Mit der Vortrags- und Diskussionsveranstaltung „Ukraine – Ein souveräner Staat“ hat die Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Minderheiten in der FUEN (AGDM) am 15. März die Geschichte der Ukraine sowie die Geschichte der deutschen Minderheit in der Ukraine vorgestellt und die aktuelle Lage im Land mit Experten und Betroffenen diskutiert.
An der Diskussionsrunde beteiligten sich neben dem Vorstandsvorsitzenden der Kulturstiftung, Reinfried Vogler, Bernard Gaida, Vorsitzender des Verbandes der deutschen Gesellschaften in Polen (VdG) und Sprecher der AGDM, Johann Thießen, Vizepräsident des Bundes der Vertriebenen (BdV) und Bundesvorsitzender der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland (LmDR), Dr. Dr. h.c. Alfred Eisfeld, Geschäftsführender Leiter des Göttinger Arbeitskreises, und aus der Ukraine zugeschaltet Wolodymyr Leysle, Vorsitzender des Rates der Deutschen der Ukraine (RDU), Alexander Schlamp, Honorarkonsul der Bundesrepublik Deutschland in Czernowitz/Tscherniwzi und Mitglied des Rates der Deutschen der Ukraine sowie Julia Taips, Abgeordnete des Stadtrats von Munkatsch/Mukatschewo, Leiterin der Deutschen Jugend in Transkarpatien und Mitglied des Rates der Deutschen der Ukraine.
Man wolle mit der Veranstaltung informieren, mit einem Abriss über die Geschichte der Ukraine im Gegensatz zu Vladimir Putins verzerrtem, falschen Geschichtsbild den Anspruch der Ukraine ein souveräner Staat auch aus historischer Sicht zu sein wissenschaftlich untermauern und über die Geschichte der deutschen Minderheiten aufklären, so Thomas Konhäuser, Geschäftsführer der Kulturstiftung. Eine anknüpfende, zweitägige historisch-völkerrechtliche wissenschaftliche Fachtagung werde von der Kulturstiftung noch in diesem Jahr ausgerichtet.
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gilbert H. Gornig, Leiter der Studiengruppe Politik und Völkerrecht der Kulturstiftung, referierte einleitend in einem eingespielten Beitrag zur völkerrechtlichen Einordnung der aktuellen Geschehnisse und unterstrich, dass Putin mit seinem Angriffskrieg nicht nur „gegen alle völkerrechtlichen Prinzipien“ verstoßen habe, sondern durch Angriffe auf die Zivilbevölkerung eindeutig auch Kriegsverbrechen zu verantworten hat.
Hunderttausende Menschen werden derzeit zur Flucht gezwungen und versuchen sich in die Anrainerländer der Ukraine zu retten. Durch den von ihm befohlenen Angriffskrieg auf die Ukraine hat Vladimir Putin unvorstellbares Leid über alle Bewohner des Landes gebracht. Die Situation in Charkiw, Mariupol und weiteren Städten in der Ostukraine sei eine humanitäre Katastrophe, sagte Wolodymyr Leysle, der sich aus Sumy, nahe der russischen Grenze, zugeschaltet hatte. Große Sorgen bereite die Lage von in Mariupol verbliebenen mindestens hundert Angehörigen der deutschen Minderheit, erklärte der RDU-Vorsitzende.
Gegenwärtig seien rund 30.000 Flüchtlinge aus der Ostukraine in Czernowitz und „die Zahl der Flüchtlinge wird jeden Tag größer“, erklärte Honorarkonsul Alexander Schlamp. Die Botschaft in Kiew und das Generalkonsulat in Dnipro in der Ukraine seien nicht mehr besetzt. Er sei der einzige von vier Honorarkonsuln, der in der Ukraine verblieben sei, sagte Konsul Schlamp. Er arbeite zurzeit für das Auswärtige Amt für das gesamte Land. Auf Nachfrage, ob Krieg seiner Einschätzung nach ein neues ukrainisches „Wir-Gefühl“ geschaffen habe, erklärte Schlamp, man hätte nicht glauben können, dass man in einem Tag eine so große Zahl der Bevölkerung zusammenbringen könne, die laut sagt: „Wir sind die Ukrainer und wir sind nicht die Russen“.
Julia Taips, Abgeordnete des Stadtrats von Munkatsch und Leiterin der Deutschen Jugend in Transkarpatien, erklärte, dass viele aus der Ostukraine fliehende Mitglieder der Minderheit zunächst in der Westukraine Unterschlupf finden. Die Hilfe der Organisationen der deutschen Minderheit in der Ukraine, die auch mit deutschen Minderheiten in den Anrainerländern kooperiert, mache aber keine Unterschiede unter Hilfsbedürftigen. „Zu uns kommen alle Nationalitäten“, sagte Julia Taips.
