Was uns die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges an Verzichten nicht angesonnen haben – nicht einmal die Sowjetunion –, gibt heute die deutsche Bundesregierung als Ballast weg. Willy Brandt meint, damit werde nichts verschenkt, was nicht schon verspielt worden sei. Was man nicht habe, darauf könne man auch nicht verzichten. Juristischem Formelkram dürfe man nicht zu großen Wert beimessen.

Diese Verachtung für das Recht kann ich nicht teilen. Man kann sehr wohl auf etwas verzichten, „was man nicht hat“. Auch ein Grundstück, das ein Fremder ohne Rechtstitel besitzt, geht erst in dessen Eigentum über, wenn er beim Notar Brief und Siegel darauf erhält. Auch Staaten legen auf diese Rechtstitel besonderen Wert. Nicht ohne Grund kämpfen die Sowjets seit 25 Jahren darum, ihre Kriegsbeute, Annexionen und Massenvertreibungen als rechtsgültig bestätigt zu erhalten. Die Bundesregierung erweist mit dieser Haltung nicht nur ihre Geschichtslosigkeit – man denke etwa an den Kampf des polnischen Volkes um seine nationale Einheit –, sondern auch ihre mangelnde Bereitschaft, um deutsche Positionen zäh zu ringen. Sie ist bereit, auf den von Potsdam bis zum Deutschlandvertrag verbrieften Anspruch auf Wiedervereinigung und Regelung territorialer Fragen in einem Friedensvertrag zu verzichten. Wir können hier nur den Wehner des Jahres 1966 zitieren: „Nein, wir wären Strolche … mit dem Preisgeben eines Rechts versündigten wir uns am Nächsten und würden uns selbst schwer schaden …“

 

B.

Die schädlichen Folgen dieser Politik sind kaum absehbar.

  1. Mit der Anerkennung der Grenzen und der Aufnahme in die UNO, die im Bahr-Papier zugesichert wurde, wird das Ulbricht-Regime außenpolitisch, damit aber auch innenpolitisch konsolidiert. Es setzt Zeichen für das Zusammenleben der Völker, wenn eine demokratische Regierung sich nicht scheut, unter Hintanstellung aller politischen Moral ein mit ihr konkurrierendes Unrechtssystem als legal anzuerkennen. Der sich daraus ergebende Schluss, dass eine Gewaltherrschaft nur lange genug dauern muss, um ebenbürtig zu werden, wird auch anderswo verheerende Folgen haben. Da der Moskauer Vertrag sich nicht auf die deutsch-sowjetischen Beziehungen beschränkt, sondern den Status quo in ganz Europa anerkennt, legitimiert er zugleich die Herrschaft der Sowjetunion über Osteuropa. Mit bemerkenswerter Kaltschnäuzigkeit überlässt die Politik die Osteuropäer ihrem Schicksal. Und wie das aussieht, haben die Aufstände in Mitteldeutschland, in Ungarn und jüngst in Danzig, Zoppot und Stettin gezeigt, in denen wieder einmal eine Regierung der Arbeiterklasse auf Arbeiter schießen ließ, die für etwas mehr persönliches Glück, für etwas mehr Lohn, für etwas mehr Freiheit eintraten.

Diese Politik hilft nicht den unterdrückten Völkern Osteuropas; sie hilft ihren Unterdrückern.

  1. Diese Politik gefährdet zugleich den Zusammenhalt des westlichen Lagers. Sie vernebelt die Wirklichkeit und verharmlost die Macht und die Ziele des roten Imperialismus, an dessen Grenze wir leben. Die Bundesregierung versucht, die Sicherheit Deutschlands auf Papier zu bauen. Das geschieht gegenüber einer Macht, die keinen Vertrag und keine Abmachung je länger gehalten hat, als es ihr aus Gründen des eigenen Vorteils nützlich erschien.

