Helmut Berve wurde als Sohn eines westfälischen Juristen und späteren Inhabers eines schlesischen Bankhauses, das schließlich in der Deutschen Bank aufging, geboren. Er besuchte das Elisabeth-Gymnasium zu Breslau und begann auch sein Studium der Klassischen Philologie, der Alten Geschichte, der Klassischen Archäologie und der Kunstgeschichte in der Heimatstadt. Wegen schwerer Erkrankung seit dem Winter 1915/16 vom Heeresdienst befreit, arbeitete er bis 1919 am Breslauer Friedrichs-Gymnasium als Hilfslehrer. Zugleich studierte er unter anderen bei Cichorius, Walter Otto und Kornemann. Dann wechselte er nach Marburg, Freiburg i.Br. und 1921 nach München über, wo er wieder auf Walter Otto traf, der dort seit 1918 lehrte und ihn im selben Jahr schon mit einer Dissertation über Alexander den Großen promovierte. Nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin bei dem berühmten Papyrologen und Althistoriker Ulrich Wilcken habilitierte er sich 1924 in München mit der Arbeit Das Alexanderreich auf prosopographischer Grundlage.
Es handelte sich dabei um eine monographische Behandlung aller mit dem Makedonenkönig in Kontakt gekommenen Zeitgenossen anhand der antiken Quellen, auf der im Hauptteil eine systematische Darstellung des königlichen Hofes, der Heeresorganisation und der Verwaltung des riesigen Reiches aufbaute. Das wegen seiner Quellen- und Stoffülle, seines abwägenden Urteils und seiner sprachlichen Gestaltung bis heute für die Forschung grundlegende Buch erschien 1926 in zwei Bänden. Es machte den erst 30jährigen sofort berühmt und trug ihm bereits 1927 den angesehenen Lehrstuhl für Alte Geschichte an der Universität Leipzig ein. Dort, im Kreise meist viel älterer Kollegen, setzte sich Berve rasch durch. Aufgrund seiner Studien über das so stark künstlerisch und geistig bestimmte, aber im Grunde unpolitische Ionien in der griechischen Geschichte (Neue Jahrbücher 14, 1927*) und seiner Forschungen zu dem so ganz andersartigen, nämlich zielgerichteten und eng geschlossenen Kosmos von Sparta als der bestimmenden Lebensform der Dorier (Sparta, 1937*) wurde er weithin bekannt. In seiner brillanten zweibändigen Griechischen Geschichte (1931, 1933, 19502, TB 1959), die auf dem fruchtbaren Gegensatz zwischen Doriern und Ionern und damit auf deren jeweiliger Individualität aufbaut und die Hellenen in ihrer historischen Eigenart zu erfassen sucht, vertiefte er diese Sicht, in der er auch eine Synthese zwischen Kultur- und politischer Geschichte anstrebte. Das Buch fand nicht zuletzt wegen der distanzierten und doch in Form und Inhalt klangvollen und geschliffenen Sprache bei einem breitgestreuten Publikum Anerkennung. Berve wurde 1932 zum ordentlichen Mitglied der Sächsischen Akademie der Wissenschaften gewählt, die Universität Athen ernannte ihn 1937 zum Ehrendoktor. Übersetzungen in die italienische und holländische Sprache folgten.
Man spürte, daß hier ein Gelehrter am Werke war, dem Geschichtsschreibung als Aufgabe, als Hilfe zur Bewältigung der eigenen Zeit galt. In der griechischen Geschichte – der römischen hat er sich nur in der Lehre stärker zugewandt – glaubte Berve jene Beispielhaftigkeit zu finden, die trotz aller in ihr wirksam gewordenen Eigengesetzlichkeit und Unwiederholbarkeit auch den heutigen Menschen noch etwas lehren könne: den Sinn für die Wirklichkeit, den Willen zum Idealen, die Ordnung des klaren Geistes und die Schönheit der reinen Form. Der naheliegenden Versuchung, von hier aus die Antike zu idealisieren, ist Berve jedoch nicht erlegen. Wohl war seine Wertung der Dinge höchst lebendig, spürte man allenthalben ein tiefes, ganz persönliches Verhältnis zum Gegenstand seiner Forschungen, aber sein Blick für Fehler und Schwächen, für Verirrungen und Entartungen blieb ungetrübt. Die Bewahrung des rechten Maßes, den Hellenen oberstes Gebot, das sich in der antiken Kunst widerspiegelt, blieb sein alleiniges Kriterium. Seine Hinwendung zur politischen Geschichte erklärt sich daraus, daß für ihn der antike Mensch vor allem ein politisch engagierter Bürger war, der sich in den Auseinandersetzungen und Forderungen des Tages zu bewähren und zu behaupten suchte, – verantwortlich vor sich selbst und gegenüber der staatlichen Gemeinschaft, in die er sich eingebunden wußte. Eigene, zum Teil schmerzliche Erfahrungen haben ihm dafür mehr und mehr den Blick geschärft.