AGDM- Sprecher und VdG-Vorsitzender Bernard Gaida berichtete über den Einsatz der Mitgliedsorganisationen in den Ukraine-Anrainerstaaten zur Ersthilfe, Unterstützung und Beratung sowie über die Unterstützung der Berliner AGDM-Koordinierungsstelle, bei der zahlreiche Anrufe eingingen. „Die AGDM ist eine Gemeinschaft von über zwanzig Dachverbänden der deutschen Minderheiten. Unsere Mitgliedsorganisationen helfen natürlich allen Flüchtlingen“.
Die Einrichtungen der deutschen Minderheiten in den Anrainerstaaten der Ukraine sind in die Hilfsmaßnahmen mit einbezogen. So hat beispielsweise auch das Oberschlesische Eichendorff-Kultur- und Begegnungszentrum in Lubowitz/ Łubowice Flüchtlinge aufgenommen. Bernard Gaida erklärte, dass neben der aktuellen Hilfe schon heute aber auch an die Zeit nach dem Krieg gedacht werden müsse, da aufgrund der Zerstörungen eine auf Dauer angelegte Unterstützung der deutschen Minderheit in der Ukraine nötig sein werde.
BdV-Vizepräsident und LmDR-Vorsitzender Johann Thießen erklärte, dass seit Beginn des Krieges die Zusammenarbeit zwischen Bund der Vertriebenen (BdV) und Landsmannschaft sehr eng und abgestimmt ist. Er verwies auf die Erklärung des BdV zur Verurteilung des Krieges sowie die gemeinsame Spendenaktion „Nothilfe für Deutsche aus der Ukraine“, für die nach Deutschland geflüchtete deutsche Minderheit aus der Ukraine. In Migrationsberatungsstellen werde Hilfe für alle Flüchtlinge geleistet und die Landsmannschaft selbst habe darüber hinaus eine Sachspendenaktion für die Menschen in der Ukraine gestartet. Sorge bereiteten mögliche Anfeindungen gegenüber russischsprachigen Spätaussiedlern seitens der Bevölkerung in Deutschland. Dem gelte es durch Aufklärung entgegenzuwirken.
Dr. Dr. h.c. Alfred Eisfeld bedauerte den Bruch im Bewusstsein Russlands. „Die Propaganda hat ganze Arbeit geleistet“, konstatierte Dr. Eisfeld, „Sie hat die Wahrnehmung der Welt in weiten Teilen der Bevölkerung dermaßen pervertiert, dass die Menschen auch heute noch daran glauben, Russland habe die Ukraine gar nicht überfallen.“ In der Ukraine habe die russische Sprache bei seinen Besuchen keine Hürde dargestellt, im Gegensatz zu den Behauptungen russischer Stellen. „Von einem Genozid der russischen Bevölkerung habe ich nirgendwo etwas gesehen“, erklärte Dr. Eisfeld.
Die deutschen Heimatvertriebenen haben, die Schrecken des Zweiten Weltkrieges und der Vertreibung leidvoll in Erinnerung, mit ihrer seit Jahrzehnten betriebenen Politik der Verständigung und des Ausgleiches dazu beigetragen, ein geeintes, friedliches Europa auf der Basis von Partnerschaft freier Völker aufzubauen. Der Schock, der unsere Gesellschaft bewegt, sei deshalb besonders groß, erklärte Reinfried Vogler, Vorstandsvorsitzender der Kulturstiftung und Zeitzeuge der Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg. „Es zeigt sich eben auch, dass Vieles, was zurzeit an Unverständnis herrscht, was es schwer macht, die Entwicklung zu begreifen und zu überlegen, wie das nun weitergehen kann, daher rührt, dass es zu wenig Wissen über die Geschichte und vor allem die Entwicklung in diesem Raum gibt“, sagte Reinfried Vogler.
Mit einem Vortrag über die Geschichte der Ukraine von Dr. Kathleen Beger, Wissenschaftliche Referentin der Kulturstiftung, wurde dieser Mangel aufgegriffen. Der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen liegt in diesem Rahmen das Anliegen der deutschen Minderheiten in Europa besonders am Herzen, die nunmehr in der Ukraine wieder leidvoll betroffen sind, denn Heimatvertriebene und Heimatverbliebene sind zwei Seiten einer Medaille. Mit einem Vortrag über die Geschichte der deutschen Minderheiten im Land ging Matthias Lempart, Referent der Kulturstiftung, entsprechend auf die Geschichte der deutschen Minderheit ein.
Abschließend erklärte Vorstandsvorsitzender Reinfried Vogler, dass die Kulturstiftung nach Kräften das ihr Mögliche an Hilfe auch über das Kriegsende hinaus leisten werde.
77 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, dem auch im Anschluss noch weiteres unermessliches Leid an Flucht und Vertreibung folgte, schien es unvorstellbar, dass sich in Europa derartige Ereignisse wiederholen könnten. Krieg, Flucht und Vertreibung dürfen im Geiste der Charta der deutschen Heimatvertriebenen von 1950 keinen Platz in Europa haben. Einrichtungen der Vertriebenen, wie etwa der Heiligenhof in Bad Kissingen, haben in diesem Geiste bereits Flüchtlinge aufgenommen.
- Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen
Die Pressemitteilung als pdf:
2022-03-15-KS-06-Veranstaltung-Ukraine