Biographie

Birnschein, Alfred

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien), Ostbrandenburg
Beruf: Bildender Künstler, Kunsterzieher
* 12. Juni 1908 in Crossen/Oder
† 13. November 1990 in Gevelsberg

Der überzeugte Ostdeutsche Alfred Birnschein, geboren in Crossen/Oder, wo er das Realgymnasium absolvierte und anschließend ein halbjähriges Praktikum am Bau leistete, konnte es sich schwer vorstellen, im Westen Fuß zu fassen. Doch in Folge der politischen Ereignisse der Nachkriegszeit übersiedelte er 1946, nach seiner Entlassung aus der britischen Kriegsgefangenschaft auf ein Gut bei Osnabrück und folgte zwei Jahre danach dem Ruf als Kunsterzieher an das Städtische Gymnasium in Gevelsberg, wo er bis zu seinem Tode am 13. November 1990 lebte. Bis zu seiner Pensionierung als Studiendirektor führte er seine Schüler zur Kunst und Kultur mit viel Erfolg. Und sein Ruf als Maler und Grafiker überschritt die Grenzen des kleinen westfälischen Städtchens und jener Nordrhein-Westfalens bis weit in den Süden der Bundesrepublik Deutschland.

Vergessen hatte er seine alte Heimat keineswegs. In der nordrhein-westfälischen Landesgruppe der Künstlergilde, des Verbandes der aus dem deutschen Osten stammenden Künstler, spielte er eine wichtige Rolle, organisierte Ausstellungen seiner Kollegen und vertrat sie im Vorstand der Gilde in Esslingen und im Museum Ostdeutsche Galerie zu Regensburg.

Ursprünglich wollte Birnschein den Beruf des Architekten einschlagen, studierte auch zwei Semester an der Technischen Hochschule zu Berlin. Doch 1927 fand die völlige Umstellung zur Malerei und Kunstpädagogik statt: Studium an der Kunstakademie zu Breslau unter den berühmten Künstlern Otto Mueller, Oskar Schlemmer und Alexander Kanoldt. Künstlerisches Staatsexamen in Berlin und Pädagogisches Staatsexamen in Breslau. Von 1934 bis 1940 Freier Maler und Kunsterzieher in Schlesien. Lehrer am Staatlichen Gymnasium in Posen und Fachleiter für Kunsterziehung im Reichsgau Warteland. Die Einberufung zum Kriegsdienst und die Gefangenschaft beendeten Birnscheins künstlerische Tätigkeit und sein Dasein im Osten. Durch den Verlust seiner Heimat ging sein ganzer Besitz verloren einschließlich seines gesamten Frühwerkes. Hierzu der Künstler: „Auch keine Schülerarbeit von der Akademie ist mir geblieben. Wenn diese Blätter nicht in Posen verbrannt sind, so hat vielleicht in der Not des Krieges eine polnische Familie damit den Ofen zum Wärmen gebracht.“

Die Erlebnisse in jenen bedrückenden Jahren schilderte der Künstler in Gemälden in Ölfarbe, Mischtechnik und Acryl, deren Titel u.a. lauten Vision des Schreckens,Flucht in Schnee und Eis, In den Tod getrieben,Vernichtungslager,Zug ins Ungewisse,Verlassenes Dorf im Osten,Zerbombte Innenstadt,Straße durch Trümmer,Nur ein Haus blieb stehen. Aber im gleichen ausdrucksstarken realistischen Stil wurde auch des Neubeginns gedacht: Erste Neubauten am Stadtrand,Neben Trümmern entsteht Neues und Wiederaufbau eines Betriebes.

Das Einleben in seine neue westfälische Heimat ging relativ reibungslos vonstatten. Infolge des Verlustes seines gesamten bisherigen Schaffens musste er 40-jährige Birnschein nun beim Punkt Null anfangen. Seine westdeutsche Ehefrau Marie-Luise (1908-1994), die als Malerin Erfolge aufzuweisen hatte, war ihm eine fürsorgliche, beratende und auch kritische Partnerin. Bald konnte er seine Werke in Einzelausstellungen präsentieren und an thematischen Grupppenausstellungen der Künstlergilde teilnehmen. Genannt seien Landschaften (1977), Künstler porträtieren Künstler (Mai 1981), Stilleben heute (Juni 1981),Linie-Fläche-Raum (1986) sowieKünstlergilde 90 im Museum Ostdeutsche Galerie Regensburg, gefolgt von der Galerie der Stadt Esslingen Villa Merkel und dem Haus Schlesien in Königswinter, wo Birschein mit einem gegenstandsfreien Ölgemälde aufwartete.

Die genannten Ausstellungen zeigen, wie weit der Bogen der Thematik im Œuvre des Künstlers gespannt ist. Ein Jahr vor seinem Tod erschien die reich illustrierte Publikation Alfred Birnschein – Landschaftszeichnungen 1946-1988. Hierzu äußerte sich der Künstler: „Die Freude an der Wiedergabe von Natureindrücken ist bis heute in mir wachgeblieben.“ Inspiriert wurde er auf seinen Studienreisen während der Schulferien und im Ruhestand in Deutschland und im Ausland. Doch auch Autofriedhöfe boten Motive an. Hier waren es technische Fragmente, die er abstrahierte und zu konstruktivistischen Kompositionen zusammenfügte. Am Gegenpol stehen seine Malereien, die die Spuren des Pinsels aufzeigen. Birnschein experimentierte gerne mit Ölfarbe, Acryl, Aquarell, Kohle- und Filzstiften und gelangte über die écriture automatique zu informellen Kompositionen, also zur sogenannten abstrakten Kunst. Neben diesen freien künstlerischen Tätigkeiten widmete er sich auch der Illustration. Unter anderem illustrierte er Dichtungen des unter dem Decknamen Klabund berühmt gewordenen Lyrikers und Romanschriftstellers Alfred Henschke (1891-1928), der wie Birnschein in Crossen geboren wurde. Anlässlich des 50. Todestages Klabunds gab es eine Ausstellung jener Tuschzeichnungen in mehreren Städten, die vom Publikum begeistert aufgenommen wurden. Und da sich Birnschein auch für die zahlreichen Ausstellungen seiner Kollegen der Künstlergilde eingesetzt hatte, deren Fachgruppe Bildende Kunst er seit 1967 in Nordrhein-Westfalen leitete, gehört dieser im westfälischen Gevelsberg sesshaft gewordene Künstler von der Oder zu den wichtigsten Brückenbauern der deutschen Kultur zwischen Ost und West.

Lit.: Günther Ott, Alfred Birnschein, in: Künstlerprofile – im Osten geboren – im Westen Wurzeln geschlagen, hrsg. von der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat, Düsseldorf 1980. – Günther Ott, Marie-Luise Birnschein, in: Kunst und Künstler aus Ostmitteleuropa, Vorwort Peter Nasarski, Berlin/Bonn 1985. – Alfred Birnschein, Reflexionen und Visionen 1946-1986. Mit Beiträgen von Ernst Schremmer und Günther Ott, Recklinghausen 1986. – Alfred Birnschein – Landschaftszeichnungen 1946-1988. Einführung Elisabeth Siebenbürger. Mit einer Liste von 14 Veröffentlichungen über den Künstler, Hagen/Westfalen 1989.

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred_Birnschein

Bild: Michael Euler, Köln.

Günther Ott