Biographie

Cantor, Georg

Herkunft: Rußland (Wolga- u. Schwarzmeer)
Beruf: Mathematiker, Philosoph
* 3. März 1845 in St. Petersburg
† 6. Januar 1916 in Halle/Saale

Als Sohn eines aus Kopenhagen ausgewanderten wohlhabenden Maklers und einer aus der ungarischen Musikerfamilie Böhm stammenden Wiener Mutter kam Georg Cantor in der russischen Hauptstadt zur Welt. Dort verbrachte er die ersten 11 Jahre seines Lebens, bis die Familie nach Frankfurt a.M. übersiedelte. In Frankfurt besuchte er Privatschulen, in Wiesbaden das Gymnasium und in Darmstadt von 1859 bis 1862 die Höhere Gewerbeschule (aus der später die heutige Technische Hochschule wurde). Anstelle des vom Vater bevorzugten Ingenieurstudiums durfte sich Georg der Mathematik widmen: Zürich, Berlin – wohin die Familie nach dem Tode des Vaters zog -, Göttingen und wieder Berlin waren die Universitäten, an denen er studierte. In Berlin, wo er Kummer, Weierstraß und Kronecker begegnete sowie den Kommilitonen H. A. Schwarz zum Freund gewann, promovierte er. 1868 legte er die Staatsprüfung für das höhere Lehramt ab. Schwarz bewog ihn, sich in Halle 1869 zu habilitieren, wo ihm dann nach langem Hin und Her 1879 eine Professur übertragen wurde, die er bis zur Emeritierung 1913 innehatte.

Wertvoll für ihn waren Freundschaften mit den Fachgenossen Richard Dedekind und Gustaf Mittag-Leffler, der ihm in der von ihm gegründeten mathematischen Zeitschrift Acta Mathematicaein Podium verschaffte. In einem scharfen Gegensatz stand Cantor zu dem Berliner Kollegen Leopold Kronecker, der als Formalist für ihn als Intuitionisten und seine Mengenlehre (Lehre der Mannigfaltigkeiten) nichts übrig hatte. Cantors Urteil, daß Kronecker nur ein Virtuose, aber kein Komponist sei, hat die Fachwelt freilich bald bestätigt. Eine Aussöhnung mit Kronecker fand 1884 statt, jedoch ohne eine wirkliche Entspannung zu bewirken.

Von ihm gehegte Hoffnungen auf einen Ruf an eine größere Universität mußte Cantor schließlich begraben. Das Interesse für Mengen trat zurück, philosophische und theologische Überlegungen beschäftigten ihn zunehmend. Ab 1900 zeigten sich bei ihm manisch-depressive Erscheinungen, die er aber immer wieder bezwang. Er starb in der Psychiatrischen Klinik zu Halle.

Von seinem Hallenser Kollegen E. Heine war Cantor geraten worden, sich mit der Eindeutigkeit der Fourieranalyse, wonach beispielsweise ein Klang genau in seine Töne zerlegt werden kann, zu befassen. Mit der Veröffentlichungüber die Ausdehnung eines Satzes aus der Theorie der trigonometrischen Reihen und der darin entwickelten Theorie der reellen Zahlen sowie der Einführung des für die Topologie grundlegenden Begriffes der Ableitung einer Punktmenge hatte sich Cantor bereits 1872 in der Geschichte der Mathematik verewigt. Alles Frühere stellte jedoch die in den Mathematischen Annalen abgedruckte sechsteilige Aufsatzreiheüber unendliche lineare Punktmannigfaltigkeiten(1879 bis 1884) in den Schatten.

Zusammen mit Schwarz war Cantor um den Ausbau der Weierstraßschen Analysis bemüht, wie ihr Briefverkehr um 1870 bezeugt. Letzterer brach aber ab, da Schwarz Cantors Einstellung zu den Grundlagen der Mathematik – Cantor sah sie in einem philosophisch-religiösen Zusammenhang – nicht teilte.

Im Briefwechsel mit mehreren Mathematikern, insbesondere Dedekind, entwickelte Cantor die Mengenlehre, jenes „Paradies, aus dem uns niemand mehr vertreiben kann“, wie Hilbert urteilte. Den „Geburtstag“ der Mengenlehre kann man genau datieren: Am 7. Dezember 1873 erbrachte Cantor in einem Brief an Dedekind den Beweis der Nicht-Abzählbarkeit des Kontinuums, wodurch es zum ersten Mal möglich wurde, Unterscheidungen im Unendlichen zu begründen. 1874 veröffentlichte Cantor die erste Abhandlung zur Mengenlehre; die synoptische Arbeit als Abschluß des Lebenswerkes erschien 1895. Die „Mengenlehre“ im heutigen Schulunterricht bildet freilich nur einen bescheidenen Teil der Cantorschen Schöpfung.

