Barzels Geburtsort Braunsberg, südwestlich von Königsberg, lag im Herzen des katholischen Ermlandes. Seine Eltern stammten aus Masuren. Sein Vater, Dr. Candidus Barzel, war Studienrat für Deutsch, Geschichte und Turnen und politisch im Zentrum engagiert. 1931 wurde er nach Berlin versetzt, und die Familie zog dorthin um. Der Sohn Rainer, fünftes von sieben Kindern, besuchte nach der Volksschulzeit dort zunächst das Jesuitengymnasium amLietzensee und nach dessen Schließung durch die Nationalsozialisten 1939 das staatliche Luisengymnasium in Moabit, wo er 1941 das (Not-)Abitur machte. Während der Schulzeit war er der katholischen Jugendbewegung „Neudeutschland“ verbunden. Von 1941 bis zum Kriegsende war Rainer Barzel Fernaufklärer bei den Seefliegern in Norwegen und am Schwarzen Meer, zuletzt als Leutnant. Er wurde mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse und mit der Goldenen Frontflugspange ausgezeichnet. 1959 wurde er durch eine Wehrübung bei der Bundeswehr Oberleutnant (d. Res.) zur See. Ab November 1945 studierte Barzel in Köln Jura und Volkswirtschaft. Er zeigte starkes Interesse für die katholische Soziallehre, betätigte sich in der katholischen Studentengemeinde und im ASTA und war neben dem Studium als freier Mitarbeiter für verschiedene Zeitungen tätig. Erich Mende war einer seiner Kommilitonen. 1948 heiratete er die Kölner Drogistentochter Kriemhild Schumacher, die er bereits in Berlin kennengelernt hatte. 1949 wurde das einzige Kind, die Tochter Claudia geboren. Im selben Jahr wurde er bei Ernst von Hippel mit einer verfassungsrechtlichen Arbeit zum „Dr. iur.“ promoviert.
Zum 1. Januar 1949 trat Rainer Barzel in die Landesverwaltung von Nordrhein-Westfalen ein. Er war persönlicher Referent bei Carl Spiecker. Dieser war Vorstandsmitglied der 1945 neu begründeten Deutschen Zentrumspartei und bevollmächtigter Minister des Landes Nordrhein-Westfalen – zunächst beim Bizonen-Wirtschaftsrat in Frankfurt, dann bei der Bundesregierung in Bonn. In der Nähe zu Spiecker wurde in diesen Jahren Barzels starke Bindung an den politischen Katholizismus offenbar. Nach Spieckers Tod 1950 arbeitete Barzel eng mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Karl Arnold zusammen. Unter ihm war Barzel 1953/54 kommissarischer Vertreter des nordrhein-westfälischen Ministers für Bundesangelegenheiten in Bonn und zugleich – 1952 bis 1955 – Verbindungsmann seines Bundeslandes zur Montanbehörde in Luxemburg. Vor allem schrieb er für seinen Ministerpräsidenten zahlreiche Reden. Dieser machte ihn – unter Umgehung beamtenrechtlicher Vorschriften – 1954 zum Ministerialrat, dem jüngsten in Deutschland. Später wurde Barzel auch jüngster Bundesminister und jüngster Fraktionsvorsitzender in der Bundesrepublik, wie überhaupt seine politische Karriere von raschem Aufstieg, ebenso aber von plötzlichem Fall gekennzeichnet war.
Als Karl Arnold 1956 von der SPD/FDP-Opposition als Ministerpräsident gestürzt wurde, ließ Barzel sich als Beamter beurlauben und begann an der Seite seines Mentors eine Parteikarriere. Noch im selben Jahr wurde er – erst am 18. Februar 1954 in die CDU eingetreten – geschäftsführendes Mitglied des CDU-Landespräsidiums in Nordrhein-Westfalen. 1957 zog er – mit 33 Jahren – als Direktkandidat des erzkatholischen Wahlkreises Paderborn-Wiedenbrück erstmals in den Bundestag ein. Hier war er zunächst im Wirtschaftsausschuß der CDU/CSU-Fraktion tätig. Er widmete sich vor allem der Eigentumspolitik und erwarb sich besondere Verdienste bei der Schaffung der Volksaktie. In dieser Zeit hatten ihn seine Freunde längst als „politisches Wunderkind“ apostrophiert.
