Heimat ist kein Reimwort und verrauschbar,
kein Gewand, das Sturm und Zeit zerstört –
Heimat ist ein Schicksal –
unaustauschbar, was uns tiefst und ohne Tod gehört.
Im eigenen inneren Erleben wurzelte die Gedanken- und Gefühlslyrik, mit der sich Gertrud von den Brincken nicht allein in die Herzen ihrer baltischen Generation schrieb, sondern weit über diese hinaus schließlich zu der wohl bekanntesten deutschbaltischen Dichterin entwickelte. Mit ihrem auch epische und dramatische Formen umfassenden Werk zählte sie neben Eduard von Keyserling, Werner Bergengruen, Siegfried von Vegesack und Frank Thieß zu den bedeutendsten baltischen Schriftstellerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Wie diese erlebte sie als junger Mensch die äußeren Umwälzungen und inneren Erschütterungen ihrer Heimat und konnte bereits vor dem endgültigen Abschied der Deutschbalten in der „diktierten Option“ der Umsiedlung die persönliche Erfahrung des Heimatverlusts, des Fremdseins und der Neuorientierung vorwegnehmend literarisch gestalten. Kindheit und Jugend auf dem väterlichen Gut Brinck-Pedwahlen und in Mitau fielen in die Zeit der kulturellen „Russifizierung“, unter der auch die Deutschbalten Kurlands, einer der drei damaligen Ostseeprovinzen Rußlands, zu leiden hatten. Deren Auswirkungen und die Kulmination nationaler und sozialer Gegensätze in der Revolution von 1905/06 sowie der Verlust der herrschenden sozialen und politischen Stellung der Deutschbalten bei Gründung der unabhängigen baltischen Republiken 1918 bestimmten das Leben der Schriftstellerin. Diese äußeren Ereignisse schlugen sich auch in ihrem Werk nieder – im dichterischen wie auch in den autobiographischen Aufzeichnungen Land unter. Erlebnisse aus zwei Weltkriegen, Bolschewikenzeit und Nachkriegsjahren (1977).
Nach häuslichem Unterricht und dem Besuch einer höheren Privatschule in Mitau war Gertrud von den Brincken bis 1912 in Mitau als Sprachlehrerin tätig und nach dem Ersten Weltkrieg als Krankenschwester, um dann wieder in Tuckum Englisch zu unterrichten. 1925 heiratete sie den damals an der Universität Dorpat/ Estland lehrenden österreichischen Philosophieprofessor Walther Schmied-Kovwrzik (+ 1958) und zog mit ihm zwei Jahre darauf nach Frankfurt a. M., später nach Friedberg/Hessen und Wien; ab 1945 lebte sie in Bayern, seit 1950 in Regensburg, wo sie am 17. November 1982 starb, nachdem ihr zwischen 1975 und 1979 insgesamt vier Preise für ihr literarisches Werk verliehen worden waren.
Am Anfang des literarischen Schaffens stand bei Gertrud von den Brincken die Lyrik, die zum eigentlichen Schwerpunkt des Gesamtwerks werden sollte: Dem ersten Gedichtband der erst Neunzehnjährigen Wer nicht das Dunkel kennt (1911) folgten bis zum letzten Lyrikband Wellenbrecher (1976) nicht weniger als zehn weitere, einige davon in mehren Auflagen. Ab 1937 wurden sie ergänzt von Romanen und Erzählungen, die überwiegend baltische Themen zum Inhalt haben – vom ersten Roman März (1937) über Herbst auf Herrenhöfen (1939) und die Entwicklungsromane Unsterbliche Wälder (1941) sowie Niemand(1943) und die Novelle Der Kanzelstein (1943) bis zum noch 1981 veröffentlichten letzten Roman Nächte. Während März als erster Teil in den Unsterblichen Wäldern aufgenommen wurde, bilden diese mit Niemand und Nächte zusammen eine Art Baltischer Triologie mit der Kontinuität der handelnden Personen oder ihrer Nachkommen – ähnlich der bekannten Baltischen Tragödie Vegesacks oder dem Romanzyklus Unter dem wechselnden Mond von Mia Munier-Wroblewski. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten den großen Romanen neben den Erinnerungen ein Jugendbuch (Helmut sucht einen Freund, 1949), die Erzählung Aina (1959) sowie die aus einem Romankonzept entnommenen fünf Prosafragmente Ismael (1971). Auch der dramatischen Form hat sich Getrud von den Brincken zugewandt mit dem Hörspiel Der Kinderring (1959) und vor allem mit den beiden Schauspielen Die Sintflut steigt und Wasser der Wüste von 1977.
