Biographie

Bruiningk, Hermann von

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Historiker, Archivar
* 7. September 1849 in Dorpat/Estland
† 30. Mai 1927 in Riga

Hermann von Bruiningk entstammte einem ursprünglich bürgerlichen, dann 1737 vom deutschen Kaiser nobilierten Geschlecht, das in der Mitte des 17. Jahrhunderts von Lübeck ins Baltikum übergesiedelt war und dessen Angehörige sich generationenlang im livländischen Landesdienst, in hochrangigen Positionen der Evangelischen Kirche und der Ritterschaft, hervorgetan hatten. Le­benslangen Eindruck auf ihn übte mit seinen Lebensprinzipien der Großvater Karl von Bruiningk (1782-1848) aus, der, von dem le­bendigen Christentum und der warmen Humanität der Herrnhuterbewegung geprägt, auf seinen Gütern die wirtschaftliche und geistige Lage seiner estnischen Bauernschaften zu heben getrachtet hatte. Die ersten Lebensjahre verbrachte Hermann außerhalb des Baltikums, da seine Eltern die Heimat wegen eines schweren Herzleidens seiner Mutter bald nach seiner Geburt verlassen muß­ten und ihnen später von den russischen Behörden die Wiedereinreise verweigert wurde, nachdem seine Mutter in Deutschland und England Verbindung zu Revolutionären wie Gottfried Kinkel und Carl Schurz gehabt hatte. Erst unter dem liberalen Regiment Kaiser Alexanders II. konnte Her­mann mit seinem Vater 1857 nach Dorpat zurückkehren. Von 1867 bis 1875 studierte er dort die Jurisprudenz, wurde allerdings von dem Kunstforscher Karl Eduard von Liphart und dem Histori­ker Carl Schirren so sehr beeindruckt, daß sich seine Neigungen der Geschichte seiner baltischen Heimat zuwandten, wobei ihm der junge Dozent Richard Hausmann das nötige hilfswissenschaftli­che Rüstzeug für die Bearbeitung von Urkunden vermittelte.

Im September 1875 fand Bruiningk eine Anstellung in der Rigaer Kanzlei der Livländischen Ritter­schaft. Wie viele historisch arbeitende Angehörige seiner Generation fand er eine feste Position im konservativen Lager, das in Anknüpfung an Schirrens glänzende Streitschrift Livländische Antwort (1869) auf dem status quo beharrte, um die Stellung der Ritterschaften und des Deutschtums ge­gen den russischen und lettischen Nationalismus zu behaupten. In seiner 1879 erschienenen Schrift Livländische Rückschau, die in den damals in der baltischen Öffentlichkeit tobenden Streit um die Verfassungsreform des livländischen Landesstaates auf hohem Niveau eingriff, bekannte sich Bruiningk zu den „ständisch-corporativen Formen unserer Verfassungen“.

Von 1884 bis 1899 leitete Bruiningk als Ritterschaftssekretär die Ritterschaftskanzlei unter dem Landmarschall Friedrich von Meyendorff, mit dem ihn ein enges Vertrauensverhältnis verband. Gegen die damals in verstärktem Maße einsetzende Russifizierungspolitik der zaristischen Regie­rung lieferte er ihm juristische und historische Gutachten und Denkschriften. Freilich fand er die innere Erfüllung seines Lebens nicht in der politischen Betätigung, sein Herz hing an der ge­schichtswissenschaftlichen Forschung. So wurde er 1899 „Direktor des alten Archivs der Livländischen Ritterschaft“ und widmete sich in dieser Position in den folgenden 15 Jahren intensiv archivari­schen und landesgeschichtlichen Arbeiten.

Der I. Weltkrieg erzwang ihre Unterbrechung. Die Drangsalierung der Deutsch-Balten durch die russische Bürokratie, insbesondere das Verbot der deutschen Sprache, veranlaßte Bruiningk im Herbst 1915 dazu, nach Finnland auszuweichen, erst nach der deutschen Eroberung Rigas kehrte er im Januar 1918 wieder dorthin zurück. An seinem archivischen Arbeitsplatz harrte er auch aus, als die Bolschewisten im Januar 1919 die Stadt besetzten, und durch seine Unerschrockenheit bewahrte er die ihm anvertraute archivalische Überlieferung vor Schäden und Einbußen. Nachdem der neugegründete Staat Lettland 1920 die Livländische Ritterschaft auf­gehoben und ihr bewegliches und unbewegliches Eigentum, darunter auch das Archiv, eingezogen hatte, wurde er wegen seines großen wissenschaftlichen Ansehens und wegen seines Ausharrens in Riga als Beamter in das Lettländische Staatsarchiv übernommen und betreute in dieser Funktion bis zu seinem Tode das als eine Abteilung in das Staatsarchiv eingefügte Ritterschaftsarchiv.

