Biographie

Arendt, Hannah

Herkunft: Ostpreußen
Beruf: Politikwissenschaftlerin, Philosophin
* 14. Oktober 1906 in Linden, Hannover
† 4. Dezember 1975 in New York

Es ist oft das Schicksal bedeutender Persönlichkeiten, auf Schlagworte reduziert zu werden. So verbindet man mit Hannah Arendt gerne das Diktum von der „Banalität des Bösen“, das aus dem Untertitel ihres Buches Eichmann in Jerusalem. Report on the Banality of Evil (1963) stammt, mit dem sie – wenngleich es heftig umstritten war – weltberühmt wurde.

Zu dieser Zeit war sie in Fachkreisen schon längst als Autorin bedeutender politologischer und philosophischer Werke bekannt: 1951 etwa war The Origins of Totalitarianism (dt. Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 1955), 1958The Human Condition (dt. Vita activa oder vom tätigen Leben, 1960) und im selben JahrRahel Varnhagen. The Life of a Jewess (dt. Rahel Varnhagen: Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik, 1959) erschienen.

Weniger bekannt ist in der breiteren Öffentlichkeit, daß Hannah Arendt ihre ganze Jugend in Ostpreußen verbracht hat. Geboren wurde sie 1906 im Hannoverschen als einzige Tochter des Ingenieurs Paul Arendt und seiner Frau Martha, geb. Cohn. Mit drei Jahren kam sie aber nach Königsberg in Preußen, wohin ihre Eltern, die beide aus bekannten Königsberger jüdischen Familien stammten, 1909 zurückkehrten. Martha Cohns Großvater hatte ein Teeimport-Unternehmen gegründet, das unter der Leitung seines Sohnes Jacob unter dem Namen J.N. Cohn & Co. zu einem der bedeutendsten Teehandelszentren des Kontinents und zum größten Unternehmen der Stadt wurde. Hannahs Großvater väterlicherseits, Max Arendt, war Mitglied des „Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens“, Präsident der liberalen jüdischen Gemeinde und Stadtverordneter Königsbergs. Beide Familien gehörten dem Reformjudentum an und standen geistig in der Tradition der Aufklärung; so waren Hannahs Eltern seit ihrer Jugend in der sozialdemokratischen Bewegung tätig und von den Ideen der Jugendbewegung und einer fortschrittlichen Erziehung geprägt.

Hannah Arendt wuchs im vornehmen Hufen-Viertel auf: „Die Hufen-Kinder waren anders als die Stadtkinder. Besser gekleidet, mit moderneren Eltern, die meistens auch wohlhabender waren. Sie spielten andere Spiele, weil sie Gärten hatten,“ berichtet der Schriftsteller Max Fürst in seinen Erinnerungen mit dem Titel Gefilte Fisch. Dort begegnete er einmal der nur wenig jüngeren „Hannah Arendt, schön und klug, für mich ein Kind aus einer ganz anderen Welt.“

Schon früh entwickelte Hannah ein besonderes Interesse für Philosophie und Literatur; sie las mit vierzehn Jahren zum erstenmal Kants Kritik der reinen Vernunft, außerdem Karl Jaspers, Kierkegaard und griechische Dichtung. Kurz vor dem Abitur am Mädchenlyzeum mußte sie wegen Differenzen mit einem Lehrer die Schule verlassen, ging für kurze Zeit nach Berlin, wo sie Vorlesungen Romano Guardinis besuchte, und legte nach ihrer Rückkehr nach Königsberg im Jahr 1924 als externe Schülerin die Reifeprüfung ab.

Ihr Studium begann sie in Marburg beim jungen Martin Heidegger, mit dem sie auch eine persönliche Beziehung verband; 1925 wechselte sie nach Freiburg zu Edmund Husserl, 1926 zu Karl Jaspers nach Heidelberg, bei dem sie mit einer Dissertation über den Liebesbegriff bei Augustin 1928 promoviert wurde. Anschließend ging sie mit Günter Anders, den sie kurze Zeit später heiratete, nach Berlin, wo sie bereits die Arbeit an ihrem erst sehr viel später erschienenen Werk über Rahel Varnhagen begann. In der Auseinandersetzung mit dieser Frau und gleichermaßen durch die Zeitläufe bedingt, begann sie sich nun verstärkt mit der Frage nach der Identität der Juden und ihrer Stellung in der Gesellschaft zu beschäftigen. Nach kurzer Verhaftung 1933 verließ sie Deutschland und reiste nach Paris zu ihrem Mann, der kurz zuvor dorthin emigriert war. Sie arbeitete in jüdischen Organisationen, wurde 1940 in ein Internierungslager gebracht, nach fünf Wochen aber wieder freigelassen. Zusammen mit Heinrich Blücher, den sie heiratete, nachdem sie sich schon 1937 von Günter Anders hatte scheiden lassen, sowie mit ihrer Mutter, die nach den Pogromen Königsberg verlassen hatte, gelangte sie über Lissabon nach New York. Sie arbeitete als Publizistin und verfaßte Aufsätze über das europäische Judentum und die aktuelle politische Situation, 1946 wurde sie Cheflektorin im Verlag Salman Schockens. Noch vor Kriegsende begann sie mit der Arbeit zu ihrem wahrscheinlich wichtigsten Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, das ihr nach seiner Veröffentlichung 1951 zahlreiche Einladungen zu Vorträgen an Universitäten einbrachte. In diesem Werk analysiert sie Nationalsozialismus und Stalinismus als verwandte Herrschaftstypen und Folgeerscheinungen von Antisemitismus und Imperialismus.