Nur die Verkennung des expansiven Charakters der Sowjetpolitik kann zu der unzulässigen Gleichung von Adenauer = erfolgreiche Westpolitik und Brandt = Versöhnung mit dem Osten führen. Während zu unseren westlichen Verbündeten nicht nur die Übereinstimmung in den Grundfragen von Staat und Gesellschaft besteht, sondern auch die gleichen politischen Grundsätze gelten, fehlt beides im Vergleich mit der Sowjetunion. Die Bundesregierung verkennt den grundsätzlichen Unterschied zwischen Ost und West, der darin besteht, dass jenseits des Eisernen Vorhangs eine Heilslehre vertreten wird, bei deren Durchsetzung die politischen Kategorien des Westens nicht gelten. Während die Bundesregierung in besonderem Maße von der Bewältigung der deutschen Vergangenheit spricht – aus der sich schließlich ergibt, welcher Art eine von messianischem Sendungsbewusstsein erfüllte Politik ist –, leugnet sie mit geschlossenen Augen den gleichen Charakter des sowjetischen Imperialismus. Diese Tatsache ist in dreifacher Hinsicht bedrohend:

  1. a) Ein Volk, das ständig hört, ihm könne auf papierner Grundlage ein Optimum an Sicherheit verbürgt werden, wird auf die Dauer nicht bereit sein, für seine Verteidigung Opfer zu bringen.
  2. b) Wenn eine deutsche Regierung Ziele und Mittel einer so gefährlichen und überall präsenten Macht, wie es die Sowjetunion ist, auf eine solche Weise herunterspielt, muss sich das auch auf die Festigkeit des westlichen Verteidigungsbündnisses auswirken. Die Politik der Bundesregierung setzt damit die Säge an den Hauptpfeiler der europäischen Sicherheit – die amerikanische Truppenpräsenz. Die ohnehin starke isolationistische Strömung in den USA müsste blind sein, wenn sie sich nicht auf die deutsche Bundesregierung als Kronzeugen für den angeblichen Abbau der Spannungen in Europa berufen würde.

Die durch die neue Ostpolitik und die mit ihr verbundene Propagandawelle der Bundesregierung herbeigeführte Unsicherheit im eigenen Volk und bei den westlichen Nachbarn lässt sich heute noch schwer einschätzen. Wir werden sie jedoch noch zu spüren bekommen; vor allem dann, wenn es der Sowjetunion aus taktischen Gründen gefallen sollte, durch geringfügige Zugeständnisse und kurzfristige Ruhe in der Auseinandersetzung mit dem Westen einen trügerischen Frieden vorzuspielen.

  1. c) Noch nicht abschätzbar sind die Wirkungen, die die deutsche Ostpolitik auf die sowjetische Mentalität haben wird. Die dilettantische Art der Verhandlungsführung, das Hasten nach Ergebnissen, das ständige Zurückweichen vor sowjetischen Forderungen und das Sich-Abfinden mit einseitig verpflichtenden Verträgen dürften in sowjetischer Sicht Deutschland – vermutlich ihm nachfolgend auch seine westlichen Verbündeten – zum Papiertiger machen. Ich habe bereits auf die Unterschiede der sowjetischen und der westlichen Politik und Mentalität hingewiesen. Wer nicht begreifen lernt, dass in den Augen sowjetischer Führer Nachgiebigkeit – vor allem die aus reinem Herzen kommende – als Zeichen der Schwäche gedeutet wird, sollte irgendetwas anderes, nur nicht gerade Außenpolitik für unser Land betreiben.

Nachgiebigkeit verführt den Angreifer. Hitler überfiel Polen, weil er England das Festhalten am polnischen Bündnis nicht mehr zutraute. Sein sowjetischer Verbündeter Stalin zog kräftig am anderen Ende des Seils. Woher nimmt diese Bundesregierung ihren Optimismus, dass es ihr besser ergehen könnte? Ihre Aussage, durch die Verträge von Moskau und Warschau sei der Friede sicherer geworden, erinnert fatal an Chamberlain, der nach der Münchener Konferenz mit Hitler erklärte: „Ich glaube, das bedeutet den Frieden für unsere Zeit.“ Wer nicht ständig bedenkt, dass für die Sowjetunion Gewalt oder die Drohung mit Gewalt schlechthin nur dort ausscheidet, wo das damit verbundene Risiko unkalkulierbar wird, begeht einen groben Fehler und gefährdet den Frieden.