Bruiningk hat in der deutsch-baltischen Historikerschaft durch die Breite und Tiefe seiner bedeut­samen Arbeitsfelder eine so herausragende Position eingenommen, wie wohl niemand sonst vor und nach ihm. Seine Leistung ist zunächst wissenschaftsorganisatorischer Art. Er erkannte die großen Aufgaben, die der baltischen Geschichtsforschung harrten, nämlich die Sicherung und Er­schließung der archivalischen Überlieferung und ihre Aufbereitung vornehmlich durch Quellenedi­tionen. Seine politische Stellung und seine Verbindung zu den führenden Persönlichkeiten des Landes ermöglichten es ihm, die Ritterschaft zu der Einsicht zu bringen, daß sie der Landesge­schichte materielle Förderung schulde, und so veranlaßte er sie dazu, langfristig, über Jahrzehnte hinweg zur Ausführung verschiedener Arbeiten erhebliche Geldmittel zu bewilligen. Beispielhaft sei darauf verwiesen, daß Bruiningk nach 1890 die Erhöhung der Subventionierung des zentralen Quellenwerkes des livländischen Mittelalters, des Liv-, est- und kurländischen Urkundenbuches, erreichte, so daß dieses Unternehmen dank zusätzlicher, ausgezeichneter Mitarbeiter, vor allem Leonid Arbusow d. Ä., und einer erweiterten inhaltlichen Konzeption zügig voranschritt.

Bruiningks besondere Sorge galt dem Archivgut, das die Ritterschaft in zurückliegenden Zeiten, über ihre eigene Altregistratur hinaus, mehr oder minder zufällig, sogar aus staatlicher Hand, er­worben, aber seitdem unbeachtet liegen gelassen hatte, ferner dem Archivgut, das sich in der Hand von ständischen Behörden wie dem Konsistorium und dem Hofgericht befand. Durch seine per­sönlichen Bekanntschaften erreichte er, daß zentrale Archivbestände des 17. bis 19. Jahrhunderts wie die Kirchenbücher sowie die Überlieferung des Livländischen Hofgerichts und der Ökonomie­verwaltung in seinem Archiv konzentriert wurden. Und er bewog die Ritterschaft dazu, ihm die erforderlichen Finanzen zu gewähren, so daß er in langjähriger Arbeit bis zum I. Weltkrieg diese Überlieferung durch ihre Ordnung und Verzeichnung benutzbar machte. Durch seinen Einsatz er­weiterte sich so das Ritterschaftsarchiv, dessen Kern die bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts zu­rückreichenden Akten der Ritterschaftskorporation waren, um andere Überlieferungen ständischer und staatlicher Behörden, so daß es den Charakter eines „historischen Landesarchivs“ annahm, das heutzutage den historischen Kern des Zentralen Historischen Staatsarchivs Lettlands in Riga aus­macht. Bruiningk erkannte, daß die Russifizierung die Betätigungsmöglichkeiten der deutsch-balti­schen Historikerschaft merklich einzuengen drohte. Insbesondere bedeutete die 1893 erfolgte Russifizierung der Universität Dorpat, daß von dort aus kein hilfswissenschaftlich geschulter hi­storischer Nachwuchs mehr zu erwarten war. Er zog daraus die Schlußfolgerung, daß die landes­geschichtliche Arbeit in den bestehenden geschichtswissenschaftlichen Vereinen intensiviert wer­den müsse, insbesondere in der herausragenden „Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen Rußlands“ in Riga, die im Gegensatz zu den anderen, in ihren Interessen je­weils auf bestimmte Orte oder Regionen beschränkten Vereinen sich der Geschichte der gesamten baltischen Lande, Estlands, Livlands und Kurlands, verschrieben hatte.