Zunächst zogen Berve große Einzelpersönlichkeiten an und reizten zu Studien: nach Alexander dem Großen die Römer Sertorius (1929) und Sulla (1931*), die Fürstlichen Herren zur Zeit der Perserkriege (1936*), Augustus (1934*), Miltiades, dessen „Hausmacht er als Vorstufe einer Tyrannis“ empfand (1937), und sein Ideal als Staatsmann, Perikles (1940*). Das entsprach auch der Zeitströmung, der er sich nicht entzog, nicht entziehen wollte. Das Amt eines Prorektors (1937-39) und Rektors (1940-43) der Leipziger Universität übte er getragen vom Vertrauen fast aller Kollegen aus und scheute auch Konflikte mit dem NS-Gauleiter Sachsens nicht. Freilich hat Helmut Berve, bei aller persönlichen Integrität, als Parteigenosse dem damaligen Staat zweifellos Konzessionen gemacht und Äußerungen – auch schriftliche – getan, die später peinlich wirkten und die er im privaten Gespräch bedauerte, ohne sich davon zu distanzieren, weil er dies für würdelos hielt. Das von ihm 1942 herausgegebene Sammelwerk Das neue Bild der Antike in zwei Bänden, an dem viele Fachgenossen mitarbeiteten, läßt allerdings von dieser Anpassung wenig spüren, auch nichts von der sonst keineswegs unüblichen Deutung der Punischen Kriege als einer Auseinandersetzung zwischen Semiten und Ariern. Andererseits gelang es Berve, die Theologische und den hohen Stand der Juristischen Fakultät trotz mancher Pressionen der Partei zu bewahren und unabhängige Gelehrte wie den Philosophen Gadamer oder den Altphilologen Reinhardt für Leipzig zu gewinnen.
1943 erfolgte der Ruf als Nachfolger seines Lehrers W. Otto nach München, den Berve annahm. Bei der Übersiedlung verlor er durch einen Fliegerangriff seine wertvolle Bibliothek. Seit 1944 ordentliches Mitglied auch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, wurde er 1945 von der US-Militärregierung aus seinem Lehramt entlassen. Erst 1948 „entnazifiziert“, lehrte er vom November 1949 an wieder als unbesoldeter Privatdozent und ohne weitere Einkünfte in München. Er nutzte diese Zeit zu einer Neubearbeitung der Griechischen Geschichte(19502). Ein Forschungsauftrag der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur, die ihn 1949 zum korrespondierenden Mitglied gewählt hatte, sowie ein Lehrauftrag 1950 bis 1954 an der damaligen Philosophisch-theologischen Hochschule, seit 1967 Universität Regensburg sicherten eine bescheidene Existenz, bis er 1954 auf die Professur für Alte Geschichte der Universität zu Erlangen berufen wurde. Dort wirkte er bis zu seiner Emeritierung 1962 und fand dann eine neue Heimat in Hechendorf am oberbayerischen Pilsensee. 1960 wählten ihn die deutschen Althistoriker zum Vorsitzenden der Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik in München, die er 1967 in das Deutsche Archäologische Institut überleiten konnte und so die Zukunft einer der wichtigsten Forschungsstätten in der deutschen Bundesrepublik sicherte.
Hatte Helmut Berve mit seinem 1949 erschienenen Sammelband Gestaltende Kräfte der Antike (2., erweiterte Auflage 1966) noch einmal versucht, Maß und Ordnung des um die Verwirklichung hoher sittlicher und religiöser Ideale ringenden Griechentums als vorbildhaft aufzuzeigen, den Nomos, das Gesetz, die Ordnung der Hellenen und ihren agonalen Geist als Antriebskraft, so wandte sich sein Interesse nach dem Kriege doch immer mehr der Frage nach Wesen und Gestalt der griechischen Tyrannis zu. Nach mehreren umfangreichen Einzelstudien über sizilische Gewaltherrscher (Agathokles [1953], Dion [1956*], Hieron II.[1959]) und einem ersten zusammenfassenden Artikel über Die Wesenszüge der griechischen Tyrannis (Historische Zeitschrift 177, 1954*) erschien 1967 das zweibändige Werk Die Tyrannis bei den Griechen. Er schrieb es „im Hinblick auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts und eigenen Erlebens“, trotz frappierender Ähnlichkeiten aber mit einer klaren Abgrenzung gegenüber den modernen Diktaturen. Denn der Tyrann schien Berve nicht der Träger sozialer, politischer, nationaler oder quasi-religiöser Ideen, sondern eine ausschließlich auf Machterwerb und Machtbehauptung abzielende Einzelpersönlichkeit, gleichsam illegal neben dem Nomos und der Polis stehend, jedoch ohne fanatischen Gewissenszwang und ohne die totale Durchdringung der privaten Lebenssphäre der Bürger. Man hat dem Verfasser den von ihm vorausgesehenen Vorwurf des Positivismus gemacht, aber in seiner durch die Quellen untermauerten Gesamtschau wird dieses Buch ebenso ein Standardwerk bleiben wie das Alexanderreich, dem es in Anlage und Methode nahesteht.