  1. Die neue Ostpolitik schwächt aber nicht nur die innere Verteidigungsbereitschaft des Westens. Sie trägt nicht nur die Gefahr in sich, den Expansionsdrang der Sowjetunion zu erhöhen. Sie untergräbt auch die westliche Vertragspolitik.
  2. a) Sie macht den Deutschlandvertrag, durch den sich unsere Verbündeten verpflichten, auf die Wiedervereinigung Deutschlands in Freiheit hinzuwirken, weitgehend gegenstandslos. Noch so kunstvolle Akrobatik kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ostverträge bei ihrer Ratifizierung nicht nur die staatsrechtliche, sondern auch die völkerrechtliche Anerkennung zweier deutscher Staaten und damit die rechtlich sanktionierte Teilung Deutschlands bedeuten.

Damit erhält nicht nur die Bundesregierung, damit erhalten auch unsere westlichen Verbündeten weitgehend Handlungsfreiheit gegenüber der Sowjetunion im Hinblick auf die künftige Deutschlandpolitik.

  1. b) Weil die Sowjetunion den Machtfaktor an ihrer westlichen Grenze nicht wünscht, bekämpft sie seit 20 Jahren die wirtschaftliche und politische Einigung Westeuropas. Dem kam Bundeskanzler Brandt entgegen, als er in London die politische Einigung Westeuropas als Aufgabe der nächsten Generation deklarierte. Dieses unbedachte Wort zeigt besser als alle öffentlichen Erklärungen, dass nach der Logik dieser Politik die Entpolitisierung der EWG die sogenannte gesamteuropäische Lösung – auf der Basis der Konvergenztheorie – ermöglichen soll.
  2. c) Wird die derzeitige Politik folgerichtig fortgesetzt, so muss sie schließlich zur Auflösung der atlantischen Allianz führen. Denn eine von der Sowjetunion gebilligte Friedensordnung in Europa ist nur ohne Präsenz der Amerikaner denkbar.
  3. d) Das ist umso schlimmer, als diese Verträge zusammen mit dem ebenfalls unterzeichneten und noch nicht ratifizierten Atomsperrvertrag die Entstehung eines europäischen Bundesstaates als gleichgewichtigen Partner der anderen Weltmächte praktisch ausschließen. Das freie Europa bleibt damit voll auf den Schutz durch die USA angewiesen, sein Fortbestehen ist keineswegs sicher, wenn der sich ausbreitende Neo-Isolationismus in den USA nicht kurzfristig beendet werden kann.
  4. Der mangelnde Sinn für machtpolitische Faktoren in der Weltpolitik, die fehlende Einsicht in sowjetische Methoden und Motive und die Geringschätzung des eigenen Rechtsstandpunktes treffen brennglasartig bei der Behandlung des Berlin-Problems durch die Bundesregierung zusammen. Die Bundesregierung beweist ihre Unfähigkeit, mit einer taktisch geschickten und entschlossenen Macht ruhig und entschieden umzugehen. Statt deutlich zu erklären, dass es bei den Berlin-Gesprächen nur darum gehen kann, sowjetische Zugeständnisse als bislang fehlende Gegenleistung für deutsche Opfer in den Ostverträgen zu erreichen, wird der eigene Standpunkt immer mehr relativiert. Es geht nicht darum, einen Berlin-Kompromiss mit den Sowjets auszuhandeln. Ziel der deutschen Politik muss es vielmehr sein, über die eindeutige Anerkennung des Status quo hinaus zusätzliche sowjetische Zugeständnisse zu erreichen. In Berlin gibt es keine einzige – und nicht die kleinste – räumbare Position für die Bundesrepublik. Es geht einzig um die Frage, ob die sowjetischen Zugeständnisse ausreichen – verbunden mit Fortschritten in der Regelung der innerdeutschen Beziehungen –, um die in den Ostverträgen ausgesprochenen Verzichte hinnehmen zu können.