Bruiningk, der der Gesellschaft nach seiner Übersiedlung nach Riga beigetreten war, gehörte bald zu ihren führenden Persönlichkeiten, die insbesondere nach einer sehr erfolgreichen kulturhistori­schen Ausstellung 1884 ihre Aktivitäten energisch ausweiteten und sich dabei neben der histori­schen, das Mittelalter bevorzugenden Forschung auch der Pflege kulturhistorischer Denkmäler widmeten. Für die Restaurierung des Rigaer Domes wurde ein Dombauverein gegründet, und in­nerhalb der Domanlage gewann die Gesellschaft geeignete Räumlichkeiten für ihr Dom-Museum und ihre durch zahlreiche wertvolle Handschriften ausgezeichnete Bibliothek. Von 1890 bis 1902 hatte Bruiningk die Präsidentschaft der Gesellschaft inne, es war nach dem Zeugnis von fachkun­digen Zeitgenossen „die glänzendste, die glücklichste Periode“, ja „das goldene Zeitalter“ in ihrer mehr als hundertjährigen Geschichte von 1834 bis 1939.

Bruiningks eigene historische Untersuchungen sind gänzlich der reinen Forschung, der Erfassung und analytischen Durchdringung des Quellenstoffs, gewidmet. Er war von der Erkenntnis durch­drungen, daß es in der gegebenen Situation erst einmal darauf ankam, durch die Sicherung der ar­chivalischen Überlieferung und ihre quellenkritische Bearbeitung eine feste Grundlage für darauf aufbauende Darstellungen zu schaffen. Dabei legte er in einem erweiterten Begriff von Landesge­schichte nachdrücklich Wert darauf, das Untersuchungsfeld über die politische Geschichte hinaus um die Kulturgeschichte zu ergänzen. „Mit wie viel mehr Liebe werden wir uns nicht an unsere Geschichte machen können, wenn Kunst- und Kulturgeschichte, Rechts- und Verfassungsleben, Agrargeschichte etc. in ihren Bereich hineingezogen sein werden!“ Im Hintergrund stand die zeit­genössische Erfahrung, daß die Russifizierung nicht nur die politische Stellung des Deutschtums, sondern überhaupt seine ganze kulturelle Eigenständigkeit bedrohte und daß daher die kulturge­schichtliche Forschung seine historisch gewachsene Eigenart erhellen und ins Bewußtsein heben müsse. Bruiningks Interessen galten hierbei besonders der Kunstgeschichte, der Bau- und Archi­tekturgeschichte. Aus einem weiteren Gegenstandsbereich, der Kirchengeschichte, dem geistlichen Leben und der Frömmigkeit des spätmittelalterlichen Livland, stammt eines seiner Hauptwerke, das 1903/04 unter dem spezialistischen Titel Messe und kanonisches Stundengebet nach dem Brauche der Rigaschen Kirche im späteren Mittelalter erschien.

Bruiningks wissenschaftliche Hauptleistung, ja, ohne Übertreibung wird man sagen können, sein eigentliches Lebenswerk sind die Livländischen Güterurkunden. In seiner ersten Rigaer Zeit ent­wickelte er bereits ein umfangreiches Programm zur Erfassung, wissenschaftlichen Bearbeitung und Publizierung dieser Quellengruppe, die das Liv-, est- und kurländische Urkundenbuch wei­testgehend außer Betracht gelassen hatte. Es gelang ihm, durch seine persönlichen Kontakte zahl­reiche Adelsgenossen dazu zu bewegen, ihm ihre Urkundenbestände in sein Archiv zu übergeben oder wenigstens zur Abschriftnahme zeitweise dorthin auszuleihen, so daß er bis zum I. Weltkrieg eine wohl annähernd vollständige Sammlung der damals im Lande noch erhaltenen Güterurkunden zusammengebracht hatte. Eine Ergänzung erfuhr diese Sammlung durch die umfangreiche ab­schriftliche Überlieferung im Ritterschaftsarchiv, die ihr Dasein vornehmlich den sogenannten Re­visionen der polnischen, schwedischen und russischen Herrscher des 16. bis 18. Jahrhunderts, also den von ihnen veranlaßten Überprüfungen der Rechtsgrundlagen des adligen Grundbesitzes, ver­dankte, und durch die Baltica in zahlreichen außerbaltischen Archiven in Moskau, Petersburg, Stockholm, Königsberg (Deutschordensarchiv), Wetzlar (Akten des Reichskammergerichts). 1908 erschien schließlich ein fast 800 Seiten starker Band Livländische Güterurkunden für den Zeitraum 1207 bis 1500.