Die Entwicklungsromane sind durchzogen von nur wenig verschlüsselten Namen und direkten autobiographischen Bezügen zum Leben der Verfasserin, die zudem einen Teil ihrer Stoffe aus mündlicher und schriftlicher Überlieferung schöpfte. Ihre Epik weist formal und inhaltlich manche zeitbezogenen Einflüsse auf – überdauern wird die klangvolle Lyrik, in der erst ihre Sprachkunst ganz zum Tragen kommt und die bestimmt ist von Sehnsucht und Klage, oft mündend in ein Pathos, von dem sich nicht nur ihre Zeitgenossen einst begeistern ließen. Wie Agnes Miegel in ihrer ostpreußischen Heimat, so wurzelte Gertrud von den Brincken mit ihren balladesken und lyrischen Elementen tief in der kurischen Landschaft. Heimat bedeutete ihr dabei nicht nur Geborgenheit, sondern bedingungslose Hingabe und Selbstverleugnung und damit einen Weg aus der Vereinzelung, wobei notwendiges Wachstum auch bestimmte starre Formen der Tradition sprengen muß. Baltische Landschaft und baltisches Schicksal werden in schmerzlicher Erinnerung beschworen unter Anerkennung des trotz allen Leidens und Aufbegehrens letztlich Unabänderlichen. In kraftvollen Balladen gewinnt ein lebendiges Geschichtsbewußtsein künstlerische Gestalt; jene baltische Lebens- und Daseinsweise, die „in der Liebe und Hingabe an die Heimaterde Erfüllung sucht und nach der Einschmelzung der einzelnen in der Willensgemeinschaft drängt“ (O. v. Petersen, 1937), erscheint hier als Summe baltischen Schicksals. Kraft, Phantasie und Musikalität formten die Gedanken und Empfindungen Gertrud von den Brinckens zu bleibenden und überdauernden Versen – Zeugnissen ostdeutscher Dichtung über die äußerlich verlorene, im Wesensinnern aber unverlierbare Heimat.
Lit.: Meyers Enzyklopädisches Lexikon. Mannheim/Wien/Zürich 1980, Bd. 4 und dessen Jahrbuch 1983. – May Redlich: Lexikon deutschbaltischer Literatur. Köln 1989. – Walther Schmied-Kowarzik: Gertrud Freiin von den Brincken. Eine Studie, Reval o. J. (um 1921). – Arthu Behring: Grundriß einer Geschichte der baltischen Dichtung. Leipzig 1928/Hannover-Döhren 1973, S. 126f. – Otto von Petersen: Gertrud von den Brincken. In: Baltische Monatshefte 1933, S. 563-573. – Wilhelm Schäfer: Die auslanddeutsche Dichtung unserer Zeit. Berlin 1936. – Otto von Petersen: Schrifttum und Schicksal des baltischen Deutschtums. In: Baltische Monatshefte 1937, S. 616-622. – Vera von Sass: Gertrud von den Brincken. In: Jahrbuch des baltischen Deutschtums 31: 1984 (1983), S. 17f. – Ostdeutsches Lesebuch II. Bonn 1984. – Carola L. Gottzmann, Petra Hörner: Lexikon der deutschsprachigen Literatur des Baltikums und St. Petersburg. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 3 Bde., Berlin/New York 2007. – Iris von Gottberg: Nachworte in allen vier Bänden: Gertrud von den Brincken, Gesamtauswahl der Lyrik in vier Bände, Kassel 2011.
Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Gertrud_von_den_Brincken