Biographie

Bienek, Horst

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Schriftsteller
* 7. Mai 1930 in Gleiwitz/Oberschlesien
† 7. Dezember 1990 in München

Leben und Werk von Horst Bienek wurden gleich mehrfach von den tragischen Brüchen der deutschen Geschichte in diesem Jahrhundert geprägt. Geboren wurde er als jüngstes von sechs Kindern. Sein Vater, ein Beamter der Deutschen Reichsbahn, war wegen eines Asthmaleidens pensioniert; die Mutter, die bald sterben sollte, trug als Klavierlehrerin zum Lebensunterhalt der Familie bei. Die Eltern waren 1921 aus dem östlichen Oberschlesien, das nach dem Entscheid der Alliierten vom selben Jahr zu Polen gehörte, nach Gleiwitz verzogen, wo Hitler 1939 durch den „Überfall“ auf den dortigen Radiosender den Anlaß für den Zweiten Weltkrieg gab. Bieneks Kindheit spielte sich, nach seinen eigenen Worten, im Spannungsfeld „zwischen Katholizismus, Sexualität und Faschismus“ ab.

Nach der russisch-polnischen Besetzung Schlesiens 1945 wurde Bienek als Demontage-Arbeiter zwangsverpflichtet. 1946 erfolgte seine Abschiebung in die Sowjetische Besatzungszone. Er strandete zunächst im anhaltischen Köthen, später arbeitete er als Redaktionsvolontär bei einer Potsdamer Zeitung. Bereits 1950 erschienen Gedichte von ihm in der Zeitschrift Sinn und Form. 1951 wurde er Schüler bei Bertolt Brecht am Berliner Ensemble. Am 8. November 1951 wurde er verhaftet und von einem russischen Militärgericht wegen angeblicher Spionage und Antisowjethetze zu 25 Jahren Haft verurteilt. Bis 1955 mußte er in Workuta, nördlich des Polarkreises, im Kohlebergbau arbeiten, ehe er durch eine Amnestie freikam und nach Westdeutschland ausreisen konnte.

Ein Jahr später erschienen Gedichte von ihm in der AnthologieLyrik 1956 von Hans Bender. Mit dem Traumbuch eines Gefangenen (1957), einer Sammlung von Lyrik und Prosa, die Hans Egon Holthusen als „literarische Talentprobe“ mit einer „allzu geläufigen Kette von Lieblingsmotiven der zeitgenössischen Literatur“ bewertete, versuchte er, die traumatische Haftzeit zu verarbeiten. Er wurde Literarischer Redakteur beim Hessischen Rundfunk und führte Werkstattgespräche mit der Elite der deutschen Nachkriegsschriftsteller (1962). Er wirkte als Verlagslektor, Literaturkritiker, Filmautor und -regisseur sowie als Herausgeber. Sein persönliches Schicksal schärfte seine Aufmerksamkeit und Sensibilität für die regimekritischen Autoren Osteuropas, von denen viele nach Deutschland emigriert waren. 1972 gab er den Aufsatzband über Solshenyzin und andere heraus. In den achtziger Jahren äußerte er sich zornig über die Gleichgültigkeit des bundesdeutschen juste Milieu gegenüber der polnischen Solidarnosc und anderen osteuropäischen Oppositionsgruppen. Er erhielt zahlreiche Preise, so den Bremer Literaturpreis 1969 und 1978 den Kulturpreis Schlesien, und war Akademiemitglied in Darmstadt und München.

In dem 1968 veröffentlichten Roman Die Zelle verarbeitet Bienek nochmals seine Haftzeit. Es geht um einen Eingeschlossenen, der krank in der Gefängniszelle dahinvegetiert, ohne die Anklage zu erfahren. Seine einzige Perspektive besteht darin, „nur noch [als] faules, stinkendes, verwesendes Fleisch“ weiter zu existieren. Der Begriff „Zelle“ hat hier eine zweifache Bedeutung: Er bezeichnet einen in sich geschlossenen kleinen Raum und zugleich die kleinste selbständige Organisationseinheit des Lebens. Das Buch war der Konzeption einer „lazarenischen Literatur“ verpflichtet, die der französische Schriftsteller Jean Cayrol, ein ehemaliger KZ-Häftling, entworfen hatte. Cayrol ging es um das Schreiben nach der modernen Terrorwelt, nach dem Erleben einer existentiellen Einsamkeit, welches die menschlichen Verhältnisse grundlegend verändert habe. Der Mensch bewegt sich danach sprunghaft und unreflektiert in einem Dschungel und „lebt nur die Auflösung einer Passion“. 1972 verfilmte Bienek seinen Roman.

Der Höhepunkt von Bieneks literarischem Werk ist dieGleiwitzer Tetralogie, mit der er als Chronist Oberschlesiens wohl dauerhaft in die Literaturgeschichte eingegangen ist. Er hatte jahrelang daran gearbeitet und dazu Archivstudien, historische und landeskundliche Forschungen angestellt. Sein Interesse für Schlesien, seine Kultur und Literatur – insbesondere Eichendorff stand ihm nahe – hatte sich schon früher in seiner Lyrik niedergeschlagen: „Die Erinnerung an einen Winterwald / an den Räuberhauptmann Pistulka / an einen schmutzigen zäh dahintreibenden Fluß / an eine Fronleichnamsprozession“, wie er es in einem Gedicht nennt, blieb lebendig.

