Biographie

Bollnow, Otto Friedrich

Herkunft: Pommern
Beruf: Philosoph, Pädagoge
* 14. März 1903 in Stettin/Pommern
† 7. Februar 1991 in Tübingen

Otto Friedrich Bollnow entstammt einer alten pommerschen Lehrerfamilie. Als er sich 1921 nach dem Abitur für den Lehrerberuf entschied, waren die Berufsaussichten ähnlich wie heute. So studierte er u. a. in Berlin und Göttingen Mathematik und Physik und promovierte 1925 bei Max Born in theoretischer Physik. – Schon in dieser von den Naturwissenschaften geprägten Phase zeichnet sich seine spätere Entwicklung ab: Als Mitglied einer Studentengruppe der Jugendbewegung stellt er sich den Fragen des „gelebten“ und ursprünglichen Lebens. Er hört philosophische und pädagogische Vorlesungen bei Eduard Spranger und nimmt an den Seminaren von Herman Nohl und Georg Misch teil. – 1925 wird Bollnow Lehrer an der Odenwaldschule. Hier begegnet er großen Pädagogen wie Paul Geheeb und Martin Wagenschein. Die glücklichen Erfahrungen an dieser reformpädagogischen Einrichtung bestimmen dann auch den Wendepunkt in seiner akademischen Entwicklung: Er beginnt im Sommer 1927 seine Arbeiten an einer Habilitationsschrift über die Lebensphilosophie Jacobis. Die epochale Wirkung von „Sein und Zeit“ läßt Bollnow zu Heidegger nach Marburg und Freiburg gehen, zu dessen Philosophie er jedoch kritisch Distanz wahrt. 1931 habilitiert er sich bei Georg Misch in Göttingen für Philosophie und Pädagogik. Unter dessen Einfluß entsteht in der Folge sein Buch über Dilthey. – 1939 erfolgt die Berufung nach Gießen. In den Kriegsjahren entstehen für Bollnow prägende Beziehungen zu älteren Philosophen. Da ist zunächst der enge Kontakt zu Hans Lipps, von dem Bollnow die für ihn später charakteristische Methode der phänomenologischen Beschreibung lernt und Anstöße für sprachphilosophische Arbeiten bekommt. Eine enge Verbindung entsteht auch zu Heinz Heimsoeth und Nicolai Hartmann. 1941 erscheint das grundlegende Werk „Das Wesen der Stimmungen“. Bollnow setzt sich in diesem Buch ausdrücklich mit den durch die Nationalsozialisten verfemten Vertretern der Dilthey-Schule auseinander; – in dieser Zeit sich auf einen jüdischen Autor wie Helmuth Plessner oder Georg Misch zu berufen, erforderte Mut. Bollnow pflegt so eine unterdrückte Denktradition weiter, die er als „anthropologische Betrachtungsweise“ entwickelt und durchführt. – 1946 wird Bollnow Professor in Mainz. 1953 übernimmt er den Lehrstuhl Eduard Sprangers in Tübingen. Seit 1970 ist er emeritiert.

