Biographie

Borchardt, Rudolf

Herkunft: Ostpreußen
Beruf: Dichter, Essayist, Übersetzer, Philologe, Historiker
* 9. Juni 1877 in Königsberg i.Pr.
† 10. Januar 1945 in Trins/Tirol

Schon zu Lebzeiten war Rudolf Borchardt kein Autor, der einen breiteren Publikumsgeschmack bedient hätte. Ja selbst den engeren Kreis der anspruchsvolleren Literaturkenner und -liebhaber spaltete er in gegensätzliche Lager. Er war im buchstäblichen wie vielfältigen Sinn des Wortes ein Ex-Zentriker: einer, der stets außerhalb der tatsächlichen oder auch nur dafür gehaltenen Mittelpunkte stand. Diese Leben wie Werk prägende Eigenart Borchardts bietet sich zugleich als möglicher Schlüssel zum adäquaten Verständnis beider an.

In der Stadt Kants geboren, wurde ihm Königsberg keineswegs zur Heimat; denn schon wenige Monate nach seiner Geburt kehrte die Familie nach Moskau zurück, wo der Vater bis 1882 die großväterliche Königsberger Teehandelsfirma vertrat. In Berlin, wohin die inzwischen achtköpfige Familie danach zog, wuchs Borchardt auf, besuchte mit wenig Erfolg von 1885 bis 1887 das Französische Gymnasium und wurde deshalb zu Dr. Friedrich Witte ans Königliche Gymnasium in Marienburg/ Westpreußen gegeben, mit dem er 1893 ans Königliche Gymnasium in Wesel/Rheinland ging. Nach dem Abitur nahm Borchardt ab Sommersemester 1895 zunächst in Berlin, ein Jahr später in Bonn das Studium der Klassischen und orientalischen Philologie, der Archäologie und Theologie auf. In Bonn konzentrierte sich sein Studium zunehmend auf Klassische Philologie und Archäologie, daneben hörte er auch Germanistik und Ägyptologie. Zu Borchardts Lehrern während der fünf Bonner Semester zählten Franz Bücheler, Hermann Usener, Alfred Körte und Berthold Litzmann. Die Lehrveranstaltungen im Bonner Archäologischen Institut, einem kleinen Tempel am Ende des Hofgartens, sind noch heute höchst beeindruckend, da sie inmitten zahlreicher Gipsabdrücke der bedeutendsten antiken Statuen und Bildwerke stattfinden. Dieser Umstand konnte auf Borchardt seine Wirkung nicht verfehlen. Ebenso nachhaltig wirkten in dieser Zeit auf ihn die Lektüre der Schriften Herders, vor allem dessen Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, und das Frühwerk Hugo von Hofmannsthals.

1896 veröffentlichte Borchardt seine ersten Gedichte (charakteristisch für ihn) als Privatdruck. Vom Wintersemester 1898 an studierte er in Göttingen, wo der renommierte Altphilologe Friedrich Leo zu seinen Lehrern zählte, aus dessen Nachlaß ihm (ein nicht gerade alltäglicher Vorgang) die Sophienausgabe der Werke Goethes geschenkt wurde. Eine Dissertation über die Gattungen griechischer Lyrik blieb unabgeschlossen. Am 15. Mai 1900 wurde er exmatrikuliert. Nach schwerer Krankheit im Spätwinter 1901 und nach dem Bruch mit dem Vater 1902 ließ Borchardt den Gedanken an eine Universitätslaufbahn fallen. Von weittragender Bedeutung für beide Seiten gestaltete sich Borchardts Besuch bei Hugo von Hofmannsthal am 17. Februar desselben Jahres, dessen Gast er vom 21. bis 28. Februar in Rodaun war. Er ist der Beginn einer lebenslangen, von Spannungen nicht freien Freundschaft, ohne die beider Werk und öffentliches Engagement nicht adäquat zu verstehen ist. In dieselbe Zeit fällt der Beginn der ebenfalls lebenslangen Freundschaft mit Rudolf Alexander Schröder. Die Bedeutung dieses abendländisch orientierten Trios nicht nur für die deutsche Literatur-, sondern auch für die Kulturgeschichte zumindest der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts ist noch längst nicht erschlossen.

