Biographie

Berliner, Abraham

Herkunft: Posener Land
Beruf: jüdischer Theologe
* 1. Mai 1833 in Obersitzko/Posen
† 26. April 1915 in Berlin

Die Stadt Obersitzko (Obrzycko) im Posener Kreis Samter (Szamotuły) war eine adelige Stadt. Sie erhielt das Stadtrecht im Jahr 1458, verlor es bis 1580 aber wieder, weil sich der Ort nicht wie erwartet zu einer wirklichen Stadt entwickelte. Erst mit der zweiten Stiftung des Magdeburger Stadtrechts am 24. März 1638 wurde Obersitzko zu einer kleinen städtischen Siedlung durch die Aufnahme von Kriegs- und Glaubensflüchtlingen. Der Ort war im Besitz der Magnatenfamilie Radziwiłł h. Trąby. Der Gründer, Krzysztof v. Radziwiłł (1585-1640), war Wojewode von Wilna (Vilnius), Großhetman von Litauen und 1632 Marschall des polnischen Sejms – also ein vielbeschäftigter und mächtiger Mann. Bei der Erneuerung des Stadtrechts für Obersitzko griff er auf den deutsch-polnischen Adeligen Johann Georg v. Schlichting auf Gurschen (Gurzno, Kr. Frau­stadt) zurück, der die Stadt Schlichtingsheim (Szlichtyngowa) an der Grenze zum schlesischen Glogau (Głogów) zu dieser Zeit gründete und hier ebenfalls schlesische Kriegs- und Glaubensflüchtlinge ansiedelte.

Im Gefolge der ersten Siedler kamen oftmals auch Juden, die vom Adel durchaus gern gesehen waren, da sie ihnen eine gute steuerliche Zusatzeinnahme versprachen. Auch in der sich zur Tuchmacherstadt entstehenden Stadt Obersitzko gab es schon bald eine jüdische Gemeinde. Im Jahr 1750 wird ihre Zahl mit 195 Bewohnern benannt. Bei der Übernahme des Posener Landes durch die Preußen infolge der 2. Teilung Polens stellen sie die Zahl von 476 (1793) fest. Seine höchste Größe erreichte die Gemeinde im Jahr 1840 mit der Einwohnerzahl von 606 Personen. Seither sank der Anteil der Juden durch die Abwanderung nach Westen bis hin zur Auswanderung nach Übersee als Folge der Emanzipationsgesetze für Juden in Preußen.

Die Juden in Obersitzko erhielten am 11. November 1746 ein Privileg verliehen. Bereits zuvor besaß die Gemeinde hier eine Synagoge, die 1843 erneuert wurde. Seit Ende des 19. Jahrhunderts jedoch konnte sie sich keinen Rabbiner mehr leisten, da die Gemeinde zu klein geworden war.

Zu den jüdischen Familien in Obersitzko gehörten auch die Vorfahren von Abraham Berliner. Die Familie nahm den Nachnamen Berliner an. Jakob Berliners († nach 1818) Sohn Hirsch Berliner († 1849) wurde Lehrer und gründete mit Pauline Struck eine Familie.

Am 1. Mai 1833 wurde ihr Sohn Abraham Berliner in Obersitzko geboren. Seine erste schulische Ausbildung erhielt er durch seinen Vater. Es schloss sich daran die Ausbildung zum Rabbiner an. Als der Vater früh starb, trat er dessen Nachfolge als Lehrer an und vollendete so seine Ausbildung durch Berufspraxis.

Im Jahr 1858 erhielt er eine Anstellung als Prediger und Lehrer im brandenburgischen Arnswalde (Choszczno), wo er weitere Kenntnisse erwarb, so dass er 1865 ein Philosophiestudium in Leipzig beginnen konnte, obwohl er ein wissenschaftlicher Autodidakt war. 1866 wurde Berliner bekannt durch seine kritische Ausgabe zum Kommentar des mittelalterlichen Autors Raschi zum Buch Pentateuch der Bibel. Der französische Rabbiner Schlomo ben Jizchak (1040-1105), der unter dem Akronym Raschi (für Rabbi) bekannt wurde, verfasste einen Kommentar des Tanach und Talmuds. Er war einer der bedeutendsten jüdischen Gelehrten des Mittelalters und beeinflusste mit seinem Kommentar auch christliche Exegeten.