O. F. Bollnows philosophische Arbeit ist gekennzeichnet durch eine grundsätzlich skeptische Haltung gegenüber allen philosophischen Systemen. In diesem Sinne ist seine Zuwendung zur Lebensphilosophie in der philosophischen und pädagogischen Durchdringung durch Nohl und Misch konsequent. Sie bedeutet die skeptische Abwendung von einer nur nach naturwissenschaftlichen Paradigmen ausgerichteten Suche nach Wahrheit. Ähnlich ist seine Öffnung zur Existenzphilosophie zu sehen. Rückblickend sagt er dazu, er habe mit dem, was er in der Dilthey-Schule gelernt habe, nicht zum gläubigen Heidegger-Schüler werden können; er habe sich philosophisch immer zwischen alle Stühle gesetzt. Heute erscheint uns das eher als glücklicher Umstand. Gerade die Spannung zwischen Lebensphilosophie und Existenzphilosophie lieferte den Anstoß für seine zahlreichen pädagogischen und philosophischen Schriften. Nach 1945 war Bollnow einer der ersten, der sich mit dem französischen Existentialismus und seinem phänomenologisch ausgerichteten Umkreis kritisch auseinandersetzte und Denier wie Sartre, Camus, Marcel, Merleau-Ponty und später Ricoeur im deutschen Sprachraum einführte. – Der von Bollnow begangene Weg einer anthropologischen Betrachtungsweise geht von einzelnen Phänomenen des gelebten Lebens aus, um von diesen her das Wesen des Menschen im ganzen zu begreifen; das betreffende Phänomen kann so als sinnvoller Teil des menschlichen Lebens verstanden werden. Dies bedeutet, den Menschen in allen seinen Dimensionen „vor sich selber zu bringen“, ohne dabei der Fiktion eines geschlossenen Menschenbilds zu erliegen. Das bedeutet aber auch, daß jedes philosophisch-anthropologische Phänomen immer auch pädagogisch bedeutsam ist. Berühmt geworden ist dabei Bollnows Versuch, Fragen der Existenzphilosophie für die Pädagogik zu erschließen. Hatte sich die traditionelle Pädagogik mehr den „stetigen“ Formen der Erziehung zugewandt, d. h. Modellen passiven Wachsenlassens oder geplanten Bildens und Führens, so wurde durch die Aufnahme existentieller Kategorien wie Begegnung, Krise, Erweckung ein theoretischer Rahmen sichtbar, in dem das „Unstete“ zu einem konstituierenden Teil der Pädagogik wird. – Vor dem Hintergrund der wissenschaftstheoretischen Diskussion mit ihrem unfruchtbaren Gegensatz Natur- und Geisteswissenschaften setzt sich Bollnow mit einer Theorie des Verstehens auseinander, die vom grundsätzlich hermeneutischen Charakter allen Erkennens ausgeht: Ort der Wahrheit ist das Gespräch; sein Prinzip der Offenheit und Gleichberechtigung der Partner kann weder durch geschlossene logische Systeme noch durch taktische Finessen eines Diskurses ersetzt werden. In der Pädagogik wird das Vertrauen des Kindes zum Erzieher und des Erziehers zum Kind zur grundlegenden Kategorie einer erzieherischen Praxis. Dies ist für Bollnow letztlich der religiöse Grund aller Erziehung. Mit Otto Friedrich Bollnow gedenken wir dankbar eines Philosophen und Pädagogen, der die deutsche Pädagogik international bekannt gemacht hat. Seine Schriften sind in die wichtigsten Sprachen übersetzt, insbesondere ins Japanische und Koreanische, da das ostasiatische Denken für die hermeneutische Philosophie Bollnows besonders aufgeschlossen ist.

Hauptwerke: Die Lebensphilosophie F. H. Jacobis, Stuttgart 1933,2. Aufl. 1966; Dilthey.Eine Einführung in seine Philosophie, Leipzig 1936, 4. Aufl. Schaffhausen 1980; Das Wesen der Stimmungen, Frankfurt a. M. 1941, 6. Aufl. 1980; Existenz-Philosophie, 1. Aufl. in: Systematische Philosophie, hrsg. von N. Hartmann, Stuttgart 1943, 8. Aufl. 1978; Die Pädagogik der deutschen Romantik, Stuttgart, 3. Aufl. 1977; Neue Geborgenheit, Stuttgart, 4. Aufl. 1979; Wesen und Wandel der Tugenden, Frankfurt a. M. 1958 (fortlaufend nachgedruckt); Existenzphilosophie und Pädagogik. Versuch über unstete Formen der Erziehung, Stuttgart, 5. Aufl. 1977; Mensch und Raum, Stuttgart, 4. Aufl. 1980; Die pädagogische Atmosphäre, Heidelberg, 4. Aufl. 1970; Die Macht des Worts. Sprachphilosophische Überlegungen aus pädagogischer Perspektive, Essen, 3. Aufl. 1971; Sprache und Erziehung, Stuttgart, 3. Aufl. 1979; Philosophie der Erkenntnis, Stuttgart 1970, 2. Aufl. 1981; 2. Bd.: Das Doppelgesicht der Wahrheit, Stuttgart 1975; Vom Geist des Übens, Freiburg i.Br. 1978, 2. Aufl. Oberwil bei Zug 1987; Studien zur Hermeneutik. Bd. I: Zur Philosophie der Geisteswissenschaften, Freiburg/München 1982. Bd. II: Zur hermeneuti-schen Logik von Georg Misch und Hans Lipps, Freiburg/München 1983; Ralf Koerrenz: OttoFriedrich Bollnow. Ein pädagogisches Portrait. Beltz (UTB), Weinheim/Basel 2004.

Eine Bibliographie Otto Friedrich Bollnow 1925-1982 befindet sich in: O. F. Bollnow im Gespräch. Herausgegeben von Hans-Peter Göbbeler und Hans-Ulrich Lessing, Freiburg/München 1983.

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Otto_Friedrich_Bollnow

Gerhard Schneider