Mit sieben Geschwistern, vier Brüdern und drei Schwestern, wuchs er als Sohn des Schuhmachermeisters und späteren Eisenbahnbeamten Carl Otto Braun und seiner Ehefrau Henriette, geb. Geseke, in Königsberg auf. Er schloss eine Lehre als Steindrucker ab und trat schon während seiner Lehrzeit 1888 der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bei, die damals in vielen Punkten wie eine Geheimorganisation arbeiten musste. Mit der Aufhebung der Sozialistengesetze im Jahre 1890 fielen viele der Beschränkungen. Nach einer Wanderschaft, wie sie in seinem Beruf erwartet wurde, kehrte er nach Königsberg zurück und nahm intensiv an der Parteiarbeit teil. Dies trug ihm, wie vielen Genossen der damaligen Zeit, eine Verurteilung wegen Majestätsbeleidigung ein, er erhielt eine Gefängnisstrafe von zwei Monaten. Danach baute er mit dem Rechtsanwalt Hugo Haase (1863-1919), der später die Unabhängigen Sozialdemokraten mitbegründete, 1893 eine Wahlzeitung zu einem Wochenblatt aus, das später die ‚Königsberger Volkszeitung‘ wurde. Bei dieser Zeitung war er Redakteur, Drucker und Besitzer. Die wirtschaftliche Absicherung erlaubte ihm 1894, Emilie Podzius (1871-1934) zu heiraten, mit der er den Sohn Erich (1894-1915) hatte. Als der Sohn während seines Wehrdienstes an Diphterie erkrankte und daran verstarb, war dies für die Eltern ein sehr großer Schock, an dem sie lange litten.
Nachdem er mehrere Jahre unter den Landarbeitern Ostpreußens für sozialdemokratische Ziele und die Verbesserung der Lebenssituation der Arbeiter gewirkt hatte, trat er 1899 als Rendant bei der Königsberger Ortskrankenkasse ein und wurde bereits im folgenden Jahre ihr Geschäftsführer. Aus dieser Position heraus wurde er Mitglied der Königsberger Stadtverordnetenversammlung und übernahm verschiedene Aufgaben innerhalb der SPD Ostpreußens. Im gleichen Jahre gründete er die Zeitung ‚Ostpreußischer Landbote‘ und gab den ‚Volkskalender für die Landbevölkerung‘ heraus, mit denen er weiteren Einfluss gewinnen wollte. In den folgenden Jahren war er daran beteiligt, die revolutionäre Stimmung im Russischen Reich zu unterstützen. Im November 1903 wurde er verhaftet, da er mit Bestrebungen in Verbindung gebracht wurde, gegen Russland Hochverrat und Geheimbündelei zu betreiben. Nach fünf Monaten Untersuchungshaft kam es zum ‚Königsberger Geheimbundprozess‘ gegen ihn und Mitangeklagte. Hugo Haase, der ihn auch in diesem Verfahren vertrat, konnte das Gericht davon überzeugen, dass Braun nicht gegen deutsches Strafrecht verstoßen hatte und die gesamte Untersuchungshaft allein der Einschüchterung dienen sollte. Das Gericht sprach ihn im April 1904 von allen Vorwürfen frei. In den folgenden Jahren beschäftigte er sich mit Fragen der Landwirtschaft. Ab 1911 gehörte er dem Parteivorstand der SPD an, im Jahre 1913 wurde er Mitglied im Preußischen Abgeordnetenhaus. Während des Ersten Weltkrieges unterstützte er den ‚Burgfrieden‘ seiner Partei und wandte sich gegen Annexionen besetzter Gebiete. In der ersten demokratischen Regierung in Preußen übernahm er 1919 das Ministerium für Landwirtschaft, Domänen und Forsten, dem wegen der großen Agrarflächen östlich der Elbe eine erhebliche Bedeutung zukam.
