Biographie

Bock, Woldemar von

Herkunft: Banat
Beruf: Jurist, Landespolitiker, Historiker, Publizist, Musikologe, Liebhaberkomponist
* 9. November 1816 in Kersel/Livland
† 1. Februar 1903 in Bamberg

Woldemar v. Bock war Sohn des Landespolitikers Hein­rich Au­gust v. Bock (Kersel 1771-1863 ebd.) und dessen zweiter Ehefrau Sophia Auguste geb. v. Wran­gell. Er stu­dierte nach häuslichem Unterricht und an der Krümmer’schen Anstalt in Werro 1835 bis 1837 an der Universität Dorpat und bis 1839 in Berlin Jura. Er war dann Assessor in Fellin. 1841 heiratete er So­phie de La Trobe (1821-1890), die Tochter des Kom­ponisten Johann Friedrich de La Trobe und der Alwine geb. Freiin v. Stackelberg, die ihm fünf Kinder schenkte. Das Gut Schwarzhof war in seinem Besitz. Von 1857 bis 1866 lebte er in Ri­ga, wo er zeitweise Vizeprä­sident des livländischen Hofgerichts war. 1862 stellte er auf dem livländischen Landtag einen Vier-Punkte-Antrag, „mit dem er durch die Verstärkung alter Rechtsinstitute die baltischen Deutschen sammeln und ihre Sonderver­fassung sichern wollte.“ (Garleff S. 140). 1864 wurde er Hauptver­treter der Livländi­schen Ritterschaft in der baltischen Zen­traljustizkommission. Seit 1860 war er Mitarbeiter der 1859 begründeten Balti­schen Monatsschrift, die einen ge­mäßigt-liberalen Standpunkt vertrat, den zunächst auch Bock eingenommen hatte. Trotzdem litt die Baltische Monats­schrift von Anfang an unter der russi­schen Zensurschraube. So veröffent­lichte Bock eher unverfängliche Beiträge, wie Reinhold Johann Ludwig Samson von Himmelstjern. Ein Lebens- und Charakterbild – er hatte die Aufhe­bung der Leibeigenschaft befördert, Die Historie der Uni­versität Dorpat sowie lokaljuristische Arbeiten.

Bereits in den 1840ern erreichten die ersten Pressekampagnen die „Deutschen Ostseeprovinzen Rußlands“. Die orthodoxe Kirche, Slawophile und Pansla­wisten artikulierten sich in Richtung einer russischen Nationalstaatsidee, die dem petrinischen, übervölkischen Reichsgedanken, der in den baltischen Lan­den als Grundlage angesehen wurde, als krasser Gegensatz gegenüberstand. Die vierjährige Verbannung von Victor Hehn 1851, dem Lektor für deutsche Spra­che an der Universität Dorpat und Herausgeber der Zeitschrift Inland hatte Zei­chen gesetzt – nach der Pensionierung 1873 ging er nach Berlin. Um Repressio­nen zu entgehen, übersiedelte Bock 1866 nach Deutschland und ließ sich in Quedlinburg nieder. Später lebte er in Teplitz und zuletzt in Bamberg.

Von Deutschland aus bekämpfte er publizistisch und mit Vorträgen die Russifi­zierung in den baltischen Landen, besonders die Angriffe auf die evangelische Kirche und das livländische Landrecht, was im Russischen Reich verfolgt wor­den wäre. Infam war die neue Zensurbestimmung vom November 1867, die baltischen Zeitungen verbot, auf Angriffe der russischen Presse zu reagieren. So ging 1867 auch Julius Eckardt, Redakteur der Rigaschen Zeitung nach Deutschland. Von ihm wurde gesagt, dass er eigentlich eher den Ausgleich suchte. Angriffe russischer Nationalisten verschärften die Diskussionen. Carl Schirren parier­te mit seiner 1869 in Leipzig anonym erschienenen Schrift Livländische Ant­wort an Herrn Juri Samarin, in deren Zusammenhang er seines Amtes als Professor für die Geschichte Russlands an der Universität Dorpat enthoben wurde, worauf er 1869 seine Heimat verließ.

