Biographie

Breyer, Richard

Herkunft: Rußland (Wolga- u. Schwarzmeer)
Beruf: Historiker
* 8. Februar 1917 in St. Petersburg
† 30. Dezember 1999

Die beiden Weltkriege haben den Lebensweg Richard Breyers, des Sprechers der Landsmannschaft Weichsel-Warthe seit 1981, wesentlich beeinflußt. Obwohl seine Familie aus Mittelpolen stammte, wo sein Vater Albert Breyer als Lehrer wirkte und in den Zwischenkriegsjahrzehnten als Siedlungsforscher Entscheidendes leistete, ist er in St. Petersburg geboren, das kurz vorher in Petrograd umbenannt worden war. Wie viele andere Deutsche in Mittelpolen war Albert Breyer nach Kriegsausbruch gezwungen worden, sich mit seiner Frau aus dem voraussichtlichen Kampfbereich zu entfernen. Als Offiziersanwärter („Portepéejunker“) brauchte er freilich nicht nach Sibirien, sondern kam in die russische Hauptstadt, die nun noch in Richard Breyers Geburtsjahr die beiden großen Revolutionen durchmachte.

Zweiundzwanzig Jahre später wurde der Student Richard Breyer in Posen, wo die Familie seit kurzem lebte, zusammen mit vielen anderen Deutschen der Stadt – darunter auch der Vater des Verfassers – am 1. September, am Tage des Kriegsausbruches, interniert. Es begann ein Fußmarsch nach Osten zum Internierungslager Bereza Kartuska, das der Verschleppungszug freilich nie erreichte. Richard Breyer hat die Strapazen und Gefährdungen dieser Verschleppung zwar ohne gesundheitliche Schäden überstanden, er mußte aber nach der Heimkehr erfahren, daß sein Vater, der als polnischer Reserveoffizier dem Einberufungsbefehl pflichtgemäß gefolgt war, in Warschau im September an den Folgen einer Verwundung durch Bombensplitter gestorben war. Die Jugendjahre hat Richard Breyer im mittelpolnischen Sompolno verlebt, wo sein Vater Schulleiter eines deutschen Progymnasiums war, in einem bewußt evangelisch-deutschen Elternhaus in polnisch-jüdischer Umgebung, und somit früh mit allen Fragen des Zusammenlebens von Angehörigen verschiedener Völker und Konfessionen vertraut. Die Gymnasialjahre verbrachte er an der Goethe-Schule in Graudenz, an einem der vier renommierten deutschen Privatgymnasien in Posen-Pommerellen und begann 1936 sein Studium der Geschichte und Germanistik in Warschau, das durch den Krieg unterbrochen wurde. Wehrdienst, sowjetische und polnische Kriegsgefangenschaft waren nach der Rückkehr von der Verschleppung die nächsten Stationen, verbunden mit dem Verlust der Heimat und des väterlichen Erbes an Aufzeichnungen und Manuskripten.

In Göttingen, wo Reinhard Wittram, Hans Mortensen, Werner Conze und insbesondere Werner Markert seine Lehrer waren, konnte Breyer sein Studium wieder aufnehmen und 1952 mit der Promotion abschließen. Seine Dissertation: Das Deutsche Reich und Polen 1932-1937. Außenpolitik und Volksgruppenfragen, 1955 als Band 3 der Marburger Ostforschungen erschienen, ist immer noch ein Standardwerk für die deutsch-polnischen Beziehungen der dreißiger Jahre, obwohl damals die Akten des Auswärtigen Amtes noch unzugänglich waren und die Basis der gedruckten Quellen nur schmal war.

Diese Arbeit und seine Sprach- und Sachkenntnisse qualifizierten Breyer für die Arbeit im Marburger Herder-Institut, in das er im Mai 1953 eintrat und in dem er bis zum Übergang in den Ruhestand am 31. März 1981 gearbeitet hat, seit 1961 als Stellvertretender Direktor, in einer langen Übergangsphase von 1966 bis 1972 auch als Amtierender Direktor.

