Biographie

Bauer, Gustav Adolf

Herkunft: Ostpreußen
Beruf: Gewerkschaftsführer, Reichskanzler
* 6. Januar 1870 in Darkemen/Ostpr.
† 6. September 1944 in Berlin-Hermsdorf

Mit deprimierter Ratlosigkeit rieben sich die Deutschen nach der Übergabe der Versailler Friedensbedingungen die Augen. Von den Verhandlungen waren sie ausgeschlossen gewesen; deutsche Gegenvorschläge sollten auch in Zukunft unbeachtet bleiben. Die Reichsregierung war durch Scheidemanns Wort von der „verdorrten Hand“ festgelegt und trat, als die Vertragsunterzeichnung von den Alliierten ultimativ gefordert wurde, in den frühen Morgenstunden des 20. Juni 1919 zurück. Hundert Stunden vor der für den Fall der Ablehnung angekündigten Wiederaufnahme des Krieges besaß das Deutsche Reich keine handlungswillige Regierung mehr!

Das in dieser Not geborene Kabinett war das Kabinett des Sozialdemokraten Gustav Bauer. Ob Bauer wirklich „der Kandidat der Verlegenheit in einer Krise, die eine rasche Regierungsbildung notwendig machte“, war, ist mehr als fraglich. Zwar erfolgte seine Ernennung in so frappierender Weise über den Kopf der SPD-Fraktion in der Nationalversammlung hinweg, daß die Abgeordneten eine Stunde vor der konstituierenden Sitzung des neuen Kabinetts von ihrem Parteivorsitzenden Hermann Müller noch eine rechtfertigende Erklärung verlangten; doch wird der Vorgang erst richtig verständlich, wenn man die entschiedene Mitwirkung des Reichspräsidenten in Rechnung stellt. Ebert hatte sich erst kurz vor dem Rücktritt des Kabinetts Scheidemann in einem Akt höchsten Pflichtbewußtseins zu einer der aussichtslosen Lage des Reichs angepaßten Unterzeichnungsbereitschaft durchgerungen. Bauer, dessen bisherige Gegnerschaft gegenüber einer Vertragsunterzeichnung bekannt war, befand sich in einer Ebert vergleichbaren Situation. Solidarität unter Parteigenossen und Verbundenheit zwischen politischen Freunden erklären sowohl das Angebot Eberts als auch die Bereitschaft Bauers, als Chef eines „Unterzeichnungskabinetts“ die Weltkriegsniederlage vor den Augen der Weltöffentlichkeit einzugestehen, entschieden besser als Hinweise auf die Persönlichkeit des jetzt in das Rampenlicht der großen Politik tretenden Ostpreußen, der, ganz passiver Wille, „dem Reichspräsidenten unbedingt ergeben“ gewesen sein soll.

Bauer wurde am 21. Juni 1919 zum „Präsidenten des Reichsministeriums“ ernannt. Mit Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung, die seine Unterschrift trägt, führte er seit dem 14. August 1919 als erster Sozialdemokrat überhaupt und als erster Regierungschef des republikanischen Deutschlands wieder den Titel eines „Reichskanzlers“. Bauer hatte damit die höchste Stufe einer bisher ruhig und stetig aufwärtsführenden, zunächst berufsständischen, dann gewerkschaftlichen und schließlich politischen Laufbahn erklommen. Er stand im Zenith seines Lebens. Am 6. Januar 1870 in der auf halbem Weg zwischen Insterburg und Goldap gelegenen Kleinstadt Darkehmen an der Angerapp als Sohn eines Gerichtsvollziehers geboren, fiel sein fünfzigster Geburtstag in seine Amtszeit.

Wer war dieser Mann, der in einer Schicksalsstunde der deutschen Geschichte in eines der wichtigsten Ämter, die die neugegründete Republik zu vergeben hatte, eintrat, und der dennoch in der Erinnerung der geschichtsbewußten Öffentlichkeit keine, in der deutschen Geschichtsschreibung nur verschwommene Spuren hinterlassen hat?