Bock verfasste Gegenschriften, umfassend seine in zeitschriftenform erschiene­nen Livländische Beiträge zur Verbreitung gründlicher Kunde von der pro­testantischen Landeskirche und dem deutschen Landesstaate in den Ostseepro­vinzen Russlands, von ihrem guten Rechte und von ihrem Kampfe um Gewissensfreiheit, welche er nach seiner Übersiedlung nach Deutschland ver­öffentlichte (mehrere Hefte in drei Bänden gesammelt, Bln. u. Lpz. 1867-71, Registerbände Lpz. 1870/71) mit „Verweisen auf sinnverwandte Schriften des Herausgebers“. Besonders bekannt daraus wurde Der deutsch-russische Kon­flikt an der Ostsee. Zukünftiges geschaut im Bilde der Vergangenheit und Ge­genwart (Lpz. 1869). Weitere Schriften der 1870er Jahre waren z.B. Moskau und St. Petersburg im Wettkampf für Bekenntnisfreiheit. Für Kenner sittlichen Gepräges als Avers und Revers derselben Medaille (Quedlinburg 1871), Ge­wissensfreiheit in Russland. Eine wahre Begebenheit (Im neuen Reich 1872).

Von solchen russlandfeindlichen Veröffentlichungen hatte sich die Baltische Ritterschaft und die baltische Presse deutlich zu distanzieren, denn die Entwicklung war von einer Stringenz, der nicht zu entkommen war, abgesehen von dem rasanten Aufkommen sozialer Spannungen sowie demokratischer Bestrebungen. Letzteren verbanden sich noch kulturelle Fragen in Bezug auf die Esten und Letten, d.h. einem Landespatriotismus standen Nationalismen von oben wie von unten gegenüber. Die rasante Veränderung der Bevölke­rungsstruktur, z.B. 1867 Reval 51,8 % Esten auf 88,7 % 1897, lässt die rasche Entwicklung erkennen. Abgesehen davon verringerte sich der Anteil an deutscher Bevölkerung, der landesweit kaum mehr als 10 % betrug, noch durch zunehmende Abwanderung aus den Städten.

1881 wurde Bock in Verbitterung katholisch, wozu auch der in Deutschland von Bismarck mit großer Schärfe ausgetragene Kulturkampf, die Trennung von Staat und Kirche, beitrug. Der Zwiespalt des Erleidens und der Gefährdung im Inneren und die ungefährdete Sicht von außen, zwischen Realität und Illusion, führten dazu, dass er auch aus der Ritterschaft austrat, wohl hervorgerufen durch den Regierungsantritt von Kaiser Alexander III. 1881, der erstmals die balti­schen Landesprivilegien verweigerte. Dadurch begann die konsequente Russifi­zierung mit ihren umwälzenden Auswirkungen: Russisch als allgemeingültige Unterrichtssprache (1887) sowie die Russi­fizierung der Universität Dorpat und des Rigaer Polytechnikums (1889), die Entmachtung der überkommenen Rechtsinstitutionen (1888/89) oder die sogen. „Proselytenmacherei“.

Bocks Schriften sind für den Historiker, trotz des Überblicks und Besserwis­sens des Nachgeborenen, interessante Bausteine zur Verdeutlichung der dama­ligen Realitäten, insbesondere in Hinblick auf eine durch Zensur geknebelte Presse, die den Anordnungen des Systems Folge zu leisten hatte.