Obwohl er dieses Amt nur etwa ein Jahr wahrnahm, konnte er viel bewirken: Er setzte für die Landarbeiter das volle Koalitionsrecht durch, wirkte an einer Sozialversicherung für Landarbeiter mit, schuf die Grundlagen für Tarifverträge der Landarbeiter und verbesserte mit einem Programm zum Bau von Wohnungen für Landarbeiter ihre soziale Stellung erheblich. Diese Bemühungen machten ihn bei den konservativen Landbesitzern äußerst unbeliebt. Der Deutschen Nationalversammlung in Weimar gehörte er als Abgeordneter an. Zu den wichtigen Aufgaben der preußischen Regierung gehörte es, die ehemaligen Soldaten, welche nach dem Waffenstillstand im Baltikum weitergekämpft hatten, in das Zivilleben zu überführen. Viele von ihnen waren in landwirtschaftliche Betriebe eingetreten, um von dort aus zu gegebener Zeit möglicherweise den Kampf wieder aufzunehmen. Von Beginn ihrer Tätigkeit an, war die preußische Regierung bemüht, mit ihrer Personalpolitik einen neuen Verwaltungsstil zu begründen und das konservative Erbe möglichst zu verringern.
Während des Putschversuches im März 1920 entging Braun nur knapp seiner Verhaftung durch die Putschisten. Nach der Niederschlagung wurde eine neue preußische Regierung gebildet, in ihr wurde Braun am 27. März 1920 erstmals die Ministerpräsidentschaft Preußens übertragen. Zu seinen ersten Maßnahmen gehörte es, die Struktur der Schutzpolizei so zu verändern, dass sie auf einen Putsch wirkungsvoller reagieren könnte, als dies bisher geschehen war. Die noch bestehenden Einwohnerwehren, in denen er einen Nährboden für Putschbemühungen sah, ließ er auflösen. Ebenso führte er die Bemühungen um eine Eingliederung der ‚Baltikumer‘ in das Zivilleben fort. Hierzu suchte er Ansiedlungsmöglichkeiten für sie in Zivilberufen zu organisieren. Da die Regierungsmehrheit wechselte, musste er am 10. März 1921 sein Amt aufgeben. Zwischen dem 21. April und 5. November 1921 war Adam Stegerwald (1874-1945) mit einer Mehrheit des Zentrums Ministerpräsident. Diese Unterbrechung endete am 7. November 1921, als Braun erneut zum Ministerpräsidenten wurde.
Eine Vielzahl drängender Probleme konnte in den Folgejahren angegangen werden. Die überkommenen Strukturen der Verwaltungsorganisation waren den neuen Aufgaben und der geänderten Steuerverteilung durch die Weimarer Verfassung nicht mehr gewachsen. Großflächige Eingemeindungen zu Großstädten im Ruhrgebiet und im Osten Preußens wurden ebenso durchgeführt wie die Aufhebung zahlreicher Gutsbezirke, die in andere Verwaltungseinheiten überführt wurden. Im Rheinland und Gebieten Westfalens beeinträchtigte die Besetzung durch alliierte Truppen eine ordnungsgemäße Verwaltung. In den von Braun geführten Regierungen konnten Minister das Schulwesen gründlich reformieren, da während seiner Amtstätigkeit nur zwei Minister dafür zuständig waren, die nur in langen Zeitabständen wechselten. Obwohl Braun dafür sorgte, dass die Ressortminister einer straffen Kabinettsdisziplin unterlagen, hatten sie bei gemeinsam vereinbarten Maßnahmen eine große Freiheit bei der Detaildurchsetzung.
Während seiner gesamten Amtszeit hatte er in dem selbstbewussten Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer (1876-1967) einen sehr eigenständigen Widerpart, der von 1921-1933 Präsident des preußischen Staatsrats war. Beide waren von Herkunft und Selbstverständnis her äußerst unterschiedlich, noch 1950 schrieb Braun über Adenauer, nachdem er ihn nach langen Jahren zum ersten Mal getroffen hatte: „Er ist nicht sympathischer geworden“. Als Rheinländer betrachtete Adenauer Preußens Ausdehnung bis zum Rheinland als eine ‚Fremdherrschaft‘, und Braun hielt die Unteilbarkeit Preußens nach seinem Staatsverständnis für nichtverhandelbar. Zum Glück für die neue Bundesrepublik haben die britischen Besatzungsbehörden durch die Schaffung verschiedener Bundesländer aus den Resten Preußens eine Entscheidung getroffen, die zwar nach der Weimarer Verfassung möglich gewesen wäre, jedoch damals zu keiner Zeit ernsthaft angegangen wurde.
