Biographie

Bielschowsky, Albert

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Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Literarhistoriker
* 3. Januar 1847 in Namslau/Sschlesien
† 21. Oktober 1902 in Berlin

”Herman Grimms Goethe-Buch, das zuerst im Herbst 1876 im Druck erschien, hat alle ähnlichen Werke vor ihm und nach ihm überlebt”, erklärte Ernst Beutler 1940 ohne Umschweife zur Neuausgabe von Das Leben Goethes von Grimm und fuhr fort: ”Auch heute wird man auf die so oft gestellte Frage nach der besten Goethe-Biographie immer zuerst dieses Buch nennen. Dies gilt gleicherweise, ob ein Leser sich zum erstenmal zur Beschäftigung mit Goethe leiten lassen oder ob ein anderer, nach langem Umgang mit Goethes Werken und mit den Dokumenten seines Lebens, sein eigenes Verstehen an dem eines überlegenen Führers messen will.”

Aussagen einer so entschiedenen Art waren bereits zum damaligen Zeitpunkt, während des Zweiten Weltkrieges, schon fragwürdig; heute ist nach der Relevanz solcher Werke zu fragen, die später erschienen sind und weit mehr um den ”inneren Wesenskern” des Dichters kreisen als das Grimmsche Buch: der Relevanz von Chamberlains Goethe (1912), von Gundolfs Goethe (1916) – ein Werk, das Wolfgang Leppmann als ”ein Meisterwerk der deutschen Biographik” bezeichnet – und der von Korffs Geist der Goethezeit (1923 bis 1953), um nur einige bedeutende herauszugreifen. Es sind dies Werke, die weitgehend vergessen oder gänzlich unbekannt sind und zu denen der heutige Leser, der sich Goethe nähern möchte, kaum greifen dürfte. Von dem ”Kulturschwund der unheimlichsten Art”, von dem Thomas Mann in seiner Schiller-Rede von 1955 sprach und hierbei besonders ”einen Verlust an Bildung” konstatierte, ist das Erbe der Goethezeit besonders hart betroffen; bestenfalls drapiert man sich mit Bildungsgut. Es bleibt beim Dekorum. Gerade diese Erfahrung machte Albert Schweitzer bereits 1899 in Berlin, als ihm im Kreis um Herman Grimm Zweifel an der modernen Kulturentwicklung beschlichen, obwohl hier noch etwas vom Goethe-Geist in echter und lebendiger Form vorhanden war.

Von Albert BielschowskysGoethe. Sein Leben und seine Werke weiß man heute erst recht nichts mehr. Der erste Band des Werkes erschien 1896, während der zweite Band erst 1904, nach dem Tode des Verfassers von Th. Ziegler ergänzt, veröffentlicht wurde. Wird in Meyers Großem Konversations-Lexikon von 1909 noch mit einiger Ausführlichkeit des Autors gedacht, dessen Werk, ”durch wissenschaftliche Gründlichkeit und gefällige Darstellung gleichmäßig ausgezeichnet,… als die zur Zeit beste Goethebiographie bezeichnet werden” könne, so kommt Bielschowsky in der Brockhaus-Enzyklopädie von 1968 als ”Verfasser einer volkstümlichen Goethe-Biographie” immerhin noch vor. In dem von Klaus Ullmann herausgegebenen Schlesien-Lexikon (Würzburg 1989) fehlt er hingegen vollständig, ebenso in Bertelsmann Neuem Lexikon von 1996. Auch den meisten Germanistik-Studenten ist er kein Begriff mehr. Das dürfte freilich ebenso für Goethe-Biographien von Autoren wie Richard Meyer, Heinemann, Wolff, Haarhaus, Witkowski, Geiger und Engel gelten, die in den Jahren 1894 bis 1909 erschienen sind.

