Biographie

Cichy, Siegfried

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Komponist, Kirchenmusiker
* 19. Februar 1865 in Poremba, Zabrze/Oberschlesien
† 29. Oktober 1925 in Breslau

Der Breslauer Domchor war bis 1945 wie der Aachener, Mainzer und der Regensburger Domchor mit Knaben- und Männerstimmen besetzt. Das wußten außerhalb Schlesiens selbst viele Kirchenmusiker nicht. Die Breslauer Domkapelle sang nämlich nur in der Kathedrale, in St. Michael oder St. Matthias und gelegentlich im Konzerthaus der Oder-Metropole. Sie reiste nicht, selbst in der eigenen Diözese nicht.

Die Domkapellmeister der letzten 200 Jahre waren zuvor Sängerknaben an der Kathedrale oder an einer der Breslauer Pfarrkirchen, Choralisten (Sänger der Choralgesänge) oder Organisten am Dom oder Lehrer an einer Pfarrschule gewesen. Siegfried Cichy bildete die einzige Ausnahme, er hatte zuvor als Lehrer am Breslauer Konservatorium gewirkt. Deshalb mutete das Domkapitel dem 46jährigen ein Jahr Probezeit zu.

Alle Breslauer Domkapellmeister seit Mitte des 18. Jahrhunderts verfaßten kirchenmusikalische Kompositionen. Je nach kompositorischer Begabung des Amtsinhabers war das sogenannte „Kapellmeister-Musik“ oder waren es Werke, die auch in anderen Diözesen beachtet und gespielt wurden (es sei an die Arbeiten von Joseph Ignaz Schnabel, Moritz Brosig, Max Filke erinnert). Cichy schrieb unter anderem fünf Messen, 18 Motetten und Hymnen für die Fronleichnams-Prozession. Doch verstand er es nicht, den Druck seiner inzwischen fachgerecht dokumentierten Leistungen zu erreichen.

Cichy war als Sohn eines Bergmanns sowie Grubenkapellmeisters und dessen Ehefrau geboren worden und begann nach Absolvieren des Gymnasiums in Gleiwitz 1887 in Breslau ein Theologiestudium. In diesen Jahren, der Amtszeit des Domkapellmeisters Adolf Greulich, pflegte er Kontakte zum Domchor. Auf Anraten des Spirituals des Priesterseminars gab er sein Studium nach sechs Semestern auf. Nach privaten Studien bei den Breslauer Musikern E. Bohn, E.P. Flügel, G. Riemenschneider besuchte er 1891 die Kirchenmusikschule Regensburg, deren 17. Kurs von Anfang Januar bis Ende Juni dauerte. Ab 1895 studierte er am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt am Main, ab 1903 rundete er seine Studien an der Akademie der Künste zu Berlin, bei M. Bruch und F. Gernsheim, ab. In Berlin unterrichtete er gleichzeitig am Stern’schen Konservatorium. 1907 wechselte er als Lehrer an das Schlesische Konservatorium in Breslau.

Nach Max Filkes Ableben am 8. Oktober 1911 bewarb sich Cichy um das Amt des Breslauer Domkapellmeisters. Als Nachweise einschlägiger Kompositionen legte er die Marien-Messe für Chor mit Orgelbegleitung vor, vier Hymnen für die Fronleichnams-Prozession für Chor, 21 Bläser und Pauken und die siebenteilige Kantate Des Engels Gruß für Solo, Chor und Orchester. Cichy erhielt die Stelle, wurde aber erst nach knapp einjähriger Probezeit am 1. Oktober 1912 fest angestellt.

Zeitgenössische Berichte über Cichys Amtsführung finden sich in der ostdeutschen KirchenmusikzeitschriftCäcilia. Beim 6. Deutschen Bachfest in Breslau erklangen im Hochamt Moritz Brosigs Messe in h-moll und Cichys OffertoriumVeritas mea für Chor und Orchester. Bei der Inthronisation von Fürstbischof Adolf Bertram im Oktober 1914 bot der Domkapellmeister außer den gregorianischen Gesängen ausschließlich eigene Kompositionen: die am Osterfest desselben Jahres uraufgeführte Messe in c-moll für Soli, Chor und Orchester, ein 6-stimmigesEcce sacerdos und das OffertoriumIn omnem terram für Männerchor. Anläßlich des 100. Geburtstages von Brosig wurden an verschiedenen Sonntagen des Jahres 1915 dessen 8. und 9. Messe gesungen. An Kompositionen anderer Schlesier brachte er unter anderem die Missa S. Spiritus des Vice-Domdechanten Emil Nikel 1915 und das 8-stimmige Offertorium zum 4. Adventssonntag von Gerhard Strecke 1920 zur Uraufführung. Am Pfingstsonntag 1918 wurde Cichys 2. Orchestermesse, die Pfingst-Messe, uraufgeführt. Im Bericht der ZeitschriftCäcilia mit der Überschrift „Vom Breslauer Domchor“ lesen wir am Schluß: „Den Domchor kenne ich schon seit Brosigs Zeiten; er hat seitdem keine Einbuße erlitten. Im Gegenteil: Siegfried Cichy ist der Mann, der ihn mit sicherer Hand auf der Höhe hält, ihn weiter fördert und mit ihm die Herzen der Gläubigen erquickt“. Wiederholt trat der Domchor unter Cichy im Breslauer Konzerthaus auf. Für die Dante-Feier 1921 hatte dieser das Gebet des hl. Bernhard zur Gottesmutter nach Worten der Divina commedia von Dante Alighieri für Bariton-Solo, gemischten Chor und Orchester vertont. Diesen Hymnus führte er mit den vereinigten Kirchenchören der Stadt (Domchor und Pfarrkirchenchöre) und dem Landesorchester an dieser prominenten Stelle auf.