An zwei Tagen, 18.-20. Februar 1925, war Wilhelm Marx (1863-1946) preußischer Ministerpräsident, trat jedoch das Amt nicht an, weil er Kandidat für die Wahl zum Reichspräsidenten geworden war. Da die Kommunisten bei dieser Wahl auf ihrem Kandidaten Ernst Thälmann (1886-1944) bestanden, erhielt Hindenburg die erforderliche Stimmenmehrheit. Braun wurde wieder Ministerpräsident und blieb dies bis zum 20. Juli 1932, dem Tag des ‚Preußenschlags‘. Seine lange Amtszeit und das dabei erreichte Ansehen ließen die Bezeichnungen für ihn ‚Zar aller Preußen‘ oder ‚der rote Zar‘ entstehen. 1927 ernannte ihm die Universität zu Köln zum Doktor rer. pol. ehrenhalber. Von 1920 bis 1932 war er neben seinem Amt in Preußen Abgeordneter des Reichstags.
Seine Ehefrau erkrankte 1927 an einer unheilbaren Krankheit, er zog sich daher aus dem gesellschaftlichen Leben Berlins zurück und reiste mit ihr mehrfach zu Kuraufenthalten ins Tessin. Seinen 60. Geburtstag verbrachte er deshalb 1932 im Tessin. Für den März 1933 hatte er wiederum eine Reise ins Tessin vorbereitet, die er am 4. März antrat. Zu dieser Zeit nach dem Reichstagsbrand wirkte die Abreise wie eine Flucht, und wurde ihm von seinen Parteigenossen lange als solche vorgeworfen. Eine Erklärung seiner Reisemotive, die er sogleich in der Schweiz veröffentlichte, wurde nicht zur Kenntnis genommen. Bedingt durch die Auflagen zu seinem Aufenthalt in der Schweiz zog er sich ins Privatleben in die ‚Casa Erna‘ am Mont Verità bei Ascona zurück, dort verstarb 1934 seine Frau. In den Jahren 1937/38 schrieb er seine Erinnerungen, die vom schweizerischen Armeestab vorzensiert wurden. Sie erschienen 1940 in erster Auflage in New York. Ab 1944 arbeitete er mit anderen Politikern, die in die Schweiz emigriert waren, an Plänen für ein Deutschland nach dem Kriegsende. Hierzu gehörten Heinrich Georg Ritzel (1893-1971), Joseph Wirth (1879-1956) und Wilhelm Högner (1887-1980). Von ihnen konnte nur Högner wirksam in die Nachkriegspolitik eingreifen.
Braun hatte mit der Politik der frühen Bundesrepublik nichts mehr zu tun. Brauns ehemaliger Mitarbeiter und Vertrauter Herbert Weichmann (1896-1983) wurde später Erster Bürgermeister in Hamburg, in Ascona hatte er den Nachlass Brauns gesichtet und gesichert.
Persönliche Unterlagen: Amsterdam, Internationales Institut für Sozialgeschichte. – Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preuss. Kulturbesitz, dort u.a. Manuskript seiner Erinnerungen, NL Braun A /67-68. – Bonn, Archiv der sozialen Demokratie.
Veröffentlichungen: Deutscher Einheitsstaat oder Föderativsystem? Berlin 1927. – Von Weimar zu Hitler, New York / Zürich 1940.
Lit.: Manfred Beer: Otto Braun als preußischer Ministerpräsident, Würzburg, Diss. phil. 1970. – Hagen Schulze: Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt/M. 1977. – Manfred Görtemaker: Otto Braun. Ein preußischer Diplomat, Berlin 2014. – Gerhard Dassow: Otto Braun und Konrad Adenauer, Hildesheim u.a. 2022.
Bild: Bureau des Reichstages (Hrsg.): Handbuch der verfassunggebenden Nationalversammlung, Weimar 1919. Carl Heymanns Verlag, Berlin 1919.
Ulrich-Dieter Oppitz