Biographie

Cibulka, Hanns

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
Beruf: Bibliothekar, Schriftsteller
* 20. September 1920 in Jägerndorf/Österr.-Schlesien
† 20. Juni 2004 in Gotha

Es gibt Erlebnisbereiche, die dem Gesetz des Wachstums unterworfen sind, wie Hanns Cibulka einmal bekennt und damit besonders auch seine Kindheit und frühen Jugendjahre im heimatlichen Jägerndorf meint. Wie es auch in einem Gedicht heißt: „Es ist so schwer,/ die Kindheit aufzugeben…“ Bis heute ist das umfangreiche und ungewöhnlich vielgestaltige, breit gefächerte Opus dieses Autors getränkt von Erinnerungen an dieses verlorene Paradies und seine Menschen, ihre Lebensart und ihre Daseinsweise. Wie es einmal in den Dornburger Blättern heißt: „In Böhmen… fände man auch heute noch mehr Frömmigkeit dem Leben gegenüber… eine stärkere menschliche Wärme.“ Und: „Ich sehe mich“ – während des Dornburg-Aufenthaltes – „durch die Tannenwälder nahe meiner Vaterstadt gehen…“ Mit einem Buch. Und das sind Rilke-Gedichte. Und gemeint sind die Verse: „Mich rührt so sehr böhmischen Volkes Weise…“ Dergleichen Reminiszenzen durchziehen auch jüngste Aufzeichnungen – so Am Brückenwehr, dieses Tagebuch „Zwischen Kindheit und Wende“: Hier weckt eine Reise nach den Ereignissen von 1989 ins heimatliche Jägerndorf ungezählte Erinnerungen im Wechselspiel zu aktuellen Fragen der Gegenwart.

Das Phänomen „Erinnerung“ erweist sich in der Tat als ein unverzichtbares Element nicht nur im lyrischen Schaffen, sondern vor allem in der Tagebuch-Produktion, die für Cibulkas Werk vornehmlich wesentlich ist. Er hat das schon selber früh erkannt und häufig auszudrücken versucht: „Das Tagebuch gehört zu den literarischen Formen, die mich am stärksten faszinieren…“ (Sanddornzeit, Tagebuchblätter von Hiddensee, 1971). Es ist das Offene, Unfertige, „die Skizze“, die fesselt und damit viele Möglichkeiten der Gestaltung, der reflektorischen Meditation eröffnet. Aber da ist mehr im Blick: Es geht nicht nur um eine Ich-Befragung, ein „Zu-sich-selber-kommen“; da ist die Orientierung, eine Art Lebenshilfe, ein Zuspruch im Spiel. Daher haben viele Aufzeichnungen Hanns Cibulkas in der DDR-Zeit eine besondere Wirkung auf gar manchen Suchenden, Rat- und Hilflosen, „Heimgesuchten“ ausgeübt – und damit den Autor für die SED-Zensoren in den Verruf eines „politisch Unzuverlässigen“ gebracht, was zu Druckverboten führte – wie die Geschichte von Swantow, der Rügen-Aufzeichnungen, belegt. Da gab es klare Anweisungen, wie mit Cibulka zu verfahren sei. Der „Thomas-Mann-Klub“ Nordhausen schrieb an Hanns Cibulka noch am 2. November 1989 folgende Zeilen: „Die SED-Kreisleitung war gegen eine Lesung von Ihnen, ohne dieses Verbot stichhaltig begründen zu können. Wir haben immer wieder versucht, dieses Verbot aufzuheben, es gelang uns aber nicht. Da sogar unsere Bezirksleitung uns riet, wir sollten uns nicht gegen die SED-Kreisleitung stellen, unterwarfen wir uns diesem Diktat. In letzter Zeit wurden wir immer größeren Beschränkungen unterworfen…“ Angst ist es gewesen vor einer sehr gefährlichen und mächtigen Waffe – dem Wort, „nach seiner Natur, die freieste unter den geistigen Kreaturen…“, wie das Hrabanus-Maurus-Zitat auf der ersten Seite der Sanddornzeit lautet.

Hanns Cibulka, der bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zur deutschen Wehrmacht eingezogen wurde, an verschiedenen Kriegsschauplätzen eingesetzt war, geriet in amerikanische Gefangenschaft, die er auf Sizilien verbrachte. Das Sizilianische Tagebuch (1961) gibt darüber Auskunft. Die Begegnung mit einer jungen Polin, Halina, in einem Lazarett in Kremenez an der damaligen polnisch-russischen Grenze wirkt nach. „Ich weiß, daß ich im Innern von Kremenez nie fortgegangen bin.“ Nach einem Menschenalter versucht der Autor im Wasserschloß Kochberg der Charlotte von Stein eine Schattenbeschwörung („Liebeserklärung in K“, 1974).

Bei Cibulka ist häufig von der „bedrohten Sicherheit“ die Rede, einer Sorge, die Gerhart Hauptmann schon vor dem Ersten Weltkrieg bewegt hat und die in vielfältigen Formen uns heute verknechtet – als Folge maßlosen Besitzdenkens, bedenkenlosen Ausplünderns der Rohstoffe, des Vergiftens der Meere. Da heißt es in der Wegscheide, daß wir bezahlen werden für diese rücksichtslose Besitzergreifung. Dabei ist nicht einmal von Erich Fromm die Rede, sondern vom großen Mystiker des Mittelalters, Meister Eckhart, der das menschliche Grundproblem von Haben und Sein bereits beschrieb und bedachte.