1959 hielt Barzel seine erste Bundestagsrede aus Anlaß der von der SPD angestrengten Volksbefragung über die Atombewaffnung der Bundeswehr. Im selben Jahr gründete er auf Initiative des Bundes-Verteidigungsministers Franz Josef Strauß das Komitee „Rettet die Freiheit“. Das Unternehmen war gegen die wiederbewaffnungsfeindlichen Strömungen unter den deutschen Intellektuellen geriichtet; es erwies sich rasch als Mißerfolg – Barzel distanzierte sich später davon. Seinem raschen politischen Aufstieg hat es nicht nennenswert geschadet.
Seit Antritt seines Bundestagsmandates pflegte Barzel im Auftrag seiner Partei die Kontakte zu den katholischen Verbänden in der Bundesrepublik. Im Mai 1962 wurde er Mitglied des CDU-Bundesvorstandes und des CDU/CSU-Fraktionsvorstandes im Bundestag. Im Dezember 1962 machte Konrad Adenauer ihn als Nachfolger von Ernst Lemmer zum Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen. Der Kanzler hatte ihn längst schätzen gelernt, obwohl er 11959 zu jenen „Frondeuren“ gehört hatte, die Ludwig Erhard zum Kanzler und Adenauer statt dessen zum Bundespräsidenten machen wollten. Barzels Ernennung rief seinerzeit Verwunderung hervor, nicht nur wegen seines jugendlichen Alters von 38 Jahren, sondern auch, weil er nicht gerade als Freund einer unmittelbar anzustrebenden Wiedervereinigung galt – anders als Johann Baptist Gradl, der Vorsitzende der Exil-CDU, den man eher als Lemmer-Nachfolger erwartet hatte. Der damalige Sonderminister Heinrich Krone hatte Barzel entscheidend bei Adenauer protegiert. Besonders schwierig war für den jungen Minister die Zusammenarbeit mit seinem „Intimfeind“ Herbert Wehner, dem damaligen Vorsitzenden des Bundestagsausschusses für gesamtdeutsche Fragen. Barzel übte sein Ministeramt nur elf Monate lang aus. In dieser kurzen Zeit wurden die Grundlagen für die dann lange Zeit geltende Praxis der Häftlingsfreikäufe aus der DDR geschaffen. Ab Dezember 1963 übernahm Barzel stellvertretend für den schwer erkrankten Heinrich von Brentano den CDU/CSU-Fraktionsvorsitz im Bundestag und erntete dafür hohes Lob – auch vom politischen Gegner. Nach dem Tod von Brentanos wurde Barzel am l. Dezember 1964 offiziell zum Fraktions-Vorsitzenden gewählt. Er hatte sich zuvor in seiner Partei auch dadurch einen Namen gemacht, daß er für den Dortmunder Parteitag im Herbst 1962 eine Studie über „das geistige und gesellschaftliche Bild der Gegenwart und die künftigen Aufgaben der CDU“ verfaßt hatte; sie hatte ihm scherzhaft den Ruf als Erfinder des „hohen C“ in der CDU eingetragen. Der Spiegel bezeichnete ihn damals als „strammen Katholiken und pathetischen Ideologen des Christlichen in der Politik“. Als Fraktionsvorsitzender wurde Barzel zu einer Art „Clearing-Stelle“ zwischen der von Erhard geführten Regierung und der von Adenauer und Dufhues beherrschten Partei. Seine größte politische Zeit war wohl die des Fraktionsvorsitzes während der Großen Koalition von 1966 bis 1969, als er auch mit dem SPD-Fraktionsvorsitzenden Helmut Schmidt gut harmonierte. Als 1969 die Große Koalition zerbrach, wurde Barzel für die CDU/CSU Oppositionsführer im Bundestag. Überdies wählte ihn die CDU im Herbst 1971 zu ihrem Bundesvorsitzenden. Bereits im Januar 1966 hatte er dieses Amt angestrebt, stand aber zurück, als Kanzler Erhard seinen Anspruch darauf anmeldete. Er war daraufhin im März 1966 zum ersten stellvertretenden Partei-Vorsitzenden gewählt worden. Adenauer schrieb ihm am 29. Oktober 1966 in einem persönlichen Brief: „Ich würde es sehr begrüßen, wenn Sie Bundeskanzler würden.“ Aber seine Kandidatur um die Kanzlerschaft nach Erhards Sturz im November 1966 kam zu früh. Kiesinger siegte und bildete mit Brandt die Große Koalition.
