Biographie

Cassirer, Ernst

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Philosoph
* 28. Juli 1874 in Breslau
† 13. April 1945 in New York

„Zugleich original und für die philosophische Bewegung unseres Jahrhunderts kennzeichnend“ hat der große deutsche Pädagoge Wilhelm Flitner den Weg Ernst Cassirers als Denker, Deuter und Wegweiser in der geistigen Zerrissenheit und den politischen Wirren der Gegenwart genannt. In der Tat haben die Ereignisse des 20. Jahrhunderts die Wirksamkeit dieses intellektuell hochstehenden, wissenschaftlich verantwortungsbewußten und von einem wirklichkeitsnahen Humanismus erfüllten schlesischen Philosophen gebrochen — „gebrochen“ freilich nicht im Sinne des Zerbrechens, sondern in dem Sinne, wie Licht von einem Prisma gebrochen wird und, in eine Fülle reiner Farben zerlegt, in verschiedenen Bereichen auf je eigene Weise Wirkungen zeigt.

Als Sohn einer wohlhabenden jüdischen Kaufmannsfamilie geboren („die Cassirers“ nahmen als Kunsthändler und Verleger unter anderem in Berlin und Wien einen bedeutenden Rang ein), studierte Ernst Cassirer in Berlin, Leipzig und Heidelberg Philosophie, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte, Mathematik und Naturwissenschaften und habilitierte sich nach der in Marburg 1899 erfolgten Promotion zum Doktor der Philosophie in Berlin 1906 für dieses Fach. Seit 1914 erst außerordentlicher, dann ordentlicher Professor in Hamburg, trat er nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler vom Lehramt zurück und emigrierte zunächst nach England, dann 1935 nach Schweden und schließlich in die USA, wo er von 1941 an Gastprofessor an der Yale University und ab 1944 an der Columbia University in New York war. Dort setzte ein Herzschlag seinem Leben bereits im nächsten Jahr ein Ende.

Nach einer Leibnizstudie 1902 und einer größeren philosophiehistorischen Untersuchung unter dem Titel Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit (I–III 1906–1920, IV posthum 1950) arbeitete Cassirer überwiegend systematisch und entfernte sich dabei über Substanzbegriff und Funktionsbegriff (1910), Studien zu erkenntnistheoretischen Problemen der modernen Physik (seit 1920) und sein Hauptwerk Philosophie der symbolischen Formen (I–III 1923–1929) von seiner neukantianischen Ausgangsposition und wendete sich zunehmend in Richtung auf eine umfassende eigenständige Philosophie der menschlichen Kulturschöpfungen. Statt einer Übersetzung des zuletzt genannten Werkes veröffentlichte er in der amerikanischen Emigration 1944 den Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, ein Buch, das nach seinen eigenen Worten „psychologische, ontologische und erkenntnistheoretische Fragen untersucht und Mythos und Religion, Sprache und Kunst, Wissenschaft und Geschichte in seinen Themenkreis einbezieht“, also alle die Kulturbereiche, in denen die „symbolischen Formen“ zutage treten, die Cassirer als organisierende Prinzipien des menschlichen Geistes und als charakteristische Leistung des Menschen — des „symbolverwendenden Wesens“ — herausarbeitet und anschaulich beschreibt. Man erahnt bei der Lektüre dieses Spätwerks, in dem Cassirers brillante Beherrschung der Strukturmathematik und der modernen Physik kaum mehr zum Tragen kommen, weshalb seine Forschungen und Ausblicke der Kunstwissenschaft des 20. Jahrhunderts unauslöschliche Impulse geben konnten. Im Vergleich zu den vorausgegangenen intensiven Detailstudien oft nicht ganz so tiefdringend, gibt der einbändige (heute in zwei unabhängigen deutschen Übersetzungen von 1960 und 1990 greifbare) Essay on Man einen hervorragenden (und stilistisch glänzenden) Überblick über die Zielsetzung der Forschungen des universellen Gelehrten. Deren bleibender Ertrag wird, jahrzehntelang im Schatten von dramatischer wirkenden, aber langfristig gesehen doch eher kurzatmigen Gedankengebäuden, in der an Orientierungsmangel leidenden Philosophie der Gegenwart gerade erst wiederentdeckt.

Obwohl viele Werke Cassirers bewußt historisch ausgerichtet sind (und hier auf ihrem Gebiet zu den erhellendsten Studien dieses Jahrhunderts gehören), darf man hoffen, daß die von Cassirer ebenso bewußt verfolgten systematischen Konsequenzen und ihre durch souveräne Unabhängigkeit von bloßen philosophischen „Schulen“ ermöglichte zeitlose Gültigkeit auch für die Zukunft Maßstäbe liefern werden. Den wesentlichen Zug seiner Persönlichkeit hat vielleicht am ehesten der amerikanische Philosoph Charles W. Hendel getroffen, der in einer Würdigung Cassirers feststellt, daß es diesem leidenschaftlichen philosophischen Lehrer an der Yale University gelungen sei, drei Generationen zugleich an das „Abenteuer“ geistesgeschichtlicher Studien heranzuführen, und dazu ebenso schön wie knapp bemerkt: „We all remember Socrates at the same age and doing the same things.“

Werke: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Marburg 1902, repr. Hildesheim und Darmstadt 1962. – Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, I–III Berlin 1906–1920, I–II31922, III21923, IV posthum Zürich 1950, Stuttgart21957, repr. sämtlich Darmstadt 1991. – Substanzbegriff und Funktionsbegriff, Berlin 1910,21923, repr. Darmstadt 1990. – Kants Leben und Lehre, Berlin 1918,21921, repr. Darmstadt 1977; Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen, Berlin 1921, repr. Darmstadt 1957. – Philosophie der symbolischen Formen I–III, Berlin 1923–1929, Index (bearb. v. H. Noack) 1931, repr. Darmstadt 1987–1990. – Kant und das Problem der Metaphysik. Bemerkungen zu Martin Heideggers Kant-Interpretation, Kant-Studien 36 (1931), 1–26. – Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik, Göteborgs Högskolas Årsskrift XLII (1936), Göteborg 1937, repr. Darmstadt 1957. – An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, New Haven 1944 (dt.Was ist der Mensch? Versuch einer Philosophie der menschlichen Kultur, übers. v. W. Krampf, Stuttgart 1960, sowie: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, übers. v. R. Kaiser, Frankfurt a.M. 1990).

Lit.: Paul Arthur Schilpp (ed..): The Philosophy of Ernst Cassirer, Evanston/USA 1949, 21958,31973, dt. (gekürzt) Stuttgart u.a. 1966; Toni Cassirer: Mein Leben mit Ernst Cassirer, Hildesheim 1981. – John Michael Krois: Cassirer. Symbolic Forms and History, New Haven/London 1987. – H. J. Braun/H. Holzhey/E. W. Orth (Hgg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M. 1988. – Internationale Zeitschrift für Philosophie, Heft 2/1992 (Schwerpunktthema Ernst Cassirer). – Stephan Nachtsheim: Ernst Cassirer, „Zur Logik der Kulturwissenschaften“, OGT 1992, 286–288 (dort weitere Lit.). – Andreas Graeser: Ernst Cassirer. München 1994. – Hans Jörg Sandkühler, Detlev Pätzold (Hrsg.): Kultur und Symbol. Ein Handbuch zur Philosophie Ernst Cassirers. Metzler, Stuttgart 2003. – Birgit Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Berlin 2004.

Bild: Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz.

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Cassirer

Christian Thiel