Schon wegen seines ungewöhnlichen Namens vermutet man Fürst Michail Bogdanovič (Michael Andreas) Barclay de Tolly nicht unbedingt in der ersten Reihe russischer Heerführer. Doch sein Lebenslauf beweist etwas anderes. Barclay de Tolly war ein bedeutender Vertreter einer deutschbaltischen Patrizierfamilie, die einem schottischen Adelsgeschlecht entstammte und seit dem 17. Jahrhundert in Riga ansässig war. Er wurde am 27. Dezember 1761 auf dem Gut Pomautsch im heutigen Litauen geboren. Für die militärische Laufbahn bestimmt trat er bereits mit 15 Jahren in die kaiserlich russische Armee ein und nahm an den Kämpfen gegen die Türken (1788-1789) und gegen die Schweden und Polen (1790 und 1794) teil. Im Jahre 1798 wurde er Oberst und 1799 in den Rang eines Generalmajors erhoben. Er galt als intelligenter, vernünftiger und fähiger Mann, charakterstark und von unabhängigem Urteilsvermögen. Zar Alexander I. mochte ihn und hatte ihn über die Köpfe anderer hinweg befördert, was deren Neid geweckt hatte. Daher gab es später im Hauptquartier zahlreiche hohe Militärs, die ihn hassten, und denen es zuwider war, unter ihm dienen zu müssen.
Im Krieg gegen Napoleon (1806/07) wurde Barclay de Tolly bei Preußisch Eylau schwer am rechten Arm verwundet; seine persönliche Tapferkeit brachte ihm den Rang eines Generalleutnants ein. Aus dieser Zeit stammen seine Überlegungen für den nicht neuen, letzten Ausweg, um der vollständigen militärischen Vernichtung zu entgehen, sich tief ins russische Hinterland zurückzuziehen. Im Jahre 1808 kommandierte er eine russische Armee in Finnland im Kampf gegen die Schweden und eroberte im Jahre 1809 Umeå nach einem wagemutigen Marsch über den gefrorenen Bottnischen Meerbusen. Mitte April 1809 berief ihn der Zar zum Generalgouverneur des Großherzogtums Finnland. Im Jahre 1810 wurde er zum russischen Kriegsminister ernannt, diesen Posten behielt er bis 1813. Während dieser Zeit trug er durch Verdoppelung des Heeres und den Bau von Festungen wesentlich zur Stärkung der russischen Armee bei.
Im Jahre 1812 erhielt Barclay de Tolly den Oberbefehl über die 1. russische Westarmee im Kampf gegen Napoleon. Die eigenen Kräfte sorgsam einschätzend fand er keine Gelegenheit, sich der „Grande Armée“ erfolgreich entgegenzustellen. Oberste Maxime war für ihn, möglichst eine entscheidende Schlacht zu verhindern. All das geschah nicht nach irgendeinem neuen Plan, den Gegner tief nach Russland hinein zu locken, sondern aus Ausweglosigkeit. Der vom Gegner somit erzwungene anhaltende Rückzug setzte die eigenen Truppen und die Bevölkerung schweren Belastungen aus. Die unterschwellige Feindseligkeit gegen ihn und alle „Deutschen“ im Hauptquartier und in den Stäben hatte sich nun zu offenen Vorwürfen über Unfähigkeit, Feigheit und sogar Verrat gesteigert. Zahlreiche Generäle verlangten Barclay de Tollys Abberufung. Zar Alexander reagierte auf diese Situation nur zögerlich und ernannte schließlich am 20. August 1812 den 67jährigen Feldmarschall Kutusov zum Oberbefehlshaber der russischen Armee. Barclay de Tolly blieb weiterhin Kommandeur der 1. russischen Westarmee. Er galt aber später als einer der Helden der Schlacht von Borodino, von der er sagte, sie sei die härteste, die jemals ausgefochten worden sei. Barclay de Tolly wurde mit dem St.-Georgs-Orden 2. Klasse ausgezeichnet. Anfang Oktober verließ er die Armee aus gesundheitlichen Gründen.
Im Jahre 1813 begab er sich erneut in die Dienste des Zaren und nahm in den Befreiungskriegen an den Kämpfen bei Thorn, Großgörschen und Bautzen teil. Nach der Schlacht bei Bautzen wurde er erneut zum Oberbefehlshaber der russischen Truppen ernannt und führte die russische Armee erfolgreich in der Völkerschlacht bei Leipzig (1813). Barclay de Tolly war auch Oberbefehlshaber der russischen Armee bei ihrem Vormarsch nach Frankreich und nahm am 31. März 1814 an der Einnahme von Paris teil. In diesem Jahr erhielt er von Zar Alexander den Marschallsstab.
Nach Ende der Kriegshandlungen wurde er zum Fürsten ernannt. Er setzte sich in Livland, der Heimat seiner Frau, zur Ruhe. Auf der Reise zu einem Kuraufenthalt in Böhmen starb er am 26. Mai 1818 auf dem Gut Szieleitschen in der Nähe Insterburgs. Die Todesursache war ein schweres Herzleiden, das ein Insterburger Arzt bei der Sektion festgestellt hatte. Er wurde einbalsamiert und zunächst am Sterbeort aufgebahrt. Dann brachte man ihn auf Wunsch der Familie auf ihr Gut Beckhof nach Livland, in den Teil, der heute zu Estland gehört. Hier ruht er seitdem in einem kleinen Mausoleum, das seine Witwe 1823 für ihn bauen ließ. Schon 1821 schuf Schinkel ein gußeisernes Denkmal, dass noch heute auf dem Gelände des Gutes Szieleitschen steht, dort wo sein Herz begraben worden war. 1837 wurde ein Barclay de Tolly-Denkmal vor der Kasaner Kathedrale in St. Petersburg aufgestellt. Auch in der Walhalla bei Regensburg fand seine Büste einen würdigen Platz; seit 1849 steht eine weitere Büste auf einem Denkmal des nach ihm benannten Platzes in der estnischen Stadt Dorpat. 1913 errichtete die Stadt Riga ein Denkmal mit einem fast 5 Meter großen Bronzestandbild Barclay de Tollys. Dieses ging bereits 1915 während der Evakuierung über See verloren. Es wurde 2002 rekonstruiert und auf dem erhaltenen Originalsockel wieder aufgestellt. In Černjachovsk (Insterburg) fand am 31. März 2007 die Einweihung eines fast sieben Meter hohen Denkmals statt, das ihn als Feldherrn zu Pferd darstellt.
Lit.: Rein Helme, Kindralfeldmarssal Barclay de Tolly, Tallinn 2006. – Michael Josselson, Diana Josselson, The Commander. A Life of Barclay de Tolly, Oxford 1980. – Günther Stöckl, Russische Geschichte, Stuttgart 1973. – Friedrich Wilhelm von Weymarn, Barclay de Tolly und der vaterländische Krieg 1812, Reval 1914. – Adam Zamoyski, 1812, Napoleons Feldzug in Russland, München 2012.
Bild: Stich nach einem Porträt von George Dawe von 1892.
Wolfgang Freyberg