In diesen nahezu drei Jahrzehnten hat Breyer die Arbeit des Instituts entscheidend mitgetragen, zu einem großen Teil in stiller, nach außen wenig sichtbarer Tätigkeit: als Herausgeber der „Marburger Ostforschungen“ seit 1970, die er vorher schon redaktionell betreut hatte, als Schriftleiter der „Wissenschaftlichen Übersetzungen“ und als Mitarbeiter beim „Wissenschaftlichen Dienst“. Daneben stand die Arbeit an der Buchreihe „Ostdeutschland unter fremder Verwaltung“, bei der Breyer die Bände Ostbrandenburg (1959) und Oberschlesien (1975) bearbeitete, am sogenannten „Länderbericht“ Polen (1976) und an den Berichten über die Tagungen des Herder-Forschungsrates. Die besondere Liebe Breyers aber gehört der einstigen deutschen Volksgruppe in Polen und der heutigen Landsmannschaft, der er viele nachdenkliche und nachdenkenswerte Beiträge widmete, im Bewußtsein, daß der kommenden Generation Fakten und Haltungen übermittelt werden müssen und daß die noch Lebenden Zuspruch und das Gefühl der berechtigten Zusammengehörigkeit brauchen.

Als Sprecher der Landsmannschaft hat er 1981 angesichts der Überalterung und des vorauszusehenden, immer schnelleren Dahinschwindens der Erlebnisgeneration kein leichtes Amt übernommen. Dem Historiker mit philosophisch-christlicher Grundhaltung ist es aber klar, daß auch einer Aufgabe, deren Ende vorauszusehen ist, nicht mit Resignation, sondern mit „gesundem Menschenverstand und mit Gottvertrauen“ (so eine Äußerung von ihm) begegnet werden muß, daß die Geschichte wie das eigene Volk eine würdige Selbstdarstellung dieser kleinen und doch bemerkenswerten Volksgruppe verlangen können.

„Deutsch-polnische Nachbarschaft“ ist eine weiteres Stichwort für Breyers Denken und Wirken. In dem 1975 zusammen mit Peter Nasarski und Janusz Piekalkiewicz herausgegebenen Bildband „Nachbarn seit tausend Jahren; Deutsche und Polen in Bildern und Dokumenten“ hat er alle historischen Beiträge und Betrachtungen verfaßt, in der ihm eigenen besonderen Art: reich an Fakten und Bildern, aber stets nachdenklich überlegend, mit einem Gefühl für schicksalhafte Verstrickungen. Die polnischen Kollegen, denen Breyer in Polen wie hierzulande häufig begegnet ist, haben erst allmählich, dann aber nachhaltig begriffen, wie sehr polnische Geschichte und polnische Kultur auch in ihm einen Anwalt in Deutschland und bei seinen Landsleuten haben. Verläßlichkeit, Prinzipientreue, Liebe zum eigenen Volk und Achtung für die Nachbarn, dazu eine gute Portion Naturverbundenheit und Freude am Entdecken, die Breyer zu strapaziösen Wanderungen im Bereich des Polarkreises veranlaßten – all das sind Eigenschaften, die dem Siebzigjährigen neben der Zuneigung seiner Landsleute die Anerkennung der polnischen Nachbarn sichern. Auch sie haben ja in den letzten Jahrzehnten lernen müssen, den Flitter rasch dahin-gesprochener Deklarationen und Proklamationen vom Edelmetall solider – und dann immer auch kritischer – Kenntnis und echter Anteilnahme zu unterscheiden. Daß Richard Breyer jetzt die Hände in den Schoß legen wird, wird niemand erwarten. Im Gegenteil: Sein weiteres Wirken wird beiden selbstgestellten Aufgaben gelten.

Werke: Fünfundreißig Jahre Forschung über Ostmitteleuropa. Veröffentlichungen des J.G. Herder Forschungsrates 1950-1984, Marburg/L 1985, S. 40-44.

Lit.: Würdigung von Roderich Schmidt und Peter Nasarski in: Kulturwart. Beiträge zur deutsch-polnischen Nachbarschaft, Nr. 143, 1981, S. 1-8.