Nach dem Besuch der Volksschule in Königsberg hatte Bauer mit vierzehn Jahren als Bürogehilfe in verschiedenen Anwaltskanzleien selbst für seinen Lebensunterhalt sorgen müssen. Mit dreiundzwanzig Jahren war er zum Bürovorsteher aufgestiegen. Sein organisatorisches Talent wußte er zum Nutzen der Angehörigen seines Berufsstandes, der Privatbeamten und Angestellten, einzusetzen. 1895 gründete er den „Verband der Büroangestellten“ mit,wurde bald dessen ehrenamtlicher Vorsitzender und leitender Redakteur des Verbandsorgans Der Büroangestellte. Seit 1897 war er führend im Krankenkassenwesen seines Verbandes, seit 1904 im geschäftsführenden Ausschuß der Zentrale für das deutsche Krankenkassenwesen tätig. Ebenso setzte er sich für den Ausbau der Gewerkschaftsbewegung ein. Dank seiner sozialpolitischen Kenntnisse wurde er 1903 mit der Leitung des als Zentralstelle für alle Fragen der Arbeiterversicherung fungierenden Zentralarbeitersekretariats der Freien Gewerkschaften in Berlin betraut. Mit seiner Ernennung zum zweiten Vorsitzenden der Generalkommission der Freien Gewerkschaften rückte er 1908 in deren Führungsspitze auf. Als Gewerkschaftsführer trat er zusammen mit reformerischen sozialdemokratischen Politikern für die schrittweise Einfügung sozialistischer Gedanken in das Gebäude des kapitalistischen Wirtschaftssystems ein. Nachdem er 1912 für den Wahlkreis Breslau-Ost in den letzten kaiserlichen Reichstag gewählt worden war, gestaltete er während des Weltkriegs in enger und vertrauensvoller Zusammenarbeit mit Friedrich Ebert die sozialdemokratische Burgfriedenspolitik mit.

Als mit der Parlamentarisierung der Reichsregierung im Oktober 1918 die Zahl der Staatssekretäre unter den Mehrheitsparteien aufgeteilt und mit der Errichtung des Reichsarbeitsamtes eine von den Gewerkschaften seit langem erhobene Forderung realisiert werden sollte, verhandelten Gewerkschaftsvertreter und Reichstagsabgeordnete, ohne sich mit dem Vorsitzenden der Generalkommission, Carl Legien, zu verständigen, über die Besetzung des Postens und schlugen Gustav Bauer für den Eintritt in das Reichskabinett vor. Legien fühlte sich brüskiert und konnte nur mit Mühe von seiner Absicht, als Gewerkschaftsvorsitzender zurückzutreten, abgebracht werden. Bauer dagegen übernahm am 5. Oktober 1918 als erster sozialdemokratischer Politiker die Leitung einer Zentralbehörde des Deutschen Reichs. Die anderthalb Jahre später zu seinem Sturz als Reichskanzler entscheidend beitragende Haltung der immer noch von Legien geführten Gewerkschaften dürfte auf Animositäten, die aus diesen Vorgängen resultierten, mit zurückzuführen sein. Zunächst jedoch nahm Bauer neben Legien an den Besprechungen teil, die zur Anerkennung der Gleichberechtigung von Unternehmerverbänden und Gewerkschaften sowie zur Bildung einer zentralen Arbeitsgemeinschaft der Sozialpartner führten. Der revolutionäre Rat der Volksbeauftragten respektierte in Bauer den Fachmann für den mit der Demobilisierung rasch an Bedeutung gewinnenden sozialpolitischen Aufgabenbereich und beließihn in seinem Amt, das er vom 12. Februar bis zum 20. Juni 1919 als Reichsarbeitsminister im ersten Kabinett der Weimarer Republik fortführte.