Am 27. April 1972 erlebte Rainer Barzel seine wohl schwerste Stunde im Deutschen Bundestag: Sein konstruktives Mißtrauensvotum gegen Kanzler Willy Brandt scheiterte; es war das erste in der Geschichte der Bundesrepublik überhaupt. Anlaß für den Versuch war die Tatsache, daß einige SPD- und FDP-Abgeordnete aus Protest gegen Brandts Ostpolitik zur CDU/CSU gewechselt waren und die Regierung deshalb die Mehrheit verloren hatte. Bei der Abstimmung versagten allerdings drei Abgeordnete aus den eigenen Reihen Barzel in geheimer Abstimmung die Gefolgschaft. Die Hintergründe dieses Scheiterns wurden nie restlos geklärt.
Im November desselben Jahres mußte Barzel eine weitere politische Niederlage hinnehmen: Als Kanzlerkandidat der CDU/CSU verlor er deutlich die Bundestagswahl gegen Willy Brandt. Zwar galt Barzel bei Freunden und Gegnern als hervorragender Sachkenner und als Parteipolitiker mit außergewöhnlicher organisatorischer, taktischer und rednerischer Begabung, aber beim Wählervolk kam er nicht gut an. Nach den Enttäuschungen des Jahres 1972 gab er im Mai 1973 seine Ämter als Partei- und Fraktionsvorsitzender ab. Den Posten eines stellvertretenden Parteivorsitzenden sowie einen Sitz im Präsidium seiner Partei lehnte er ab. Bei diesem Rückzug spielte auch die Enttäuschung darüber eine Rolle, daß seine Fraktion entgegen seiner Empfehlung den Ostverträgen, die er durch sein anfängliches „So nicht“ und die dadurch erreichten Modifikationen auch für seine Fraktion akzeptabel gemacht zu haben glaubte, nicht zugestimmt, sondern sich lediglich der Stimme enthalten hatte. Auch in der Frage eines UNO-Beitritts der Bundesrepublik, den Barzel befürwortet hatte, war die CDU/CSU-Fraktion ihrem Chef nicht gefolgt. Private Rückschläge kamenhinzu: Ein Rückenleiden machte Barzel zu schaffen; seine Tochter Claudia schied 1977 freiwillig aus dem Leben.
Rainer Barzel war nach seinem Rückzug aus allen Parteiämtern für die Frankfurter Anwaltskanzlei Paul tätig. Zwar bemühte er sich 1976 um die Spitzenkandidatur der nordrhein-westfälischen CDU für den Bundestagswahlkampf, scheiterte aber an Kurt Biedenkopf. Kurz darauf war er für das Amt des Bundestagspräsidenten im Gespräch, doch Kohl und Strauß entschieden sich für Karl Carstens.