Schon allein die unendlichen Mengen („transfiniten Mannigfaltigkeiten“) werfen philosophische Probleme auf. Gibt es in der Natur unendlich viele Atome? Wie sinnvoll ist die Grenzwertrechnung in der Analysis? Haben verschieden lange Strecken verschieden viele Punkte (wie Cusanus schon fragte)? Gemäß seinem Hang zum platonischen Idealismus steht bei Cantor Philosophie über der Mathematik. Nicolaus Cusanus verwandte gute 400 Jahre zuvor mathematisches Gedankengut, das sich auf das Unendliche bezog, um klarer über Gott und Glaubensdinge zu sprechen. In gleicher Weise zogen Theologen Cantors Mengenlehre heran, um das Aktual-unendliche, den Gottesbegriff „mathematisch zu erklären“.

Cantor blieb zwar Glied der evangelischen Kirche, neigte aber immer mehr zum Katholizismus und empfahl dessen Würdenträgern seine diesbezüglichen Abhandlungen. Einen Stellvertreter Gottes auf Erden hielt er jedoch nicht für notwendig. Er bemühte sich auch um den Nachweis, daß Joseph von Arimathäa Jesus‘ leiblicher Vater gewesen sei. Selbst in den zeitgenössischen Streit um die Herkunft der Shakespeare-Werke mischte er sich ein; er glaubte nachweisen zu können, daß Bacon als der Urheber der Werke Shakespeares angesehen werden müsse.

Nicht zuletzt die Gründung der Deutschen Mathematiker-Vereinigung im Jahre 1890 geht auf die Initiative Cantors zurück. Die 1896 von ihm beabsichtigte Ausweitung auf internationale Ebene, auch zur Förderung des Friedens, fand beim preußischen Unterrichtsministerium kein Wohlwollen. Mehrere hohe Ehrungen krönten Cantors späte Jahre: Mitten im Weltkrieg feierte man bescheiden, aber würdevoll seinen 70. Geburtstag. Er wurde Ehrenmitglied der Londoner Mathematical Society und der Mathematischen Gesellschaft zu Charkow.

Die Mengenlehre, die schon zu Lebzeiten Cantors weiter entwickelt wurde (Namen wie E. Borel, Hausdorff und Zermelo sind in diesem Zusammenhang zu nennen), wird heute von den Formalisten beherrscht – ganz im Widerspruch zu Cantors Intuitionismus. Doch in jüngster Zeit beginnen sich ganz neue Formen abzuzeichnen, die wieder vom Formalismus abkommen, weil die Philosophen etwa das Postulat des „ausgeschlossenen Dritten“ (ein Satz ist wahr oder falsch, etwas anderes gibt es nicht) nicht mehr aufrechterhalten wollen. Unverrückbar bis in die Gegenwart dürfte Cantors Auffassung geblieben sein, daß Reine Mathematik Mengenlehre ist.

Werke und Briefe: Gesammelte Abhandlungen mathematischen und philosophischen Inhalts. Herausgegeben von Ernst Zermelo. Berlin 1932 (Reprint 1980). – Briefe, herausg. v. H. Meschkowski und W. Nilson. Berlin, Heidelberg 1991. – Die Rawley’sche Sammlung von zweiunddreissig Trauergedichten auf Francis Bacon. Ein Zeugnis zu Gunsten der Bacon-Shakespeare-Theorie. Mit einem Vorwort herausgegeben von Georg Cantor.Halle a.S. 1897.

Lit.: Cohen P.J. und Hersh R.: Non-Cantorian Set Theory.Scientific American 217 (1967) 6, 104-116. – Finsler P.: Der platonische Standpunkt in der Mathematik. Dialectica 10 (1955), 250-270. – Ilgauds H.J.: Zur Biographie von Georg Cantor: Georg Cantor und die Bacon-Shakespeare-Theorie. In: Schriftenreihe f. Gesch. d. Naturwissenschaften, Technik und Medizin 19 (1982) 2, 31-49. – Lorey W.: Der 70. Geburtstag des Mathematikers Georg Cantor. In: Zeitschrift für math. und naturw. Unterricht 46 (1915), 269-274. – Meschkowski H.: Georg Cantor – Leben, Werk und Wirkung. Mannheim, Wien, Zürich 1983. – Reichel H.-Ch.: Zum Realitätsproblem mathematischer Begriffe. In: Oeser E. u. Bonet E. M. (Hrsg.): Wiener Studien zur Wissenschaftstheorie, Band 2. Wien 1989. – Röttel K.: Nikolaus von Kues – seine Eichstätter Mitteleuropakarte von 1491, sein Beitrag zur Mathematik und Physik, sein theologisches Wirken. In: Globulus 1 (1993), 65-74. – Schröder E.: Über G. Cantorsche Sätze. In: Jahresbericht der Deutschen Mathematiker-Vereinigung 5 (1896), 81-82. – Wußing H. und Arnold W.: Biographien bedeutender Mathematiker. Berlin 1975.

Bild: W. Arnold, Berlin.

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Cantor

Karl Röttel