Biographie

Seidl, Otto

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
* 3. April 1913 in Graslitz/ Böhmen
† 30. Januar 2013 in Eskilstuna/ Schweden

Otto Seidl wurde am 3. April 1913 in eine sozialdemokratische Familie in Graslitz geboren. 1919 erfolgte seine Einschulung in die Volksschule, worauf 1924 die Bürgerschule folgte. Als er 1927 eine Lehre als Instrumentenbauer begann, war dies der Auftakt zu einer innigen Beziehung zur Musik und zu Musikinstrumenten. Während der Lehre war es ihm möglich, zugleich die Graslitzer Fachschule für Instrumentenbau zu besuchen. Im schuleigenen Symphonieorchester spielte er als Solist die Querflöte und hatte mit dem Orchester immerhin einen Auftritt im Prager Nationaltheater. Das Ende seiner Lehrzeit im Jahre 1931 war gleichbedeutend mit Arbeitslosigkeit. Die Weltwirtschaftskrise hatte die Tschechoslowakei erreicht und betraf vor allem die sudetendeutschen Gebiete der Republik. Vor dieser Entwicklung war auch die Musikinstrumenteindustrie nicht gefeit.

Seidl fand in dieser schweren Zeit Halt in der Arbeiterbewegung, der sich seine Familie schon lange zugehörig fühlte. 1928 war er in die Sozialistische Jugend eingetreten, die Jugendorganisation der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei. Bereits 1930 stieg er zum Vorsitzenden der Graslitzer Jugendgruppe auf. Später erzählte er gern, dass er seine Tätigkeit im Graslitzer Bezirk mit einem Fahrrad wahrnahm, das er sich von seinem Lehrlingslohn gekauft hatte.

In der Weltwirtschaftskrise war das Leben der Familie Seidl von großer Not geprägt. Vater und Sohn erhielten in der Arbeitslosigkeit nur Unterstützung aus dem Notprogramm, das der sozialdemokratische Minister Ludwig Czech aufgelegt hatte. In Heimarbeit verdiente Ottos Mutter ein wenig hinzu. Die Männer sammelten Holz für den Winter. Erst 1935 fand Otto wieder eine Halbtagsanstellung als Instrumentenbauer. Zwei Jahre später heiratete er Franziska Kohlert, die er in der Sozialistischen Jugend kennengelernt hatte. In der Zwischenzeit hatte er auch begonnen, für die Karlsbader sozialdemokratische Tageszeitung Volkswille zu arbeiten.

Diese Geschichte von Not und politischer Arbeit spielte sich ab vor den sich zuspitzenden Ereignissen in der Tschechoslowakei der 1930er Jahre. Befördert durch die Wirtschaftskrise und unter Eindruck des Nationalsozialismus in Deutschland gelang der durch den Ascher Turnlehrer Konrad Henlein gegründeten Sudetendeutschen Partei (zunächst Sudetendeutsche Heimatfront) ein schneller Aufstieg und vor allem ein erdrutschartiger Wahlsieg 1935. Henlein formulierte immer größere nationalpolitische Forderungen. Im September 1938 löste die Sudetendeutsche Partei Unruhen aus, bei denen in den sudetendeutschen Gebieten Zoll- und Postämter angegriffen wurden. Letztlich sollte diese Krise in das Münchener Abkommen münden, demzufolge die sudetendeutschen Gebiete an das Deutsche Reich angeschlossen wurden. Die Unruhen im September ließen zahlreiche sudetendeutsche Sozialdemokraten die Flucht ergreifen. Eine gewisse Sicherheit bot das tschechische Inland. Rund 250 Graslitzer Sozialdemokraten, unter ihnen die Seidls, flohen nach Chodau, das zunächst nicht ans Deutsche Reich fallen sollte. Später wurde die Gruppe nach Mittelböhmen evakuiert und in Flüchtlingslagern untergebracht. Die Tschechoslowakische Republik hatte die Flüchtlinge aus dem Grenzgebiet zuerst sehr bereitwillig aufgenommen, zeigte sich dann aber überfordert, weswegen es immer wieder zur Rückführung von Flüchtlingen in die Sudetengebiete kam. Otto und Franziska Seidl entgingen diesem Schicksal, indem sie aus dem fahrenden Zug sprangen, als sie erkannten, dass der Zug ins Sudetenland zurückfährt. Nach dem Aufenthalt in einem weiteren Flüchtlingslager im Schloss von Vidovice bei Prag, gelangte das Ehepaar Seidl nach einer Zugfahrt durch Polen und den polnischen Korridor am 24. Dezember 1938 per Schiff nach Schweden. Das Glück der Emigration blieb nicht allen sudetendeutschen Sozialdemokraten vergönnt. Ottos älterer Bruder und sein Vater wurden von den Nationalsozialisten festgenommen und in Konzentrationslager verschleppt.

Ihren neuen Lebensmittelpunkt fanden Otto und Franziska Seidl in Eskilstuna.  Hier bot sich Otto eine Anstellung in einem Radiogeschäft und er spielte zugleich im Symphonieorchester der Stadt. 1942 fand er Arbeit in einer Feilenfabrik und bereits nach dem Zweiten Weltkrieg war er tätig in einer Fabrik für Waagen und Lautsprecher.

Die Seidls schlossen sich schnell der Exilorganisation Treuegemeinschaft sudetendeutscher Sozialdemokraten an und Otto wurde 1978 zu ihrem Vorsitzenden gewählt, ein Amt, das er bis zu seinem Tod 2013 innehaben sollte. Die Treuegemeinschaft war nicht nur eine politische Organisation, die sich zur Politik Wenzel Jakschs bekannte, sondern eine Einrichtung zur Selbsthilfe und zur Traditionspflege. Überliefert ist etwa, dass Otto Seidl bei Beerdigungen in Schweden das böhmische „‘s ist Feierabend“ spielte.

Die Bindungen nach Mitteleuropa hat Otto Seidl nie verloren. Er war Initiator der 1961 begründeten Städtepartnerschaft zwischen Eskilstuna und Erlangen. Außerdem ließ es sich Otto nicht nehmen, auch noch im hohen Alter die jährlichen Treffen der Seliger-Gemeinde, der Nachfolgeorganisation der sudetendeutschen Sozialdemokratie, zu besuchen.

Thomas Oellermann (OGT 2023)