Im selben Jahr aber übernahm Barzel wieder einen wichtigen Posten in der CDU/CSU-Fraktion – den Vorsitz des Ausschusses für Wirtschaft; im Februar 1979 löste Biedenkopf ihn ab. Im Februar 1980 ernannte ihn die SPD/FDP-Bundesregierung auf Vorschlag von Außenminister Genscher zum Koordinator für die deutsch-französischen Beziehungen als Nachfolger von Professor Carlo Schmid. Dieses Amt legte er im Dezember 1980 nieder, um Vorsitzender des außenpolitischen Ausschusses des Deutschen Bundestages zu werden. 1980 führte er auch die Landesliste der nordrhein-westfalischen CDU für den Bundestagswahlkampf an. Er war jetzt wieder im vollen politischen Rampenlicht. Nach dem Sturz der Regierung Schmidt im Oktober 1982 wurde Rainer Barzel im Kabinett Kohl Bundesminister für innerdeutsche Beziehungen. Er war damals 58 Jahre alt. Auch dieses Ministeramt übte er nur kurze Zeit aus: Schon am 29. März 1983 wurde er zu Präsidenten des Deutschen Bundestages gewählt und stand nun auf dem Gipfelpunkt seiner wechselvollen politischen Karriere. Aber auch in diesem Amt war ihm kein langes Wirken beschieden. Im Herbst 1984 trat er auf Druck seiner Partei zurück. Seine Beratertätigkeit für die Frankfurter Anwaltskanzlei Paul hatte ihn in Zusammenhang mit der Flick-Spendenaffäre gebracht. Nach Schluß der Untersuchungen des Flick-Ausschusses im März H 1986 gab Bundestagspräsident Jenninger im Bundestag eine Ehrenerklärung für seinen Amtsvorgänger ab. Das gerichtliche Verfahren gegen Barzel wurde im Oktober 1986 eingestellt. Seit April 198 hatte er wieder – wie schon 1980 einmal – das Amt eines Koordinators für die deutsch-französischen Beziehungen inne, das er bis 1990 behielt.
Am 10. September 1986 hielt Rainer Barzel im Zusammenhang einer Etatsdebatte seine Abschiedsrede im Deutschen Bundestag. Fast 30 Jahre lang hatte er dem Parlament angehört, nach der Bundestagswahl vom 25. Januar 1987 kehrte er nicht mehr zurück. In seinen verschiedenen politischen Ämtern war er mit den führenden Staatsmännern der Welt zusammengetroffen – mit Kennedy und Kossygin, mit Heath, Nixon, Pompidou und vielen anderen. Barzel hat sich nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik noch mehr als zuvor dem Bücherschreiben zugewandt. Seine Werke erzielten hohe Auflagen und trugen ihm den Ruf des „Elder Statesman“ ein. Sie beschäftigten sich mit den Grundlagen christlich-demokratischer Politik, mit der Deutschen Frage und dem Problem der Wiedervereinigung (Plädoyer für Deutschland, 1988) oder hielten Rückschau auf die wichtigsten Stationen seiner bewegten politischen Karriere (Geschichten aus der Politik, 1987). Barzel erhielt bedeutende politische und gesellschaftliche Auszeichnungen, unter anderen das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband. Er lebte in Bonn-Bad Godesberg. Seine erste Frau starb 1980 an Krebs. Seit 1982 war er in zweiter Ehe mit seiner Parteikollegin Dr. Helga Henselder-Barzel verheiratet.
Werke: Es ist noch nicht zu spät. München und Zürich 1976. – Auf dem Drahtseil, München 1978. – Unterwegs. Woher und wohin? München und Zürich 1982. – Im Streit und umstritten. Anmerkungen zu Konrad Adenauer, Ludwig Erhard und den Ostverträgen. Frankfurt/M. und Berlin 1986. – Geschichten aus der Politik. Persönliches aus meinem Archiv. Frankfurt/M. und Berlin 1987. – Ermland und Masuren. Zu Besuch, aber nicht als ein Fremder. Freiburg/Br. 1988. – Plädoyer für Deutschland, Berlin und Frankfurt/M. 1989.
Lit.: Barzel: Koffer in Berlin. In: Der Spiegel, 17.04. 1963, S. 20 – 38. – Danwitz, Ludwig von: Apropos Barzel. Politische Anmerkungen. Düsseldorf und Wien 1972. – Dreher, Klaus: Rainer Barzel. Zur Opposition verdammt. München 1972. – Henkels, Walter: Bonner Köpfe in Wort und Bild. Düsseldorf und Wien 1981, S. 34 – 38. – So nicht! Für eine bessere Politik in Deutschland. Rainer Barzel im Gespräch mit Günther Scholz. Düsseldorf [u. a.] 1993. Rainer Barzel im Jahre 1982; Bildarchiv des Süddeutschen Verlages München.
Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Rainer_Barzel
Manfred Agethen