Hanns Cibulka möchte zum Nachdenken anregen, aber auch durchaus ein Art Vademecum für das eigene Verhalten und das eigene Tun bieten. Und das nicht nur gegenüber dem eigenen Ich, auch im Verhältnis zum Mitmenschen, zur Welt. Da mag es vielleicht oft romantisch anmuten, wenn der Autor auf das Verhältnis von Geist und Macht, die Ambivalenz von Kunst und Politik zu sprechen kommt und sich dabei auf große Persönlichkeiten der deutschen und europäischen Kulturgeschichte als Zeugen beruft – etwa auf Goethe, der von einer Vergeistigung des Politischen gesprochen hat, damit es in der Welt besser werde und mit den Menschen. Das ist noch einmal in Cibulkas jüngstem Tagebuch formuliert: „Für den Politiker ist der Künstler der unberechenbare Mensch schlechthin, auch innerhalb der Parteien scheint er ein Fremder zu sein…“ (Tagebuch einer späten Liebe, 1998).

Von Gotha aus, wo sich Hanns Cibulka nach einem Studium der Bibliothekswissenschaft niederließ, die dortige „Heinrich-Heine-Bibliothek“ bis zu seiner Pensionierung (1985) geleitet hat, betrieb er eine etwas umständlich-komplizierte „Landnahme in Thüringen.“ Sie schloß die Suche nach der deutschen Landschaft ein. Im Blick auf Dornburg an der Saale bekannte er: Hier habe er „die Freundschaft zur Erde“, wie Goethe, erfahren, um hier vom Licht, das ihn an Italien erinnert, überwältigt zu werden. Das Streben nach „Daseinserfassung“, „Wesensvertiefung“ wird zum bleibenden Auftrag, Bilanz zu ziehen: Was war – und was sollte sein. Man hat keine Zeit mehr zu verlieren. Im Sinne von Novalis müssen wir den Menschen heller, größer und freier machen.

Dieser Glaube durchzieht das ganze Tagebuchwerk Cibulkas – bis in die Aufzeichnungen, die nach der „Wende“ vorgelegt wurden. Cibulka ist sich treu geblieben. Da mag so viel Neues nicht zur Sprache kommen, dafür steht er nicht an, das Notwendige zweimal zu sagen, wie Empedokles von Agrigent, den Cibulka seinem KriegstagebuchNachtwache voranstellte. Es sind dies Aufzeichnungen, die Cibulka zum 50. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges publizierte und damit seine Teilnahme am Kampfgeschehen in Sizilien 1943 beschrieb, vielleicht als eine Art Vermächtnis: „Am Totenbett der Diktatoren sollten wir Nachtwache halten, damit sie nie wieder auferstehen… Wenn unsere Söhne und Töchter das Jahr zweitausend erleben wollen, müssen wir die Nachtwachen in der Welt verdoppeln.“

Werke: Gedichte: Märzlicht, Halle 1954. – Zwei Silben, Weimar 1959. – Arioso, Halle 1962. – Windrose, Halle 1968. – Lichtschwalben, Halle 1973. – Lebensbaum, Halle 1977. – Der Rebstock, Halle-Leipzig 1980. – Poesiealbum Nr. 181, Berlin 1982. – Losgesprochen, Leipzig 1986.

Tagebücher: Umbrische Tage, Halle 1963. – Das Buch Ruth (Aus den Aufzeichnungen des Archäologen Michael S.), Halle-Leipzig 1978. – Am Brückenwehr. Zwischen Kindheit und Wende, Leipzig 1994. – Die Heimkehr der verratenen Söhne. Tagebucherzählung, Leipzig 1996. – Tagebuch einer späten Liebe, Leipzig 1998. – Sammelbände: Tagebücher (enthalten: Sizilianisches Tagebuch, Umbrische Tage, Sanddornzeit, Dornburger Blätter, Liebeserklärung in K.). – Thüringer Tagebücher (enthalten: Liebeserklärung in K., Dornburger Blätter, Wegscheide), Leipzig 1993. – Ostseetagebücher (enthalten: Sanddornzeit, Swantow, Seedorn), Leipzig 1990.

Lit.: Bernd Leistner: Cibulkas Tagebücher, in: Weimarer Beiträge 9/78. – Gerhard Wolf: Losgesprochen von der Natur. Zu den Gedichten Hanns Cibulkas, in: Wortlaut – Wortbruch – Wortlust, Leipzig 1988. – „Ich habe nichts als das Wort“. Günter Gerstmann im Gespräch mit Hanns Cibulka, in: Der gemeinsame Weg 10/95. – „Ich glaube an das spirituelle Zeitalter.“ Günter Gerstmann im Gespräch mit dem Gothaer Schriftsteller Hanns Cibulka in: PALMBAUM 2/96.

Auszeichnungen: Louis-Fürnberg-Preis (1973), Francesco-de-Sanctis-Preis (1978), Johannes-R.-Becher-Preis (1978), Kulturpreis der Stadt Gotha (1979), Diploma di merito Accademia Italia (1982), Prof. h. c. Universität Florida (1988), Sudetendeutscher Kulturpreis (1991).

Bild: Archiv G. Gerstmann.

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Hanns_Cibulka

Günter Gerstmann