Die RomaneDie erste Polka,Septemberlicht,Zeit ohne Glocken und Erde und Feuer erschienen zwischen 1975 und 1982. Sie spielen in den Jahren 1939, 1943 und 1945. Im vierten Band erscheint Gerhart Hauptmann, Schlesiens größter Dichter, höchstselbst als personifiziertes Paradigma eines deutschen Kulturbegriffs, der durch die NS-Zeit endgültig brüchig geworden ist. Vor allem aber ist die Tetralogie eine „Beschreibung deutscher Gesellschaft zu Beginn des Krieges – vom Rande aus gesehen“. Vom Rande, das heißt erstens vom äußersten Südosten des Deutschen Reiches aus, und zweitens aus der Perspektive der „kleinen Leute“. Deren Selbstverständnis liegt häufig quer zu Sprach-, Kultur-, Staats- und ethnischen Grenzen, andererseits stärken ihr Opportunismus und Eigennutz das Regime. Der Romanzyklus ist ein großangelegter Versuch, aus dem Erleben und Erleiden jener Zeit heraus die Mentalität unter der Diktatur begreifbar zu machen. Im Ineinander von Erinnerung, Recherche, Politik und Privatem sind die Einflüsse von William Faulkner und Thomas Wolfe spürbar, auch die Joseph Roths, dessen Diktum: „Die eigentlichen literarischen Provinzen sind die verlorenen Provinzen“, auf Bienek einen tiefen Eindruck machte.

Natürlich ist die Tetralogie auch ein Werk über das Ende des deutschen Oberschlesiens. Bienek bekannte, er habe sein Werk „geschrieben, weil diese Heimat, diese Welt nicht mehr da ist. Ich glaube, daß für Autoren, die aus dem Osten stammen, wie etwa Grass oder Bobrowski, [es] eine großartige Aufgabe ist, diese Welt zu beschwören, die vergangen ist; diese Welt sozusagen neu erstehen zu lassen. Und mir schwebte in der Tat vor, ein Requiem für diese Provinz zu schreiben.“

Der Roman-Zyklus wurde von der Literaturkritik gelobt und Bienek an die Seite von Günter Grass und Siegfried Lenz gestellt. In der Vertriebenenpresse wurde er dagegen kritisiert, dem Autor wurde vorgeworfen, das deutsche Gleiwitz zu stark polonisiert zu haben. Letztlich kollidierten dabei unterschiedliche Literaturbegriffe miteinander. Bienek hatte schon 1969 bekannt: „Ich glaube, daß unsere Literatur mehr mit der Wirklichkeit zu tun haben muß. Und auch mehr mit unserer eigenen Geschichte. Dabei darf sie nicht nach einer platten Ideologie zu ihrer Widerspiegelung verkommen. Was wir brauchen, ist historische Wahrheit.“ Das hieß für ihn, auch das Verborgene, Verdrängte, Abwesende, nichtsdestotrotz aber Wirkungsmächtige sichtbar zu machen.

Irritierend wirkte auch, daß Bienek sich jede Sentimentalität und Idyllisierung entschieden verbot. In dem über vierzig Jahre nach der Vertreibung entstandenen Bericht Reise in die Kindheit.Wiedersehen mit Schlesien (1988), der seinen ersten Besuch im nun polnischen Gleiwitz anläßlich eines polnischen Filmporträts über ihn schildert, hat Bienek von seiner Kindheit und Jugend erzählt, die ihm auch in der Retrospektive keinen Grund zur Verklärung bot. Noch beim Besuch der elterlichen Wohnung war das nachdrücklichste Gefühl das eines beklemmenden Stillstands der Zeit. „Ich war wie ein Schatzsucher, und alle meine Romane über die Kindheit waren nichts anders als die Suche nach dem Schatz der Heimat.“ Der Versuch, das Gefühl der Heimatlosigkeit in der Beschwörung der Kindheit aufzuheben, stieß ihn darauf, daß die schmerzhafte Gebrochenheit seiner Biographie schon in der Gleiwitzer Kindheit angelegt war. So fügte er hinzu: „Als ich die Schatzhöhle schließlich fand, war sie leer.“ Eben diese schonungslose Synthese aus existentieller und persönlicher Tragik und kollektivem Schicksal machte seine Gleiwitzer Tetralogie zu großer Literatur.

Weitere Werke: Nachtstücke. Erzählungen. München 1959. – Was war was ist. Gedichte. München 1967. – Vorgefundene Gedichte. München 1969. – Bakunin. Eine Intervention. München 1970. – Die Zeit danach. Gedichte. München 1974. – Gleiwitzer Kindheit. Gedichte. München 1976. – Libretto nach „Aus dem Leben eines Taugenichts“ für Günter Bialas. München 1977. – Beschreibung einer Provinz. Aufzeichnungen, Materialien, Dokumente. München 1983. – Königswald oder Die letzte Geschichte. Eine Erzählung. München 1984. – Das allmähliche Ersticken von Schreien. Sprache und Exil heute. München 1987.

Lit.: Michael Krüger (Hg.): Bienek lesen. Materialien zu seinem Werk. München o.J. – Louis F. Helbig: Horst Bienek 1930 bis 1990. Leben und Werk als Prozess der Befreiung, München 2000. – Reinhard Laube, Verena Nolte: Horst Bienek – ein Schriftsteller in den Extremen des 20. Jahrhunderts. Wallstein, Göttingen 2012.

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Horst_Bienek

Bild: Süddeutscher Verlag München, Bilderdienst.

Thorsten Hinz