Biographie

Biemel, Walter

Herkunft: Siebenbürgen
Beruf: Philosoph
* 19. Februar 1918 in Kronstadt/ Siebenbürgen
† 6. März 2015 in Aachen

Die Liebe und Leidenschaft zur Musik waren dem Sohn des Direktors der Kronstädter Philharmonie gleichsam in die Wiege gelegt. Philosophische Reflexion und die Leidenschaft für das Gespräch wurden seine zweite Natur.

Walter Biemel studierte, zunächst zwischen 1937 und 1941, in Bukarest Philosophie, daneben Psychologie, Soziologie und Kunstgeschichte. Die ganze Breite seiner Interessen zeichnet sich bereits im Rayon der gewählten Fächer ab. Einer seiner akademischen Lehrer war der Religionswissenschaftler Mircea Eliade.

1942 wechselte Biemel nach Freiburg im Breisgau. Hier folgt die entschiedene und für den weiteren Weg Weichen stellende Konzentration auf die Philosophie im Studium bei Martin Heidegger. Zum Kriegsdienst wurde er, in Folge einer schweren Verletzung, die er sich in früher Jugend zugezogen hatte und von der ihm lebenslang ein steifes Bein blieb, nicht eingezogen: Darin sah er, der sich auch in schweren Lebensumständen als „Sohn des Glücks“ verstand, ein glückliches Menetekel. Heideggers große Vorlesungen über Hölderlin hörte er damals in den Kriegssemestern in Freiburg. Mit großer Lebendigkeit konnte er später jüngeren Freunden und Kollegen einen Eindruck von diesem Kairos des Geistes in finsterer Zeit wiedergeben. Biemel, der in der Nachkriegszeit in Paris engen Kontakt mit jüdischen Freunden, darunter Paul Celan, und französischen Résistants hatte, bezeugte bis zuletzt die Haltung des großen Freiburger Philosophen, der, bei allen Schwächen und Anfälligkeiten, gerade nicht NS-Ideologe war und dessen Hörsaal ein Ort der Gegenkultur war, ähnlich wie Gründgens’ Theaterbühne. 1944 wurde die Freiburger Universität geschlossen, Biemels Promotionsvorhaben über Novalis, das ihn auch in den Zwischenbereich von Philosophie und Kunst geführt hätte, konnte er deshalb nicht realisieren. Mittlerweile war er mit seiner ihm menschlich und philosophisch kongenialen Frau Marly Wetzel verheiratet. Sie zogen nach Leuven in Belgien um, wohin auf abenteuerlichen Wegen durch den Franziskanerpater Van Breda der Husserl-Nachlass gerettet worden war. Biemel gehörte zu den Pionieren der Husserl-Edition. Maßgebliche Bände der Husserlina gab er heraus und trug so wesentlich dazu bei, dass das Erbe des Begründers der Phänomenologie nicht in den Wirren des 20. Jahrhunderts verloren ging. In Köln begründete er selbst ein Husserl-Archiv.