Der Komponist Cichy war nach seinen ausführlichen Studien ein gebildeter Musiker. Doch sein Vorbild war nicht der zeitlich näher liegende Anton Bruckner, sondern der ältere Franz Liszt. Studiert man dessen Graner Festmesse von 1856 und die Ungarische Krönungsmesse von 1867, wird deutlich, daß sie wesentliche Anknüpfungspunkte Cichys darstellten. Wie Liszt baute Cichy den Vokalsatz in den drei Orchestermessen (die dritte wurde am Ostersonntag 1924 uraufgeführt) in eine instrumental konzipierte Form ein. Thematische Fortspinnung oder reprisenartige Wiederaufnahme erscheinen wiederholt nur im Orchestersatz. Im Chorsatz sind einstimmige Einsätze, Unisoni, oktavierte Terzenführungen typische Verfahren.

Bei der Chorbehandlung in a cappella-Sätzen bevorzugte Cichy einen „instrumentatorischen“ Chorsatz. Dabei verfügte er über eine reiche Palette: vom 4-stimmigen Satz über Stimmkopplungen, Unisoni, Gegenchöre und Aufspaltungen bis zur Acht stimmigkeit. Ähnlich wie sein Landsmann Richard Wetz (1875-1935)zeigte er sich darin seiner Zeit verpflichtet.

Seit dem Jahr 1913 war Cichy nebenamtlicher Lehrer am„Akademischen Institut für Kirchenmusik“ der Universität Breslau für die musiktheoretischen Fächer. Dort war unter anderem der Musikwissenschaftler Fritz Feldmann sein Schüler. Privat unterrichtete er Paul Blaschke, seinen Nachfolger im Amt des Domkapellmeisters, Günther Nierle, Domorganist von 1935-1945, August Herden, den späteren Lehrer für Tonsatz und Orgelspiel am Schlesischen Konservatorium zu Breslau, und Richard Rassmann, den späteren Leiter des Städtischen Chores in Gleiwitz.

Siegfried Cichys 31 Kompositions-Titel – darunter 2 Streichquartette, 4 Klavierstücke und eine Konzertouvertüre für Orchester – sind in der Dissertation von Waldemar Matysiak Breslauer Domkapellmeister von 1831-1925, Düsseldorf 1934, genau dokumentiert. Außer dem Kompositionsverzeichnis werden die Inzipits der jeweils fünf Sätze von den fünf Messen in Gestalt von Klavierauszügen und Notenbeispiele aus den weiteren kirchenmusikalischen Titeln geboten.

Bei den Verhandlungen um den Druck der vier Fronleichnams-Hymnen, die er der Theologischen Fakultät der Universität Breslau widmete, erschien dem Komponisten das Angebot des Verlegers von 500 Goldmark unzureichend. Er lehnte ab. Ob Cichy die orchesterbegleiteten Messen keinem anderen Verleger anbot oder ob die wirtschaftlich schwierigen Jahre bis zu seinem Tode die angeschriebenen Verlage zum Zuwarten veranlaßten, ist nicht bekannt. Gedruckt liegt lediglich die Marien-Messe und eine Motette Ave Maria vor. Vollständig erhalten blieben die handschriftlichen Partituren der Fronleichnams-Hymnen und der Pfingst-Messe in cis-moll sowie der handschriftliche Klavierauszug der Messe in F-dur, die derzeit im Haus Schlesien in Heisterbacherrott bei Königswinter aufbewahrt werden.

Lit.: August Herden: Nachruf für S. Cichy; in: Schlesiens Theater- u. Musikwoche 2, Breslau 1925, S. 146 f. – Paul Blaschke: Siegfried Cichy; in: Der Oberschlesier 11, Oppeln 1929, 161-166. – Waldemar Matysiak: Breslauer Domkapellmeister von 1831-1925, Düsseldorf 1934, S. 48, u. Anhang, S. 15-27. – Fritz Feldmann: Schlesische Musikgeschichte im Überblick; in: Musik in Schlesien, Dülmen 1970, S. 68. – Rudolf Walter: Die Breslauer Dommusik von 1805-1945, Dülmen 1981, S. 147-152. – Ders.: Siegfried Cichy; in: Schles. Musiklexikon (in Herst.). – Cäcilia, ostdeutsche Kirchenmusik-Zeitschrift Breslau, Jg. 20 (1912)-33 (1925).

Rudolf Walter