Biographie

Baeck, Leo

Herkunft: Posener Land
Beruf: Rabbiner, Führer des deutschen Judentums
* 23. Mai 1873 in Lissa/Posen
† 2. November 1956 in London

Der Rabbiner Leo Baeck zählt zu den bekanntesten deutschen Vertretern des liberalen Judentums. Er trat nicht nur vor dem Völkermord an den Juden für eine Verbesserung des deutsch-jüdischen Verhältnisses und ihrer Verständigung ein, sondern auch nach dem Jahrtausendverbrechen der Nationalsozialisten war ihm die Wiederaufnahme der Gespräche zur Verständigung wichtiger als jede Bestrafung der Täter.

Vielleicht spielt seine Herkunft aus dem Posener Land bei dieser Einstellung zum Zusammenleben eine gewisse Rolle. Leo Baeck wurde am 23. Mai 1873 in Lissa (pl. Leszno), damals noch Kreis Fraustadt in der preußischen Provinz Posen, als Sohn des Rabbiners Samuel Baeck und seiner Ehefrau Eva Placzek geboren und wuchs in der aufstrebenden, deutsch-jüdisch geprägten Stadt mit seinen vier Schwestern auf.

Die Stadt Lissa liegt in einer Grenzregion zwischen Schlesien und Großpolen, zwei alten Siedlungslandschaften, die zwischen dem Königreich Polen und dem Herzogtum Glogau lange umstritten war, ehe dann 1343 König Kazimierz III., der Große, das Fraustädter Ländchen genannte Gebiet endgültig seinem Staat einverleiben konnte. Daß er den Namen, der Große zu Recht trug, zeigt seine kluge Politik den hier siedelnden deutschen Bauern, Bürgern und Adeligen gegenüber, deren gewährte Rechte und Privilegien er bestätigte und sogar eine gesonderte Verwaltungseinheit schuf.

Im Osten dieses größtenteils von Deutschen besiedelten Landes war auch die ursprünglich aus Böhmen stammende polnische Adelsfamilie Wieniara in dem 1393 erstmals genannten Dorf „Leszczno“ ansässig, wonach sie sich Leszczyński nannten. Im Jahr 1547 erwirkte der protestantische Grundherr, Rafał Leszczyński, das Recht, hier eine Stadt nach deutschem Recht für Glaubensflüchtlinge, zu gründen. Von Anfang an siedelten in der Leszno (verdeutscht Lissa) genannten Stadt verschiedene Glaubensgruppen: böhmische Brüder, Lutheraner, Calvinisten und seit 1606 auch Juden, deren Kopfsteuer eine gute Einnahmequelle für den mächtigen Grundherren war, die seither in Polen große Politik machten bis hin zur Stellung eines Königs.

Die Stellung der Juden in Polen war sehr schwierig, da man sie stets gern als Sündenböcke verfolgte; daher war eine gute und vertrauensvolle Zusammenarbeit mit den Nachbarn überlebenswichtig. In dieser Tradition scheint Leo Baeck zu stehen.

In der Kaiserzeit, also als Baeck geboren wurde, entwickelte sich Lissa in der Provinz Posen durch die Eisenbahn zu einer aufstrebenden Stadt. Die Regierung trug dem Rechnung und bei der Verwaltungsreform von 1887 wurde Lissa zur Kreisstadt eines eigenen Kreises erhoben. Im darauf folgenden Jahr erhielt die Stadt als Eisenbahnknotenpunkt einen weiteren Bahnanschluß.