Die Bundesrepublik – und falls man ihr im Westen wider Erwarten folgen sollte – auch die Schutzmächte würden mit einem Nachgeben in Berlin in den Augen der Sowjetunion ihre Glaubwürdigkeit endgültig verspielen. Ein nicht abzusehender Schock ginge durch die ganze Welt, wenn um hektischer Entspannungsbemühungen willen auch nur ein Jota Westberliner Freiheit aufgegeben würde. Es gibt keine Beistandsverpflichtung, die so beispielhaft gebrochen werden könnte, wie die zur entschlossenen Verteidigung West-Berlins.

 

C.

  1. Herbert Wehner hat im Bundestag erklärt, zur Politik dieser Regierung bestünde keine Alternative, und wenn die von ihr abgeschlossenen Verträge nicht ratifiziert würden, gäbe es ein politisches Desaster. Er erklärte daher auch unverfroren von Warschau aus, diese Verträge würden ratifiziert, so als ob der deutsche Bundestag nur noch ein willenloses Akklamationsorgan wäre. Dass es eine Alternative zu dieser Politik gibt, kann nicht zweifelhaft sein. Es ist die Politik, die von allen demokratischen Parteien der Bundesrepublik bis zu der Regierungsbildung von 1969 vertreten wurde. Diese Politik war durchaus erfolgreich. Sie hat uns die Freiheit bewahrt und die Freiheit der unterdrückten Völker als Möglichkeit der Zukunft wenigstens nicht ausgeschlossen. Sie hat auch den Frieden gesichert; das freie Deutschland erhielt Schutz im westlichen Bündnis und konnte, da diese Bindung Alleingänge ausschließt, auch von niemandem als Bedrohung empfunden werden.
  2. Die geistige und moralische Grundlage dieser Alternative ist aber in den hinter uns liegenden Jahren nach und nach erschüttert und abgebaut worden. Dem Generalangriff, der auf den verschiedensten Ebenen gegen die Grundlagen unserer freiheitlich-rechtsstaatlichen Demokratie geführt wurde, sind wir nicht mit der Entschlossenheit, mit dem Geschick und der Konsequenz entgegengetreten, die von der Sache her gefordert waren.

Mit reinem Pragmatismus und tagespolitischem Opportunismus können wir die Auseinandersetzung mit dem sozialistischen Lager nicht bestehen. Wir müssen uns vielmehr zuerst und vor allem auf die geistigen und moralischen Grundlagen unserer Politik besinnen und auch für sie in der Öffentlichkeit und insbesondere vor unserer Jugend werben. Wir haben doch wirklich nicht den geringsten Anlass, an unserer guten Sache zu zweifeln. Gestützt auf das Menschen- und Völkerrecht, überzeugt von der Überlegenheit unserer freiheitlich-rechtsstaatlichen und marktwirtschaftlichen Ordnung und entschlossen, unser Recht und unsere Freiheit gegen jede Bedrohung zu verteidigen, müssen wir uns der Auseinandersetzung stellen.

  1. In dieser Auseinandersetzung müssen wir ein langfristiges Ziel haben, das in seinem Anspruch nicht hinter der des sozialistischen Lagers zurücksteht, die keine nationalen Schranken errichtet, sondern alle Europäer diesseits und jenseits des Eisernen Vorhangs einbezieht, eine Zielsetzung, die allen Menschen und Völkern dieses gequälten Kontinents dient. Sie kann nur lauten:

Nicht Sozialismus, sondern Freiheit für ganz Deutschland und ganz Europa.

Das mag manchem als Utopie erscheinen. Es ist aber nicht utopischer als das Gegenkonzept des sozialistischen Lagers. Wer das eigene weit gesteckte Ziel als Utopie abwertet und die Utopie des Gegners als Realität annimmt, hat verloren, ehe die Auseinandersetzung begonnen hat.