Die menschlichen Konturen Bauers sind unscharf. 1911 heiratete Hedwig Moch. Ob er viele Freunde besaß, darf bezweifelt werden. Ihm „fehlte der Reiz der großen Persönlichkeit, er war ein trockener Geselle, der, was er dachte, mit primitiver Rücksichtslosigkeit vertrat“, urteilte die Historikerin der Arbeiterbewegung Hedwig Wachenheim. Mit dem Wandel zum „Nur-Politiker“, der nach der Novemberrevolution weitreichenden Sozialisierungsforderungen und Plänen zur Errichtung einer Wirtschaftsdemokratie entgegenstellte, entfernte er sich von den Gewerkschaften, die für ihn bisher eine Hausmacht dargestellt hatten. Es war vorauszusehen, daß ihm kaum einer den Opfermut danken würde, er am 22. Juni 1919 bekundete, als er vor der Nationalversammlung für sich und seine Regierung erklärte: „Wir stehen nicht aus Parteiinteresse und noch weniger (…) aus Ehrgeiz an dieser Stelle. Wir stehen hier aus Pflichtgefühl, aus dem Bewußtsein, daß es unsere verdammte Schuldigkeit ist, zu retten, was zu retten ist.“ In die Ohren drang vielen Zeitgenossen lediglich das Demütigende, das in diesen Worten lag, und in die Augen sprang die Unterwerfungsgeste, zu der er sich von der Nationalversammlung mit der Annahme des Versailler Vertrages ermächtigen lassen mußte. So schlug ihm von linker wie von rechter Opposition harte Gegnerschaft entgegen.

Das äußere Erscheinungsbild des breitschultrigen, schwerfällig wirkenden Ostpreußen mit dem großen blonden Schnurrbart und dem kurzgeschnittenen, hochgekämmten Haupthaar gab den gesellschaftlichen Gruppen, die dem Kaiserreich noch verhaftet waren, Anlaß, die in einer Berliner Zeitung genüßlich zitierte Äußerung eines Portiers der Reichskanzlei, „der jetzige Chef sehe eben wie ein ,Bürodirektor‘ aus“, zu kolportieren, um so ihrem Ressentiment gegen Bauers Herkunft Ausdruck und der verbreiteten Einschätzung des Kanzlers als einer „unter keinem Gesichtspunkt (…) hervorragenden Persönlichkeit“ Profil zu verleihen. Im Umgang gewann Bauer dort, wo er nicht mehr aus sich machte, als es seinen Anlagen entsprach, und wo er mit konstruktiver Sachlichkeit, sozialistischen Ideen und der Linie reformerischen Ausgleichs verpflichtet, über Parteiinteressen hinweg „in einer sehr schwierigen Übergangszeit nützliche Tagesarbeit“ leistete. Die eigentliche Regierungspolitik wurde von Kabinettsmitgliedern mit größerer persönlicher Ausstrahlung – Erzberger und Noske – weit stärker geprägt. Ihm unterstellte man oft einen Mangel an Entschlußkraft und Führungswillen. Er verzichtete aber nicht darauf, sein sachverständiges Urteil zu behaupten und Kompetenzüberschreitungen oder Alleingänge seiner Minister – wenn es sein mußte „sehr massiv“ – zu zügeln. In des Kanzlers kleinem Finger stecke „mehr diplomatischer Sinn als in dem Schädel der meisten Berufsdiplomaten“, vertraute der demokratische Reichsinnenminister Koch seinem Tagebuch an und bescheinigte Bauer, den er Anfang August 1919 noch als „die Unzulänglichkeit in Person“ glaubte disqualifizieren zu müssen, ein gewisses Maß an „Staatsmännischen Eigenschaften“, das auch andere Beobachter aufgrund ihrer Zusammenarbeit mit dem Kanzler diesem zuzuerkennen bereit waren.