In dieser aufstrebenden, deutsch dominierten Stadt mit einem polnisch besiedelten Umfeld wuchs Leo Baeck auf und besuchte von 1881 bis 1890 das bekannte humanistische Johann-Amos-Comenius-Gymnasium, benannt nach einem führenden Mann der Böhmischen Brüder, der in Lissa im 18. Jahrhundert gewirkt hatte. Durch seinen Vater wurde Leo früh auch in jüdischer Kultur und Religion unterrichtet, so daß in ihm der Wunsch geweckt wurde, Rabbiner zu werden. Zu diesem Zwecke besuchte er von 1891 bis 1894 das konservative Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau, an dem seine Vorbilder Jacob Levy (1819-1892) und Heinrich Graetz (1817-1891) lehrten. Zudem besuchte er seit 1892 das Philosophische Seminar der Universität Breslau. 1894 wechselte er nach Berlin, um auf der einen Seite das Rabbinatsstudium an der liberalen „Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums“ zu beginnen, auf der anderen sein Studium der Philosophie, Geschichte und Religionsphilosophie zu vertiefen. 1895 schloß er seine Studien mit der Promotion bei seinem Förderer Wilhelm Dilthey (1833-1911) ab und veröffentlichte seine vielbeachtete Dissertation über „Spinozas erste Einwirkungen auf Deutschland“.

Noch im Herbst desselben Jahres trat er seine erste Stelle als Rabbiner in der großen jüdischen Gemeinde im oberschlesischen Oppeln an. Hier lernte er auch seine Frau kennen, Nathalie Hamburger, die Enkelin seines Vorgängers im Amt, die er 1896 heiratete. In Oppeln entwickelte er seine religionsphilosophischen Ideen und brachte sie zu Papier: Sein Hauptwerk „Das Wesen des Judentums“ erschien 1905, als er bereits die Stelle eines Rabbiners in Duisburg angetreten hatte. Seine Arbeit war als kritische Antwort auf Adolf von Harnacks Buch „Das Wesen des Christentums“ konzipiert und zeigt ihn bereits damals als führenden Vertreter des jüdischen Liberalismus.

Von 1907 bis 1912 war Baeck als Rabbiner in Düsseldorf tätig, ehe ihn die jüdische Berliner Gemeinde 1912 in die neu errichtete Synagoge in der Fasanenstraße berief. Gleichzeitig erhielt er einen Lehrauftrag an der als liberal bekannten „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“.

Der Erste Weltkrieg unterbrach seine Arbeit, und er trat seinen Militärdienst ebenso an, wie Tausende andere jüdische und christliche Staatbürger. Baeck wurde als Feldrabbiner an der West- und Ostfront eingesetzt, ehe er 1919 in seine Berliner Gemeinde zurückkehren konnte.

Als Folge des verlorenen Krieges ging auch seine Geburtsstadt dem Deutschen Reich verloren, obwohl der lokale Widerstand und Grenzschutz Lissa gegen die polnischen Aufständischen hatte behaupten können. Die Entente-Grenzkommission entschied anders, und Lissa kam mit Inkrafttreten des Versailler Vertrages zu Polen. Viele deutsche und jüdische Bewohner verließen damals ihre Heimat und optierten für Deutschland oder wanderten gar nach Amerika aus.

Baecks Lebensmittelpunkt war inzwischen Berlin und die Arbeit an der Verständigung sein Lebenszweck. Im Jahr 1919 rief er die christlich-jüdischen Gespräche ins Leben, die zu einer interreligiösen und kulturellen Verständigung zwischen Christen und Juden in Deutschland führen sollten. Er war dabei eine der treibenden und beeindruckenden Kräfte. Als einer der führenden Rabbiner Deutschlands, zumal in direkter Nähe zum Machtzentrum Berlin, wurde er zur Hauptkontaktperson zu den politischen Repräsentanten der Weimarer Republik. Bereits 1919 berief man ihn als Sachverständigen für jüdische Angelegenheiten ins preußische Kultusministerium. Seiner wachsenden Bedeutung zollte auch der Allgemeine Deutsche Rabbinerverband Respekt und wählte ihn 1922 zu ihrem Vorsitzenden. Ihm gelang das Kunststück, eine Zusammenarbeit zwischen dem liberalen und dem orthodoxen Flügel des Verbands zu schaffen. Leo Baeck war ein gefragter Mann und Mitglied in vielen, vor allem auch wohltätigen jüdischen Organisationen.

Trotz all seiner Bemühungen wandte sich die positiv begonnene Politik der Weimarer Republik ins Negative. Auf der Straße und bald auch in den Regierungsbüros erhielten die antisemitischen Nationalsozialisten das Sagen. 1933 erklärte Baeck vorausahnend, daß die „tausendjährige Geschichte“ der Juden in Deutschland zu Ende gegangen sei.