In Wien lernte Borchardt in diesem Frühjahr auch die dortigen Größen des Fin de siècle kennen: Richard Beer-Hofmann, Arthur Schnitzler, Hermann Bahr, Rudolf Kassner. Für den 25jährigen Borchardt war keiner einer näheren Beachtung wert. Sein exzentrisches Fazit stand rasch fest: die gesamte Moderne (einschließlich des bald einsetzenden Expressionismus) war eine vernachlässigenswerte Angelegenheit. Ausgenommen Hofmannsthal und Schröder! Georges Werk beeindruckte ihn auch, doch kritisierte er dessen Siebenten Ring. Dem George-Kreis begegnete er mit deutlichem Vorbehalt. Gegen Ende dieses bedeutenden Jahres dürfte auch bereits der Aufbruch nach Italien liegen, das für Borchardt Arkadien und Refugium zugleich werden sollte. Nach seiner Heirat mit der Malerin Karoline Ehrmann 1906 ließ er sich endgültig in der Nähe von Lucca nieder. Den größten Teil seines Lebens brachte Borchardt fortan in der Toskana zu, unterbrochen nur durch (allerdings zahlreiche) Vortragsreisen in Deutschland. Für längere Zeit verließ er Italien, um sich als Kriegsfreiwilliger zu melden. Am 24.September 1914 erfolgte seine Einberufung. Sein persönliches Glück fand Borchardt freilich erst nach der Scheidung seiner ersten Ehe 1919 und der in Abwesenheit aller Angehörigen im abgelegenen Horn am Bodensee 1920 vollzogenen Heirat mit der Nichte des davon gar nicht entzückten Rudolf Alexander Schröder: Marie Luise Voigt, die ihm vier Kinder gebar. Auch nach der Rückkehr nach Italien wechselte Borchardt wiederholt den Wohnsitz. Der ideale Ort fand sich nicht so leicht. Die 1931 bezogene Villa Bernardini in Saltocchio bei Lucca war es in hohem Maße. Im August 1944 wurde nach einer Denunzierung die Familie Borchardt über Mantua, Verona nach Innsbruck abtransportiert. Zu Beginn des letzten Kriegsjahres starb Borchardt in Trins am Brenner an einem Schlaganfall.

Borchardt hinterließ ein überwältigend weitgespanntes Werk. Allein die zu seinen Lebzeiten veröffentlichten Schriften beinhalten Gedichte, Erzählungen, den Roman Vereinigung durch den Feind hindurch, Bühnenstücke, autobiographische Prosa, Aufsätze und Reden mit breitgefächerter Thematik sowie ein imponierendes Übersetzungswerk. Letzteres umfaßt altionische Götterlieder, Pindar, Platon, Tacitus, setzt sich von den Troubadours und Dante fort bis zu Walter Savage Landor und Swinburne. Dabei ging es Borchardt nie um die bloße Übertragung in die Muttersprache. Diese Übersetzungen verfolgen vielmehr dasselbe Ziel wie seine Dichtungen und Vorträge: die von ihm selbst so genannte „schöpferische Restauration“. Diese Formel ist ebenso mißverständlich wie Hofmannsthals Diktum von der „konservativen Revolution“ in der Schrifttumsrede von 1927. In beiden Fällen ist weder an Umsturz noch an blosses Bewahren gedacht, sondern an eine umfassende Erneuerung des gesamten kulturellen und politischen Lebens aus dem Geiste jener abendländischen Reservoirs, die Borchardt am höchsten schätzte: Antike, Mittelalter und Romantik. Daraus erwuchs seine unverwechselbare Lebensgestaltung, ergab sich die singuläre Verbindung von Philologe und Dichter auf kongenialer Ebene und leiteten sich die Impulse her für Werk-Konzeptionen, die letztlich alle (zumindest im Blick auf die zeitgenössischen Schriftsteller) kanonische Gültigkeit intendierten. Gerade Borchardts Anthologien,Ewiger Vorrat deutscher Poesie (1926) oderDer Deutsche in der Landschaft (1927), stellen hierfür anschauliche Beispiele dar. Daß es Borchardt nicht um eine Restauration im Sinne einer einfachen Wiederherstellung kultureller Überlieferungen ging, bezeugt sein Bewußtsein vom Abstand zu den Idealen, deren Erneuerung er als seine Lebensaufgabe betrachtete.