Andererseits ging Bauer oft die Fähigkeit ab, in entscheidenden Fragen die notwendige Orientierung zu behalten. So leitete die ihm fast bis zuletzt verborgen bleibende Verbindung opponierender Offiziere um General von Lüttwitz mit dem Möchtegern-Kanzler Kapp aus Königsberg nicht von ungefähr seinen Sturz ein. Reichsregierung und Nationalversammlung mußten vor dem Treiben der eidbrüchig-undisziplinierten Putschisten im März 1920 vorübergehend nach Stuttgart fliehen. Gegen Teile der Arbeiterschaft, die unter dem Eindruck des reaktionären Aufstandsversuchs die Rätebewegung neu zu beleben und den Generalstreik auszudehnen versuchten, setzte Bauer erneut die illoyalen Truppen ein. Es waren die Gewerkschaften, aus denen er einmal hervorgegangen war, die daraufhin am 27. März 1920 seinen Rücktritt erzwangen: „Er war eben nicht der Mann, um eine kritische Situation zu meistern und um die nach allen Seiten geschwächte Autorität wiederherzustellen“ (Otto Geßler).

In dem Nachfolgekabinett unter Hermann Müller übernahm Bauer als „Sprachrohr Eberts“ das Schatz- und das Verkehrsministerium und 1922, unter dem Zentrumspolitiker Josef Wirth, mit dem Schatzministerium das Vizekanzleramt. Seit Ende 1922 war er, jetzt nur noch Kandidat der SPD, einfacher Reichstagsabgeordneter für den Wahlkreis Magdeburg. Das Vorspiel zu seinem ruhmlosen Ende reichte in seine Reichskanzlerzeit zurück, als er dem inNiederlanden lebenden jüdischen Kaufmann Julius Barmat, der in der anhaltenden Notzeit Lebensmittel aus dem Ausland nach Deutschland schaffen ließ, Einreisevergünstigungen verschafft hatte.Später von Barmat erhaltene „Beraterhonorare“ in Gulden und Dollar, die er in der Zeit der Hochinflation gewinnbringend verkaufte, wurden publik, als das Barmat-Unternehmen Ende 1924 zusammenbrach. Die SPD-Mitglieder gerieten in helle Empörung, obwohl sich Bauer nicht gesetzwidrig verhalten hatte, schloß der Berliner Parteivorstand ihn wegen parteischädigenden Verhaltens aus der SPD aus. Ein Schiedsgericht hob den Beschluß mit der Maßgabe auf, daß das politische Leben des früheren Reichskanzlers damit zu Ende sei. Bauer erhielt eine Beschäftigung bei der Berliner Wohnungsfürsorge. Letztmalig tauchte sein Name in der Öffentlichkeit auf, als die Nationalsozialisten ihn unter dem intriganten Vorwurf der Veruntreuung von Steuermitteln im Mai 1933 für einige Wochen inhaftiert hielten. Bauer starb isoliert und vergessen am 16. September 1944 im Norden Berlins.

Lit.: Akten der Reichskanzlei – Weimarer Republik: Das Kabinett Bauer, bearb. von Anton Golecki, Boppard am Rhein 1980, Einleitung, S. XIX-XC. – Arnold Brecht: Aus nächster Nähe. Lebenserinnerungen 1884-1927, Stuttgart 1966, S. 296f. – Ernst Deuerlein: Deutsche Kanzler von Bismarck bis Hitler, München 1968, S. 258 – 269. – Johannes Fischart (d.i. Erich Dombrowski): Das alte und das neue System, Bd. II, Berlin 1920, S. 131 – 142. – Otto Geßler: Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit, hrsg. von Kurt Sendtner, Stuttgart 1958, S. 374 f. – Neue Deutsche Biographie, Bd. l, Berlin 1953, S. 638. – Ernst Troeltsch: Spektator-Briefe. Aufsätze über die deutsche Revolution und die Weltpolitik 1918/22, hrsg. von H. Baron, Tübingen 1924, S. 70. – Martin Vogt: Gustav Adolf Bauer, in: Wilhelm von Sternburg (Hrsg.): Die deutschen Kanzler von Bismarck bis Schmidt, Königstein/Ts. 1985, S. 177 – 190.

Bild: Gustav Bauer um 1920; Bildarchiv Stiftung Preußischer Kulturbesitz.

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Gustav_Bauer

Anton Golecki