Eine große Anzahl von Aufsätzen, Vorträgen, Rezensionen und Artikeln in wissenschaftlichen Handbüchern rundet das Lebenswerk Berves ab. Sie sind häufig grundlegend für weitere Forschungen geworden und haben oft ob ihrer Thesen heftige, aber meist fruchtbare Diskussionen ausgelöst. Andere Pläne, etwa ein Buch über das delphische Orakel*, über die Geschichte Athens oder die Sammlung „letzter Worte“ bedeutender Persönlichkeiten blieben liegen. Hingegen hielt er 1967 einen Festvortrag in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zu München über Friedensordnungen in der griechischen Geschichte, der über das fachwissenschaftliche Anliegen hinaus zum Nachdenken anregen sollte, auch wenn man aus der Geschichte keine Rezepte für die Tagespolitik gewinnen könne und der Historiker kein Prophet sei.
Stets hat Berve eine große Zahl von Studierenden und Doktoranden angezogen. Denn er war nicht nur ein hervorragender Gelehrter, sondern auch ein begeisternder Lehrer, was nicht allzu häufig vorkommt. Nicht wenige seiner Schüler lehrten später an deutschen und ausländischen Universitäten. Ob in Leipzig, München oder Erlangen, überall wurde er als akademischer Lehrer verehrt. Nicht zuletzt deshalb, weil er trotz hoher Anforderungen und bei aller Strenge wissenschaftlicher Kritik und einer unverkennbaren Sprödigkeit doch immer Güte, Hilfsbereitschaft und echte persönliche Anteilnahme spüren ließ, besonders im häuslichen Kreis, zu dem er gerne junge Menschen hinzuzog. Er bildete keine eigentliche Schule, weil er nie jemanden den wissenschaftlichen Weg vorschrieb. Er verlangte vielmehr, daß ihn jeder seiner Schüler seinen Anlagen gemäß selbst finden müsse und förderte ihn dann erst nach Kräften, – auch dies zu den Pflichten eines Hochschullehrers zählend, ebenso das Zuhören. Seine frei gehaltenen, sprachlich geschliffenen Vorlesungen setzte er gerne von 7.30-9 Uhr an, das Seminar abends, um so tagsüber mehr Zeit für ungestörte wissenschaftliche Arbeit zu haben, bei der die Rezensionstätigkeit einen breiten Raum einnahm. Er sorgte sich um die Weiterbildung der Gymnasiallehrer, hielt Vorträge an Volkshochschulen und in Historischen Vereinen.
Nicht nur durch das gemeinsam mit G. Gruben und M. Hirmer herausgegebene Buch Griechische Tempel und Heiligtümer (1961), sondern auch als gesuchter Reiseleiter für Studienfahrten wirkte Berve weit über die Universität und seinen großen Freundeskreis hinaus. Ihm blieb die Vermittlung des antiken Erbes, der humanistischen Bildung wichtig in einer Zeit, die an Unruhen und Umwälzungen mit der Antike manches gemein hatte. Die Frage nach dem menschlichen Verhalten und Fehlverhalten beschäftige Berve bis in seine letzten Jahre. So las er den römischen Schriftsteller Cassius Dio, weil er wissen wollte, wie sich ein hochgebildeter Grieche als römischer Beamter zu der Gewaltherrschaft eines Caracalla und Elagabal gestellt habe: „Das Wesentlichste ist mir der Mann selbst und sein Verhalten.“ Das gilt wohl auch für Berve selbst, sein Verhältnis zu seinen Freunden und Schülern und für sein Urteil über die handelnden Persönlichkeiten in der antiken Geschichte.
Werke: Ein Schriftenverzeichnis fehlt. Die mit * gekennzeichneten Arbeiten sind in dem Band „Gestaltende Kräfte der Antike“, 2. Auflage 1966, abgedruckt. Alle in Buchform erschienenen Werke sind im Text aufgeführt.
Lit.: E. Buchner, P.R. Franke: Nachwort zu „Gestaltende Kräfte der Antike“ 19662, S. 485-488. – H. Bellen: Nachruf auf Helmut Berve, Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, 1979, S. 80-82. – H. Bengtson: Helmut Berve †, Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 1979, 1-6. – F. Hampl: Helmut Berve †, Gnomon 1979, S. 413-415. – A. Heuß: Helmut Berve †, Historische Zeitschrift 230, 1980, S. 781-787.
Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Helmut_Berve
Bild: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, 1979.
Peter Robert Franke