Freilich (und dies offenbart seine Lyrik überdeutlich) läßt sich ein derart hochgespanntes Bewußtsein von der Notwendigkeit wie der Einlösbarkeit solcher Erneuerung kaum mit leisen Tönen in Szene setzen. Als Exponent des überzeitlich Gültigen neigte Borchardt nicht selten im Gedicht wie in seinen Reden eher zur Überwältigung (mittels des dazu seit eh und je prädisponierten rhetorischen Stils) als zur menschenfreundlichen Werbung für „das Ewige“. Die Pathetische Elegie etwa setzt in dieser Art ein:

„Zeige mit starrenden Augen und starrender Wimper das Schicksal,
Unbekümmert und schön schreite das Ewige hin“
(Gedichte. Stuttgart 1957, S.110)

Wie zurückhaltend man jedoch mit der Isolierung einzelner Aspekte sein sollte, zeigt das besonders charakteristische Sonett auf sich selbst. In der Traditionsgattung des Sonetts drückt sich durchaus das Lebensgefühl der Jahrhundertwende in wesentlichen Komponenten aus. Doch mit einer selbst-herrlichen Geste nimmt das Gedicht über alle Frag-Würdigkeiten hinweg die Wende ins Zeitlos-Hehre.

Aus Sturm und Traum auffahrend, wo ich saß,
In einen Spiegel blickt ich heut hinein
Und wußte nicht von mir, und sah mit Pein
Das Anlitz meines Feindes aus dem Glas
Emporgesandt: von fleckiger Schatten Schein
Die Lippe überwildert, schien etwas
Dumpf hinzuknirschen zwischen Angst und Haß:
Ich sollt es sein; und möchte dies nicht sein!

Wir sind nicht, was wir sind; der Himmel, kaum
Vom Meer zu kennen, schleift mit Dunst beschwert
Und brütet Auswurf: aber gieße Traum
In deinen Becher; und mit Nordwind gärt
Die wundervolle See, und wildem Schaum,
Durch den das heilige Schiff mit Helden fährt. (S.101)

Werke: Gesammelte Werke in Einzelbänden. 14 Bde., Stuttgart: Klett-Cotta 1955-1989. – Einzelveröffentlichungen: Die fremde Muse. Übertragungen von Rudolf Borchardt. Hg.von Marie Luise Borchardt/ Ulrich Ott/ Francis Golffing. Stuttgart: Klett-Cotta 1974 (= Marbacher Schriften 6). – Vivian. Briefe, Gedichte Entwürfe 1901-1920. Hg.von Friedhelm Kemp und Gerhard Schuster. Stuttgart: Klett-Cotta 1985 (= Marbacher Schriften 25). – Der Deutsche in der Landschaft. Besorgt von Rudolf Borchardt. Frankfurt/Main 1989 (= it 1218). – Der unwürdige Liebhaber. Erzählung. Hamburg: Rowohlt 1993.

Lit.: Werner Kraft: Rudolf Borchardt. Welt aus Poesie und Geschichte. Hamburg 1961. – Jürgen Prohl: Hugo von Hofmannsthal und Rudolf Borchardt. Studien über eine Dichterfreundschaft. Bremen 1973. – Hubert Arbogast (Hg.): Über Rudolf Borchardt. Stuttgart 1977. – Rudolf Borchardt-Alfred Walter Heymel-Rudolf Alexander Schröder. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum. Bearbeitet von Reinhard Tgahrt/ Werner Volke/ Eva Dambacher/ Hildegard Dieke. Marbach 1978 (= Marbacher Kataloge 29). – Hildegard Hummel: Rudolf Borchardt. Interpretationen zu seiner Lyrik. Frankfurt/Bern 1983. – Horst Albert Glaser in Verbindung mit Enrico De Angelis (Hg.): Rudolf Borchardt 1877-1945. Referate des Pisaner Colloquiums. Frankfurt/Bern/New York/Paris 1987. – Gerhard Schuster: Rudolf Borchardt am Bodensee. Marbach 1993 (= Spuren 22).

Bild: Undatierte Photographie; reproduziert aus: Marbacher Katalog Nr. 29, S.590.

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolf_Borchardt

Walter Dimter