Albert Bielschowsky, der aus einer angesehenen jüdischen Kaufmannsfamilie stammte, studierte nach dem Abitur, das er in seiner Vaterstadt ablegte, an der Breslauer Friedrich-Wilhelms-Universität und an der Universität Berlin Philologie; er wurde 1869 in Breslau promoviert und war von 1870 bis 1886 in Brieg im höheren Schuldienst tätig. Nach Auflösung seiner Schule siedelte er nach Berlin über, wo er sich ausschließlich wissenschaftlicher Arbeit widmete. In Brieg hatte sich seine Hinwendung zur deutschen Literatur vollzogen, vor allem wurde Goethe der Gegenstand seiner literaturwissenschaftlichen Forschungen. Daraus erwuchs sein Goethe, der 1922 in 42. Auflage erschien. Walther Linden hat später eine Überarbeitung vorgenommen (1928; 148. und 149. Tausend der Gesamtauflage). Sicherlich war hier ein Goethe-Buch entstanden, das eine souveräne Kenntnis des großen Gegenstandes und umfangreichen Stoffes zeigte – und daher von der Literaturwissenschaft wohlwollend aufgenommen wurde – , wenngleich der Verfasser in weitaus stärkerem Umfang als er begründen konnte, Züge Goethes oder ihm nahestehender Personen in Bühnenfiguren des Dichters wiederzuerkennen meinte (Iphigenia – Charlotte von Stein, Leonore Sanvitale – Anna Amalia). Neben dieser methodischen Fragwürdigkeit steht ein Denken in gar zu konventionellen Kategorien, das den Verfasser oft genug daran hinderte, die Beweggründe der Goetheschen Menschen zu erfassen und zu verstehen sowie zum Kern der Konflikte vorzudringen, in die sie gerieten. Wenn Bielschowsky die Bindung der jungen Ottilie an Eduard, einen älteren, welterfahrenden Mann, als ”unglaublich” bezeichnete, so wird das schon seiner Zeit als veraltet empfunden worden sein.

Es ist durchaus ein Vorzug von Bielschowskys Goethe-Buch, daß er einige Schwächen des Dichters benennt, wenngleich manches dabei – aus heutiger Optik – unscharf oder gar unwesentlich erscheinen mag. ”Goethe hatte von allem Menschlichen eine Dosis empfangen”, heißt es einmal, ”und war darum der menschlichste aller Menschen. Seine Gestalt … war ein potenziertes Abbild der Menschheit an sich. Demgemäß hatten auch alle, die ihm näher traten, den Eindruck, als ob sie noch nie einen so ganzen Menschen gesehen hätten.” Und: ”Diese wunderbare, vollkommene Mischung seiner Natur gibt ihr den Charakter des Außerordentlichen und bedingt zugleich ihre gegensätzlichen Erscheinungen. Die Gegensätzlichkeit aber ist es, die es den meisten so erschwerte und noch erschwert, eine sichere, zutreffende Anschauung von ihm zu gewinnen.”

Bei allen Mängeln, die Bielschowskys Goethe-Darstellung aufweist (und die sie uns heute als ”verstaubt” und als unvollständig erscheinen lassen müssen, was manches schiefe Urteil zu Goethes naturwissenschaftlichen Arbeiten, seinen staatsmännischen Aktivitäten, auch seinem Denken angeht), bleibt sein Goethe-Buch eine bemerkenswerte Leistung und kann weiterhin nützlich sein im Ringen um manches Detail für unsere Goethe-Adaption. Für dieses Buch trifft zu, was Wolfgang Leppmann von ihm sagt; es gebe ”ein Bild [Goethes] mit liebevollem Eingehen aufs einzelne, mit einem tiefen Gefühl für das Einzigartige an diesem Menschen und Dichter und mit enzyklopädischem Wissen.”

Werke: Friederike Brion, Breslau 1880. – Das Schwiegerlingsche Puppenspiel vom Dr. Faust, Brieg 1882 (kommentierte Ausgabe). – Geschichte der deutschen Dorfpoesie im 13. Jahrhundert (Bd. 1: Leben und Dichten Neidharts von Reuenthal, Berlin 1890). – Über  Echtheit und Chronologie der Sesenheimer Lieder, in: Goethe-Jb. 1891. – Friederike und Lili, hrsg. von G. Klee (o.g. Schrift über Friederike und Aufsätze), München 1906.

Lit.: G. Witkowski, A.B., in: Goethe-Jb.24, 1903, S. 285-89. – G. Klee, A.B., Biographisches Jahrbuch und Deutscher Nekrolog VII, S. 212 bis 128. – Kosch, Li.-Lex. I. – Neue Deutsche Biographie, Bd. 2 (W. Kunze), Berlin 1955. – Wolfgang Leppmann. Goethe und die Deutschen. München-Leipzig 1994. S. 103 ff.

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Albert_Bielschowsky

Günter Gerstmann