Woldemar v. Bock war ein vielseitig interessierter Schöngeist. Seit 1845 war er Mitglied und 1864 bis 1866 Mitdirektor der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen Rußlands in Riga, Mitbegründer war 1836 sein Vater gewesen. Als Homme de Lettres war er ein typischer Vertreter der Deutschbaltischen Liedschule. Sein kompositorisches Werk scheint nicht umfangreich gewesen zu sein. Der Schwerpunkt lag im Liedschaffen, das, ne­ben einer Auswahl 1847 (Kluge Dorpat) später vereinzelt in Sammlungen er­schien: Naturlyrik, Kinderlieder, Liebeslyrik und Romänische Volkslieder. Als Dichter sind Goethe, Eichendorff, Heine, Rückert, Chamisso, Storm sowie Gedichte aus dem gesellschaftlichen, deutschbaltischen Umfeld mit entspre­chenden Widmungen zu nennen. Im Album von Frau Sophie sind 27 seiner Lieder aus der Zeit von 1853 bis 1887 überliefert. Außerdem ist die Handschrift der seinem Schwager Edward de La Trobe gewidmete Sonata für ein Pianofor­te u. ein Violoncello in Es-Dur von 1856 erhalten, die durch materialhaftes Komponieren und dem Variationssatz das Beethovensche Vorbild zeigt, aber auch romantische Verwandtschaft zu Chopin aufweist. Zur Musikgeschichte des Landes hat Bock wichtige Publikationen verfasst: Er gab mit einem umfas­senden Vorwort die mit Melodie überlieferten Choräle von Gustav v. Mengden 1864 bei Karow in Dorpat heraus, mit seiner Aussetzung des Generalbasses. 1848 veröffentlichte er im Inland den grundlegenden biographischen Aufsatz über seinen Schwiegervater, den Komponisten Johann Friedrich de La Trobe.

Stimmen zu seiner Person sind unterschiedlich: „Der temperamentvolle Vize-Präsident des livländischen Hofgerichts, leidenschaftlicher Verfechter der hei­ligsten Güter seiner Heimat gegen die einsetzenden Russifizierungstendenzen“ (Petersen 1930, S. 198) oder „der bis zur Verbohrtheit agierende Bock“ (Gar­leff 1989, S. 145).

In seinem Buch Goethe in seinem Verhältnis zur Musik (Bln. 1871), das er Carl Schirren widmete, nannte er außer dem Nachdenken über Livland das Nach­denken „über die beiden anderen bewegenden Ziele seines Lebens: die Musik und Gott“.

Lit.: Eduard Winkelmann, Bibliotheca Livoniae Historica etc., Berlin 1878 (2. Aufl.), div. S. – A. v. Tobien, Die Livländische Ritterschaft in ihrem Ver­hältnis zum Zarismus und russischen Natio­na­lis­mus, Berlin 1899, S. 127f. u. 382-385. – A. R. Cederberg, Eesti biograafiline leksikon. Tartu 1926-1929, S. 33. – O. v. Petersen, Goethe und der baltische Osten, Reval 1930, ND Hannover-Döhren 1976, div. Kap. – Elmar Arro, Die deutschbaltische Liedschule. Versuch einer nachträglichen musik­historischen Rekonstruktion, in: Musik des Ostens, Bd. 3 Kassel usw, 1965, S. 176, 181. – Michael Garleff, Zur baltischen Publizistik am Bei­spiel Julius Eckardts und Woldemar v. Bocks, in: Jahrb. d. balt. Deutschtums, 1989, S. 139ff. – Gert von Pistohlkors, Deutsche Geschichte im Osten Europas – Baltische Länder, Berlin 1994, div. S. – H. Scheunchen, Lexikon deutschbaltischer Musik, Wedemark-Elze 2002, S. 37f. – Ders., „Doppelte, ja dreifache Feder gar“: Komponisten­schriftsteller – Doppelbegabungen in der deutsch-baltischen Geistesgeschichte, in: Deutsch­spra­chi­ge Literatur im Baltikum und in Sankt Petersburg, Literarische Landschaften Bd. 11, hrsg. Carola L. Gottzmann, Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Berlin 2010, S. 137f., 217-220. – Mitteilungen an den Verfasser: 2000 Renate de La Trobe/Hamburg. – Buch der Böcke, Stammblatt L 036.

Bild: https://www.geni.com/people/Woldemar-Bernhard-Wilhelm von Bock.

Helmut Scheunchen, 2017