  1. Auf dieser Grundlage und mit dieser Zielsetzung gilt es, eine realistische und kluge Politik zu machen.
  2. a) Im Innern der Bundesrepublik müssen wir die Grundrechte und Grundfreiheiten unserer Verfassung immer mehr und immer besser für jeden Bürger dieses Staates verwirklichen. Unsere innere Ordnung muss der sozialistischen in jeder Hinsicht ständig überlegen sein.
  3. b) In der äußeren Politik müssen wir die freie Welt in die Lage versetzen, den Frieden und die Freiheit zu bewahren.
  4. aa) Dazu müssen wir sobald und so weitgehend wie möglich die politische Union der freien Staaten Europas verwirklichen.
  5. bb) Wir müssen ferner die atlantische Partnerschaft stärken. Das schließt aus, dass wir uns an der von der Sowjetunion initiierten und inzwischen weltweit in Mode gekommenen Diffamierung der USA beteiligen. Wir können von den USA auf die Dauer nicht mehr Freundschaft erwarten, als wir ihnen selbst entgegenbringen.
  6. cc) Fest verankert im westlichen Bündnis und überzeugt von der guten Sache, die wir vertreten, müssen wir mit den Kommunisten, mit der Sowjetunion und ihren Satelliten reden und verhandeln wie ein cleverer Kaufmann: geduldig und noch einmal geduldig, hart und nüchtern. Diese Aufgabe wird für eine neue Bundesregierung, von der wir hoffen, dass sie bald die jetzige ablösen wird, nicht leicht sein. Schon die Unterzeichnung der Ostverträge hat auch ohne Ratifizierung die deutsche und die demokratische Position außerordentlich geschwächt. Unser Ziel kann nicht die Konfrontation mit der Sowjetunion sein. Anknüpfungspunkt für neue Verhandlungen mit ihr kann und muss die unterschiedliche Interpretation des Moskauer Vertrages sein, wie wir sie von sowjetischen Regierungsvertretern auf der anderen Seite gehört haben. Die Aufgabe, die sich damit für eine neue Bundesregierung stellt, ist sicherlich außerordentlich schwer. Aber wer überzeugt ist, dass diese Verträge und diese Politik nahezu zwangsläufig zur sowjetischen Hegemonie über Europa führen, kann sich dieser Aufgabe nicht entziehen.

 

D.

Meine Damen und Herren!

Ich komme zum Schlusspunkt.

Ich habe bewusst darauf verzichtet, die Ostverträge einer Kritik im einzelnen zu unterziehen. Das ist mehr als einmal in aller Klarheit geschehen.

Mir kam es darauf an, deutlich zu machen, dass

  1. die gegenwärtige Ostpolitik dabei ist, die geistigen und moralischen Grundlagen aufzugehen, auf denen die freie Welt steht; dass sie
  2. bei Ihrer Fortsetzung nahezu zwangsläufig zur kommunistischen Hegemonie über Europa führen muss; dass
  3. es zu der gegenwärtigen Ostpolitik eine Alternative gibt und dass
  4. diese Alternative weder eng noch nationalistisch noch kleinkariert ist, dass sie vielmehr die Rechte und Interessen aller europäischen Völker und damit auch die des eigenen Volkes einschließt.

Sie, meine Freunde, wurden in den vergangenen Jahren oft diffamiert. Auch heute lassen manche in unserem Lande nichts unversucht, Sie zum Prügelknaben der Nation zu machen. Ich stehe indessen nicht an, von dieser Stelle aus alle Bürger dieses Landes zur Solidarität mit Ihnen aufzurufen.

Denn Sie, die Vertriebenen, sind in besonderer Weise zum Opfer der braunen und der roten Diktatur geworden. Sie gehörten zu den ersten, die aus den Verstrickungen der Vergangenheit den Weg in eine bessere Zukunft aufzeigten. Sie haben keinen Anlass, an sich und Ihrer guten Sache irre zu werden. Im Gegenteil; daran kann es keinen Zweifel geben:

Die Zukunft kann nicht gebaut werden auf der Missachtung des Rechts, auf der Anerkennung der Gewalt und auf der Unterdrückung der Völker. Sie kann nur gebaut werden auf der Grundlage des Rechts, auf der Basis der Freiheit und im Geiste der Solidarität aller Menschen und Völker Europas, auch des großen deutschen Volkes, das wir lieben und zu dem wir uns bekennen und immer bekennen werden.

 aus: DOD Nr. 6/7, 1971

Bild: Konrad-Adenauer-Stiftung