Biographie

Celan, Paul

Herkunft: Galizien u. Bukowina
Beruf: Schriftsteller, Dichter, Übersetzer
* 23. November 1920 in Cernowitz/Bukowina
† 20. April 1970 in Paris (?)

Der Umgang mit Werk und Persönlichkeit des bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikers der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spiegelt das Dilemma gerade der nachdenklicheren Deutschen hinsichtlich der (von Martin Walser in seiner Friedenspreis-Rede 1998 ohne Ansehen der unterschiedlich betroffenen Menschen besonders eigenwillig thematisierten) Vergangenheitsbewältigung vielgestaltig wider. Denn im Mittelpunkt von Celans Dichtung steht der Massenmord der Nazis an den Juden, dessen Opfer auch seine Eltern wurden. Aus der literarischen Gestaltung dieses Traumas leiten sich Ruhm wie Desaster des Lyrikers Celan her, was sich am Beispiel seines bekanntesten Gedichts „Todesfuge“ verdeutlichen läßt.

Als er diesen Text erstmals öffentlich bei der Tagung der „Gruppe 47“ im Mai 1952 in Niendorf an der Ostsee las, wurde er (wie Walter Jens sich erinnert) „ausgelacht [ … ]. Die ‚Todesfuge‘war ja ein Reinfall in der Gruppe! Das war eine völlig andere Welt, da kamen die Neorealisten nicht mit.“ Ausgerechnet (oder bezeichnenderweise) im Kreis von Literaten, die sich entschieden „antifaschistisch“ und links verstanden, mußte Celan erkennen, daß zumindest der tonangebende Teil des wichtigsten Dichterbundes der Nachkriegszeit das jüdische Schicksal auch noch sieben Jahre nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht offenkundig ausklammern wollte. Auch seine Vortragsweise wurde, erschreckend instinktlos, mit dem Pathos von Goebbels verglichen. Und selbst Hans Werner Richter bezeichnete Celans Rezitation als „Singsang [ … ] wie in einer Synagoge“. Gleichwohl setzte mit diesem verletzenden Erstauftritt im Kreise deutscher Schriftsteller Celans literarischer Ruhm ein.

Zu Ruhm und Kränkung gesellte sich von Anfang an der Vorhalt des Unverständlichen seiner Gedichte. Celan selbst hielt seine Gedichte nicht für verschlüsselt. Arno Reinfrank gegenüber betonte er im Blick auf den Band Ausgewählte Gedichte noch 1968: „Jedes Wort ist mit direktem Wirklichkeitsbezug geschrieben. Aber nein, das wollen und wollen sie nicht verstehen.“ Da diese Wirklichkeit aber das jüdische Schicksal ist, begreifen offenbar nicht allzu viele die Realität dieser Lyrik. Vielleicht hilft den ernsthaft um das Verstehen Celanscher Texte Bemühten der Rat des Autors an seinen Biographen Israel Chalfen: „Lesen Sie! Immerzu lesen, das Verständnis kommt von selbst.“ Diese beglückende Erfahrung dürften selbst versierte Celan-Leser kaum je gemacht haben. Ohne gediegene literarische Bildung, ohne seinen Sinn für ostjüdische Weisheiten oder für die Transparenz chassidischer Märchen (um nur einige Voraussetzungen zu nennen) wird sich ein Verstehen dieser Gedichte schwerlich einstellen. Ein mit reichlich „Wirklichkeitsbezug“ ausgestattetes Poem kann dies veranschaulichen.

 Tübingen, Jänner
Zur Blindheit über-
redete Augen.
Ihre – „ein
Rätsel ist Rein-
entsprungenes“ –, ihre
Erinnerung an
schwimmende Hölderlintürme, möwen-
umschwirrt.

Besuche ertrunkener Schreiner bei
diesen
tauchenden Worten:
Käme,
käme ein Mensch,
käme ein Mensch zur Welt, heute, mit
dem Lichtbart der
Patriarchen: er dürfte,
spräch er von dieser
Zeit, er
dürfte
nur lallen und lallen,
immer-, immer-
zuzu.

(„Pallaksch. Pallaksch.“)

Dieses beispielhafte (daher zu Recht berühmte) Celan-Gedicht vereint lebens- und leidensgeschichtliche Zusammenhänge, literarische Bezüge und Hinweise zur Poetik des Gedichts. Ein echter Celan also! Daß sich „Tübingen, Jänner“ aber erschlossen hat, wenn man weiß, daß es einige Monate nach der Verleihung des Büchner-Preises (und mehreren Besuchen Celans in Tübingen) entstanden ist, oder erkennt, daß der Titel an den Eingangssatz der Büchner-NovelleLenz erinnert, daß auf das Dasein des kranken Hölderlin beim Schreiner Zimmer und auf sein Irrsinnswort „Pallaksch“ verwiesen wird, dürfte schwerlich der Fall sein. Selbst die Identifizierung des Zitats aus Hölderlins Rhein-Hymne ändert wohl wenig an dem Umstand, daß man wie Kafkas „Mann vom Lande“ zwar Vor dem Gesetz steht, aber nicht hinein kommt. Wir haben es bei Celans Lyrik mit vergleichbaren Schwierigkeiten zu tun wie in der Prosa des Prager Juden Kafka. Weit in Richtung Zentrum des Verständnisses dürfte Theodor W. Adorno vorgedrungen sein, wenn er ein Jahr vor Celans Tod in seiner Ästhetischen Theorie über die Poesie des Bukowiner Juden schreibt: „Diese Lyrik ist durchdrungen von der Scham der Kunst angesichts des wie der Erfahrung so der Sublimierung sich entziehenden Leids. Celans Gedichte wollen das äußerste Entsetzen durch Verschweigen sagen.“ Zur Erhellung der so schwer zu begreifenden „Scham der Kunst“ Celans kann die Kenntnis seines Lebensweges einiges beitragen. Die 49 Jahre sind reich an traumatisierenden Erlebnissen.