Die Schrift Berliners erregte an der Universität Leipzig Aufsehen und der evangelische Theologe und herausragende Kenner der hebräischen Sprache Prof. Dr. Franz Delitzsch (1813-1890) setzte sich dafür ein, dass er promovieren konnte. Bereits 1867 schloss Berliner seine Dissertation erfolgreich ab und konnte anschließend mit staatlicher Unterstützung eine Forschungsreise nach Italien antreten.

Delitzsch war eine schillernde Persönlichkeit. Ihm wurde eine jüdische Herkunft unterstellt, da ein jüdischer Antiquar den Sohn armer Leute erheblich unterstützte und sein Studium finanzierte. Er wurde evangelischer Theologe und Wissenschaftler, der sich für die Förderung der christlichen Judenmission einsetzte und sie auf theologisch-wissenschaftliche Basis stellen wollte. Ob er bei Berliner missionarische Absichten verfolgte, ist nur zu vermuten. Erfolgreich war er damit jedenfalls nicht, wie der weitere Lebensweg Berliners zeigte. In dem Lexikoneintrag von Rengstorf wird jedoch als zweiter Name Berliners neben dem biblisch-jüdischen Abraham der Name Adolf aufgeführt, der vielleicht nur eine Anpassung an die damalige antisemitische Gesellschaft sein kann.

1873 ging Berliner nach Berlin und nahm die Stelle als Dozent für jüdische Geschichte und Literatur an dem neubegründeten Rabbinerseminar zu Berlin an, das orthodox ausgerichtet war. Er vertrat selber ein streng konservatives Judentum, war aber in allen Fragen der Wissenschaft offen. 1874 war er Begründer und bis 1893 mit David Hoffmann Herausgeber des Magazins für die Wissenschaft des Judentums, das er anfangs unter dem Titel Magazin für jüdische Geschichte und Literatur als Redakteur geleitet hatte.

Berliner verfasste zahlreiche Bücher von zum Teil grundlegendem Charakter, so u.a. eine kritische Ausgabe des Targum Onkelos (1884) und eine Geschichte der Juden in Rom, die 1893 in zwei Bänden erschien. Im Jahr 1900 erschien seine geschichtliche Darstellung Aus dem Leben der deutschen Juden im Mittelalter.

Berliner begründete die orthodoxen Berliner Adass Jisro’el-Gemeinde und fungierte als Vorsitzender ihrer Repräsentantenversammlung. Seit 1885 war er Mitglied der jüdischen Literaturgesellschaft „Mekize Nirdamim“, dann deren Direktor.

Anlässlich seines 70. Geburtstages ehrte ihn die preußische Regierung und ernannte ihn zum Professor. Auch Italien würdigte ihn für seine Forschungen in Rom und Italien und er wurde Ritter des italienischen Kronenordens.

Lit.: Michael Brocke/Julius Carlebach, Biographisches Handbuch der Rabbiner, Teil 1, Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und großpolnischen Ländern 1781-1871, 2 Bd., bearbeitet von Carsten Wilke und Teil 2, Die Rabbiner im Deutschen Reich 1871-1945, bearbeitet von Katrin Nele Jansen, München 2004. – Wilfried Gerke, Posener biographisches Lexikon, Lüneburg 1975. – Aaeon Heppner/ Isaak Herzberg, Aus Vergangenheit und Gegenwart der Juden und jüdischen Gemeinden in den Posener Landen, Band 1, Koschmin, Bromberg 1909, Band 2, Breslau 1929. – Rengstorf, Karl Heinrich, Berliner, Abraham, in: Neue Deutsche Biographie, Band 2, Berlin 1955, S. 98f. – J. Wirth, Professor Dr. A. Berliner: die festlichen Veranstaltungen zur Feier seines 70-jährigen Geburtstages, 1903.

Bild: Jüdische Enzyklopädie 1906. – Wikipedia.

Martin Sprungala