Von 1948 bis 1952 war Hannah Arendt Geschäftsführerin der „Jewish Cultural Reconstruction, Inc.“ – einer Gesellschaft, die sich der Rückgabe während des Dritten Reichs geraubter jüdischer Kulturgüter bzw. ihrer Verteilung an jüdische Organisationen annahm. In dieser Funktion reiste sie mehrmals wieder nach Deutschland, ließ sich aber 1951 endgültig in New York nieder und erhielt auch die amerikanische Staatsbürgerschaft.

In den folgenden Jahren schrieb sie weiterhin für Zeitschriften, verfaßte ein Buch über Ideologie und Terror: eine neue Staatsform (1953), ein philosophisches Werk über die Differenz von Arbeiten, Herstellen und Handeln (Vita activa, 1958) sowie eine Schrift Über die Revolution (1963). Bereits 1958 hatte sie an der Universität von Chicago eine Teilzeitbeschäftigung, seit 1963 eine Teilzeitprofessur erhalten. 1961 fuhr sie im Auftrag des New Yorker zum Eichmann-Prozeß nach Israel. Aus dieser Mission entstand ihr eingangs schon erwähnter Bericht Eichmann in Jerusalem, der sofort nach Erscheinen – auch und gerade in jüdischen Kreisen – einen Sturm der Entrüstung hervorrief. Nicht nur hatte sie es darin unternommen, die Verbrechen des Nationalsozialismus zu entdämonisieren; auf besonderen Widerstand stieß, daß sie sich auch mit der Rolle der sogenannten Judenräte kritisch auseinandersetzte.

1967 nahm Hannah Arendt eine Professur an der „New School for Social Research“ in New York an, wo sie mit den Vorarbeiten zu ihrem letzten Werk Vom Leben des Geistes begann, das sie nicht mehr vollenden konnte. Den ersten Teil unter dem Titel Das Denken trug sie 1973 im Rahmen der Gifford-Lectures an der Universität von Aberdeen in Schottland vor. Den zweiten Teil der Vorlesung (Das Wollen) verhinderte 1974 ein Herzinfarkt, von dem sie sich jedoch wieder erholte, so daß sie im Sommer 1975 im Deutschen Literaturarchiv in Marbach den Nachlaß ihres Lehrers und lebenslangen Freundes Karl Jaspers ordnen konnte. Im Dezember desselben Jahres erlag sie jedoch einem zweiten Herzinfarkt.

Hannah Arendt wurde für ihre Arbeit mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet: Sie erhielt unter anderem 1954 den Preis der American Academy for Arts and Letters, 1959 den Lessing-Preis der Stadt Hamburg, 1967 den Sigmund-Freud-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung (Darmstadt) sowie 1975 den Sonning-Preis der Universität Kopenhagen.

Unter den großen Frauen jüdischer Abstammung im 20. Jahrhundert wie Nelly Sachs und Edith Stein war sie wahrscheinlich die rationalste und politischste Persönlichkeit. Und gewiß ist es sehr treffend, was Joachim C. Fest einmal über die Grundstruktur ihres Geistes sagte: „Zeit ihres Lebens hat Hannah Arendt, mit nahezu allem Denken und Reden, Anstoß erregt. […] Die Anstößigkeit Hannah Arendts hat vor allem damit zu tun, daß sie mit ihrer ganzen intellektuellen Natur quer zu dem Grundbedürfnis nach Anschluß, nach wärmender ideologischer Gruppenbildung stand und ihr Denken nie durch emotionale Bindungen korrumpieren ließ. Ihre Vernunft hatte einen Zug von Verwegenheit […].“

Lit.: Seyla Benhabib: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne. Mit einem Nachw. v. Otto Kallscheuer. Aus d. Amerikanischen v. Karin Wördemann. Hamburg 1998. – Friedrich Georg Friedmann: Hannah Arendt. Eine deutsche Jüdin im Zeitalter des Totalitarismus. München 1985. – Hannah Arendt. Materialien zu ihrem Werk. Hrsg. v. Adelbert Reif. Wien u.a. 1979. – Wolfgang Heuer: Hannah Arendt mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek b. Hamburg 1987. – Die Kontroverse. Hannah Arendt, Eichmann und die Juden. Hrsg. v. F.A. Krummacher. Frankfurt/M. 1964. – Ernst G. Lowenthal in: Altpreußische Biographie IV, 2. Lfg., S. 1172. – Helen Wolff: „Hannah Arendt.“ In: Vordenkerinnen. Zehn außergewöhnliche Lebensbilder. Hrsg. von Stefan Bollmann und Christiane Naumann. München 1999, S. 113-118. – Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit. Frankfurt/M. 1986 (amerikan. Originalausgabe: Hannah Arendt. For Love of the World, Yale University Press 1982).

Bild: Hannah Arendt. „Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin…“ [Begleitbuch zur Ausstellung], Hrsg.: Alte Synagoge [Red.: Karl-Heinz Klein-Rusteberg] 2. Aufl. Essen 1995.

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Hannah_Arendt

Maximilian Rankl