In dieser Zeit verfasste Biemel in französischer Sprache seine Dissertation über den Weltbegriff Heideggers (Le concept du monde chez Heidegger), mit der er 1950 an der Universität zu Köln promoviert wurde. Auch die Habilitation 1958 war ein großer Wurf, der wieder das Thema von Ästhetik und Kunst ins Zentrum rückte: Die Bedeutung von Kants Begründung der Ästhetik für die Philosophie der Kunst. 1962 wurde Biemel zum Ordentlichen Professor für Philosophie an der RWTH Aachen berufen, in einer Zeit, in der dort unter anderem Arnold Gehlen den Lehrstuhl für Soziologie bekleidete. Biemel erwarb sich große Verdienste im Aufbau einer philosophischen Fakultät der Technischen Hochschule. Seine Lehrveranstaltungen entwickelten bald einen legendären Ruf: Aufgrund der Weite seiner Durchdringung philosophischer Problemhorizonte, der liebevollen Genauigkeit in der hermeneutischen Textinterpretation und nicht zuletzt der Freundlichkeit und Zuwendung zu seinen Schülern.1976 nahm er noch einmal einen neuen Ruf an, an die Kunstakademie in Düsseldorf: Das Zentrum ästhetischer Avantgarde in der alten Bundesrepublik. Mit den großen und werdenden Meistern der bildenden Kunst schloss er unkomplizierte, doch tiefe, lebenslange Freundschaften und erwarb wichtige ihrer Werke. Bis zur Emeritierung 1983 blieb Biemel der Akademie treu: sein Werk widmete sich nun zunehmend wie in den Anfängen wieder Fragen der Ästhetik, bzw. der phänomenologischen Erfassung von ästhetischen Zusammenhängen, wie in der Untersuchung Philosophische Analysen zum modernen Roman (1986), bzw. der vorausgehenden Monographie Philosophische Analysen zur Kunst der Gegenwart (1968). Sehr wirkmächtig für die Beschäftigung mit den maßgeblichen Denkern der Moderne waren seine Rowohlt-Bildmonographien über Jean-Paul Sartre (1964) und Heidegger (1973), eine bis heute in ihrer Knappheit und konzisen Darstellungsform unerreichte Einführung. Seine großen Abhandlungen liegen in den zweibändigen Gesammelten Schriften (1996) vor: Eine beachtliche Ernte, wobei der erste Band ganz der Phänomenologie und ihren Verzweigungen gilt. Von besonderer Bedeutung für die Forschung ist seine Rekonstruktion des Encyclopedia Britannica-Artikels zur Phänomenologie, der in enger Zwiesprache zwischen Husserl und Heidegger entstand und über Heideggers Haltung zu Husserl eine ungleich verlässlichere Quelle ist als manche (vermeintlichen) Enthüllungen. Der zweite Band thematisiert dann exem­plarisch das Zusammenspiel von Kunst und Philosophie, mit Studien zur bildenden Kunst, Dichtung und – zurückhaltender – auch der Musik. Biemel verfügte selbst über eine außergewöhnliche Musikalität. Bis ins hohe Alter spielte er vor allem in Quartetten virtuos die Bratsche.

Walter Biemel war indes nicht nur ein sehr bemerkenswerter Philosoph, sondern auch ein großartiger Mensch und Freund. Großzügigkeit war eine seiner herausragenden Eigenschaften, eine Freigebigkeit im besten aristotelischen Sinn, wie sie sich gegenüber rumänischen und osteuropäischen Kollegen zeigte, aber auch gegenüber dem großen Dissidenten, Lehrer Vaclav Havels und Vordenker der Charta 77 Jan Patočka, mit dem Biemel freundschaftlich eng verbunden war.

Ich selbst habe in nicht einfachen Privatdozentenjahren seine ideelle und materielle Großzügigkeit erleben dürfen, wobei er einen niemals beschämte, sondern dem Beschenkten Hochachtung zollte und väterliche Liebe: Einzigartig in der akademisch-universitären Welt. Doch Biemel genoss auch das Leben, im Reichtum seiner Begabungen: Er war, sagt man, ein ausgezeichneter Schachspieler, der sich mit dem Nestor der philosophischen Hermeneutik Hans-Georg Gadamer legendäre Schachduelle lieferte. Und er war, ungeachtet der physischen Beeinträchtigung, bis ins hohe Alter ein leidenschaftlicher Schifahrer, Schwimmer und Tischtennisspieler, der die Sommer in einem Ferienhaus in Deia auf Mallorca verbrachte. Biemel war nicht weltabgewandt, sondern dem Schönen, auch Widerständigen mit Neugier verbunden: Weisheitsliebe und Weltliebe waren bei ihm keine Gegensätze. Von letzterer zeugen auch seine kabarettistischen Fähigkeiten und seine Zauberkunststücke, die er gerne in Freundes- und Kollegenkreisen vorführte. Aus all dem sprach Dankbarkeit für einen in dunklen Zeiten guten, ja glänzenden Lebensweg, Demut des philosophischen Meisters gegenüber den ganz Großen seines Faches, wie Husserl und Heidegger, auf deren Schultern er stand. Die von ihm einmal verbatim formulierte Einsicht: „Mein ganzes Leben stand unter dem Glückszeichen der Freundschaft“.

Lit.: Walter Biemel, Gesammelte Schriften, 2 Bände, Frommann-Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 1996. – Petra Jaeger und Rudolf Lüthe (Hrsg.), Distanz und Nähe. Reflexionen und Analysen zur Kunst der Gegenwart, FS Walter Biemel zu seinem 65. Geburtstag, Würzburg 1983. – Madalina Diaconu (Hrsg.), Kunst und Wahrheit. Festschrift für Walter Biemel zu seinem 85. Geburtstag, Bukarest 2003.

Bild: Siebenbürgische Zeitung.

Harald Seubert