Der Ausbruch des I. Weltkrieges verlieh dem Unternehmen den entscheidenden Antrieb zur Fort­setzung, denn aus Furcht davor, daß die russische Verwaltung seine Archivalien, für ihn unzu­gänglich, ins Innere Rußlands verbringen lassen könnte, fertigte Bruiningk vom Herbst 1914 bis in den Herbst 1915 in angestrengter Arbeit druckfertige Abschriften aller ihm erreichbarer Quellen­texte aus den Jahren 1501 bis 1561 an. Im Herbst 1918, noch während der deutschen Besetzung Rigas, leitete er den Druck ein, aber dann schien sein Werk in den Wirren der Nachkriegszeit zeit­weilig unterzugehen. Die Unterstützung durch lettische Wissenschaftler und Stellen half schließlich alle Hindernisse überwinden, 1923 kam der mit über 900 Seiten und 1200 Nummern noch umfang­reichere zweite Band für den Zeitraum 1501 bis 1545 heraus.

Bruiningks Quellenedition wird den höchsten Ansprüchen gerecht: Die vorzügliche quellenkriti­sche Edition der Texte ist verbunden mit umfassenden sachlichen Erläuterungen, und die Perso­nen-, Orts- und Sachregister sind in ihrer Differenziertheit und Aussagekraft schwerlich zu über­treffen. Die Editionsmethode ist die hochentwickelte der Monumenta Germaniae Historica, die Georg Waitz seinen baltischen Schülern im Göttingen der 1860er und 1870er Jahre vermittelt hatte und die sich Bruiningk über seinen Dorpater Lehrer Hausmann, einen Waitz-Schüler, ange­eignet hatte. Die Livländischen Güterurkunden beschreiben vor allem die Situation des von den Landesherren verliehenen adligen Grundbesitzes und der den Vasallen untertänigen bäuerlichen Bevölkerung, sie sind für die Rechts- und Verfassungsgeschichte, für die Siedlungs-, Bevölke­rungs- und Agrargeschichte Alt-Livlands unentbehrlich und dafür die maßgebliche Quellengrund­lage. Obwohl Bruiningk in den Jahren nach 1914 die Quellen bis zu dem von ihm angestrebten Endjahr 1561, dem Ende der livländischen Selbständigkeit, zusammengetragen hatte, wagte er es wegen seines hohen Alters nach dem Erscheinen des zweiten Bandes nicht mehr, auch noch den dritten Band zu vollenden. Er hinterließ bei seinem Tode ein umfangreiches Manuskript mit druckfertigen Quellentexten, dessen Veröffentlichung in den nachfolgenden Jahrzehnten trotz aller Hoffnungen an der Ungunst der politischen Verhältnisse gescheitert ist, aber jetzt dank einer Kooperation zwi­schen der Baltischen Historischen Kommission und dem Zentralen Historischen Staatsarchiv Lett­lands in Riga vor dem Abschluß steht. Mehr als 70 Jahre nach seinem Tode erfährt damit Brui­ningks monumentale wissenschaftliche Leistung ihren Abschluß.

Lit.: Bernhard Hollander: Dr. phil. h.c. Hermann von Bruiningk, in: Mitteilungen aus der livländischen Geschichte 24 (1928-1933), S. 6-30. – Reinhard Wittram: Der I. Baltische Historikertag im April 1908 in Riga und seine Pro­blematik, in: Ostdeutsche Wissenschaft 5 (1958), S. 400-421. – Deutschbaltisches biographisches Lexikon 1710-1960, hrsg. v. Wilhelm Lenz, Köln, Wien 1970, S. 113 f. (Lit.). – Wolfgang Leesch: Die deutschen Archivare 1500-1945, Bd. 2, München etc. 1992, S. 86 (Lit.).

Klaus Neitmann (OGT 1999, 209)