Paul Antschel, der sich seit seinen ersten Publikationen das rumänisierte Anagramm seines Namens (Ancel-Celan) zulegte, wurde als Sohn deutschsprachiger Juden in Czernowitz im Buchenland (Bukowina) geboren. (In diesem Jahr war die Bukowina zu Rumänien gekommen). Dieser östlichste Teil der alten Donaumonarchie war eine ausgeprägte Kulturlandschaft, die erst 1945 unterging. Vor allem die Literatur spielte seit den Tagen von Karl Emil Franzos (1848-1904) [siehe zu diesem OGT 1998, S. 237-242] eine bedeutende Rolle. Auch die Lyrikerin Rose Ausländer (Jahrgang 1901) ist in Czernowitz geboren (Eine erste Vorstellung vom Reichtum einstiger bukowinischer Literatur vermitteln Amy Colin/Alfred Kittner [Hg.]: Versunkene Dichtung der Bukowina. Eine Anthologie deutscher Lyrik. München: Wilhelm Fink 1994.). Celan selbst kommt immer wieder auf sein verdammt geliebtes Czernowitz zu sprechen. Noch 1962 nennt er sich einenkarpatisch Fixierten (Brief an Margul-Sperber vom 12.9.1962). Am Tag nach der „Reichskristallnacht“ im November 1938 fuhr er über Berlin zum Medizinstudium nach Tours in Frankreich. Als der Krieg ausbrach, kehrte er nach Rumänien zurück und studierte ab September 1939 Romanistik an der Universität Czernowitz. Nach dem Einmarsch der Roten Armee am 20. Juni 1940 nahm Celan im September auch Russisch in seinen Studienplan auf. Mit dem Eindringen der SS-Einsatztruppe D im Juli 1941 und der Errichtung des Czernowitzer Ghettos im Oktober desselben Jahres nahm das jüdische Schicksal für Celan traumatische Gestalt an. Die zweite Deportationswelle im Sommer 1942 erfaßte auch seine Eltern, die beide bald danach umkamen. Nach der Entlassung aus dem rumänischen Arbeitsdienst (Februar 1944) und nach dem zweiten Einmarsch der Roten Armee in Czernowitz (April 1944) nahm Celan im Herbst 1944 an der dortigen Universität ein Anglistik-Studium auf. Zugleich entstanden die ersten beiden Gedichtsammlungen. Im Frühjahr 1945 siedelte Celan nach Bukarest über, wo er als Übersetzer und Lektor für russische Literatur arbeitete. Ende 1947 gelang ihm über Budapest die Flucht nach Wien, wo er Anfang 1948 Ingeborg Bachmann begegnete. Noch im Sommer des Jahres wechselte er nach Paris, wo er die ihm verbleibenden 22 Jahre im selbstgewählten Exil lebte, das er unter anderem zu sporadischen Aufenthalten in Deutschland verließ. Dabei kam es zu wichtigen Begegnungen: mit Martin Heidegger (widergespiegelt im Gedicht „Todtnauberg“) und mit dem wie Celan (eineinhalb Jahre später als dieser) freiwillig aus dem Leben geschiedenen Germanisten Peter Szondi, mit dem er einen Gang zum Berliner Landwehrkanal unternahm. Das letzte Jahrzehnt von Celans Leben war geprägt von Depressionen und Bezichtigungen in einem fatalen Plagiatstreit. Ende April 1970 ertränkte sich Celan in der Seine. Sein Leichnam wurde am 1. Mai gefunden und am 12. Mai auf dem Friedhof Thiais bei Paris beigesetzt.

Werke: Gesammelte Werke. Hg. von Beda Allemann u. a. (Bd. I-V). Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983. – Das Frühwerk. Hg. von B. Wiedemann. Frankfurt/Main 1989.

Lit.: Israel Chalfen: Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend. Frankfurt/Main 1979. – Christoph Jamme/Otto Pöggeler (Hg.): „Der glühende Leertext“. Annäherungen an Paul Celans Dichtungen. München 1993. – „Fremde Nähe“. Celan als Übersetzer. Ausstellungskatalog des Deutschen Literaturarchivs in Marbach/Neckar21997 (=Marbacher Kataloge 50).

Bild: In der Pariser Wohnung 1959. Photo: Gisèle Celan-Lestrange

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Paul_Celan

Walter Dimter