In der bedrohlichen Situation nach der „Machtergreifung“ Hitlers schlossen sich die jüdischen Verbände und Gemeinden in der „Reichsvertretung der deutschen Juden“ zusammen und wählten Baeck einstimmig zum Präsidenten (17. September 1933). Baeck reiste nun viel ins Ausland, um auf die Lage der Juden im Deutschen Reich aufmerksam zu machen. Trotz der großen persönlichen Gefahr agierte er wie ein Kapitän, der das sinkende Schiff auf keinen Fall verlassen will, ehe nicht der letzte Mann gerettet ist.

Die Diskriminierung und Verfolgung wuchs in den 1930er Jahren immer weiter an, und Baeck organisierte die jüdische Emigration. Ihren ersten Höhepunkt erreichte die Judenverfolgung in der verharmlosend so genannten „Reichskristallnacht“ am 9. zum 10. November 1938. Die frei gewählte „Reichsvertretung der Juden“ wurde aufgehoben und 1939 die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ mit Leo Baeck als Vorsitzendem vom NS-Regime geschaffen. Auch die „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“, an der er unterrichtete, wurde 1939 von der Gestapo (Geheime Staatspolizei) unter seinem Protest geschlossen.

Mit dem Zweiten Weltkrieg steigerte sich die Judenverfolgung in Judenvernichtung. Die „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland“ wurde nicht mehr benötigt und daher 1943 von der Gestapo beseitigt. Baeck selber wurde im Juni 1943 mit seiner Familie in das Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt, wo er seinen Mitgefangenen als Mitglied im Ältestenrat des Ghettos eine große geistige Stütze war, Predigten und Vorträge hält, wofür er schwer mißhandelt wurde. Auch zum deutschen Widerstand nahm er Kontakt auf, so zu der Gruppe um Carl Friedrich Goerdeler.

Nur durch Glück und Zufall überlebte er den Völkermord. Im Mai 1945 wurde er von der Roten Armee befreit. Seine vier Schwestern jedoch wurden ermordet.

Im Juli 1945 verließ Baeck Deutschland, um das Amt des Präsidenten der „Weltunion für progressives Judentum“ und des „Rates der Juden aus Deutschland“ in London anzutreten. 1947 begründete er das später nach ihm benannte „Institut zur Erforschung der Geschichte des Judentums in Deutschland seit der Aufklärung“.

Trotz des gerade erst beendeten Holocausts dachte Baeck weiter und bemühte sich um die Wiederaufnahme der von ihm 1919 initiierten Gespräche zwischen den Glaubensgruppen. Bis zu seinem Tod wurde er nicht müde, sich um den Ausgleich und das Wissen der Religionsgeschichte zu bemühen. Leo Baeck starb am 2. November 1956 in London.

Eine Vielzahl von Einrichtungen erinnern an diesen außergewöhnlichen Mann, von denen nur die wichtigsten genannt werden können: 1.) Das „Leo-Baeck-Institut“ mit der Aufgabe, die Geschichte der Juden im deutschsprachigen Raum zu erforschen, mit Standorten in London, New York, Jerusalem und Berlin, das seit 1978 in unregelmäßigen Abständen die Leo-Baeck-Medaille vergibt, 2.) das bereits 1938 gegründete „Leo-Baeck-Education-Center“ in Haifa oder 3.) das „Leo-Baeck-Institut“ in London, dessen erster Präsident er auch war, an dem liberale Rabbinerinnen und Rabbiner ausgebildet werden und 4.) der seit 1956 vom Zentralrat der Juden in Deutschland vergebene „Leo-Baeck-Preis“ für Personen, die sich für die Ideale von Leo Baeck einsetzen. Zu diesen Preisträgern gehören u. a. Ralph Giordano, Iris Berben, die Bundespräsidenten Dr. Richard von Weizsäcker, Prof. Dr. Roman Herzog und Johannes Rau, Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl, Bundesminister Dr. Hans-Jochen Vogel und Außenminister Joschka Fischer.

Bild: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen.

 Martin Sprungala