Biographie

Cysarz, Herbert

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
Beruf: Literaturhistoriker, Philosoph, Schriftsteller
* 29. Januar 1896 in Oderberg/Österr.-Schlesien
† 1. Januar 1985 in München

Herbert Cysarz gehört zu den bedeutendsten Literaturhistorikern dieses Jahrhunderts. Und gewiß war er einer der vielseitigsten und produktivsten. In seiner Schrift Vielfelderwirtschaft, einem oft in launigem Humor geschrieben „Werk- und Lebensbericht“, gibt er Auskunft über ein Interessenspektrum, das alles umfaßt, was man gemeinhin „die Geisteswissenschaften“ nennt. All jene Felder zu „bestellen“, dies sei, so resümiert er, allein durch einen anhaltenden, sich über Jahrzehnte erstreckenden besessenen Arbeitswillen möglich gewesen. Der Ertrag ist in der Tat phänomenal. Die Bibliographie des Unermüdlichen verzeichnet allein 51 Bücher und selbständige Publikationen. Die Zahl der Einzeldarstellungen, der gedruckten Vorträge, Rezensionen, Essays zu literarhistorischen, philosophischen, kulturtheoretischen und zeitkritischen Themen ist kaum zu erfassen. Doch alles wird noch erstaunlicher, wenn man weiß, daß es sich um die Lebensleistung eines schwer Kriegsversehrten handelt.

Cysarz‘ Vater, aus Niederösterreich stammend, war Exportkaufmann. Auch die Vorfahren mütterlicherseits, zu denen der Barockbaumeister Nikolaus Thalherr gehörte, waren meist Kaufleute und Fabrikanten. Es sei, scherzte Cysarz, „anscheinend eine Menge sehr gesprenkelter Gene“ auf ihn gekommen. „Einige waren trinkfroh und liebesfreudig, wie ich, andere mystisch veranlagt, alle bienenfleißig und selbständig erwerbstätig.“

Das Abitur legte Cysarz am Albrechtsgymnasium in Teschen ab, zwei Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Vom Fronteinsatz vorerst noch zurückgestellt, schrieb er sich an der Wiener Alma mater ein, wo er Naturwissenschaften zu studieren begann. Doch nicht das Examen wartete auf ihn, sondern das Schlachtfeld. Im September 1916 traf den Zwanzigjährigen am Monte Pasubio in Südtirol eine italienische Wurfmine. Erschütternder Kommentar des nach langem Lazarettaufenthalt in den sogenannten Ruhestand versetzten K.u.K.-Leutnants: „Was von mir übriggeblieben ist, ging mehr als ein Jahr später daran, das zum Winter 1914/15 recht planlos begonnene und alsbald unterbrochene Studium an der Wiener Universität richtig anzufangen.“ Ein Leben lang litt er unter den Folgen der Verwundung. Die Naturwissenschaften mußten, da beide Hände verstümmelt waren, aufgegeben werden.

Dafür wurde die Germanistik entdeckt, die bald Cysarz‘ Leidenschaft war. Hier erwies sich seine mit enormen Fleiß gepaarte außerordentliche Begabung. 1919 wurde er promoviert. Für sein erstes BuchIdee und Erfahrung SYMBOL 150 f „Times New Roman CE“ Probleme und Lebensformen von Hamann bis Hegel, eine erweiterte Fassung seiner Dissertation, erhielt der erst 25jährige den Wilhelm Scherer-Preis der Berliner Akademie der Wissenschaften. Dies war zugleich der Beginn einer glänzenden akademischen Laufbahn. Schon bald nach der Habilitation bei Walter Brecht erfolgte die sehr ehrenwerte Berufung zum Nachfolger des berühmten August Sauer an die Deutsche Universität in Prag. Hier lehrte Cysarz ein Jahrzehnt als Ordinarius für Neuere Deutsche Literaturgeschichte, bis er 1938 einem Ruf nach München nachkam.

Es waren bedeutende, mitunter bahnbrechende Arbeiten, die den raschen Aufstieg begleiteten und förderten. Wenigstens einige sollen hier aufgeführt werden. Da wären die Forschungen zur deutschen Barockdichtung zu nennen; ein Buch gleichen Namens wurde zum Standardwerk, das den Gegenstand über den nationalen Rahmen hinaus verfolgte und nichts weniger bot als eine universale Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts. Cysarz‘ Schiller-Buch wiederum, 1934 erschienen, fortgesetzt noch Jahrzehnte später mit dem Werk Die dichterische Phantasie Friedrich Schillers ist ein Resultat seiner lebenslangen Beschäftigung mit dem Klassiker. Die Prager Jahre brachten auch bemerkenswerte Beiträge zur literarischen Geschichte der Sudetenländer. Sie sind in einem Stil verfaßt, der mitunter von idealistisch-verblasenem Vokabular und hehren Wendungen strotzt, von „völkisch“ getöntem Pathos auch, das Cysarz‘ Anfälligkeit für die Naziideologie bezeugt. Auch wenn er sich rassistischer und antisemitischer Tiraden enthielt.

Die vierziger Jahre brachten eine verstärkte Hinwendung zu philosophischen Problemstellungen, was sich in einer Reihe von programmatischen, vor allem von Nietzsche und Heidegger inspirierten Schriften niederschlug. 1941 sollte Cysarz den freigewordenen Münchner Lehrstuhl für Philosophie erhalten, was jedoch vom NS-Dozentenbund vereitelt wurde. Man warf ihm „Begünstigung von Juden und Landesverrätern“ vor. Diese Universitätsintrige ist freilich kein Beleg dafür, daß Cysarz der nationalsozialistischen Weltanschauung inneren Widerstand entgegengesetzt hätte. Der sich gegen Kriegsende zuspitzende Konflikt wurde ohnehin bald von weit größeren Turbulenzen überschattet. Im Juli 1944 zerstörte ein Bombenangriff Cysarz‘ Münchener Wohnung. Er wurde umstandshalber beurlaubt und wohnte von da ab in einem Landhaus in Niederösterreich. Nach der Besetzung des Landes durch russische Truppen waren jedoch die Verbindungen zum westlichen Deutschland zunächst unterbrochen. So konnte er sich in München nicht um die damals vorgeschriebenen Verfahren kümmern, zumal sich seine Kriegsbeschädigungen verstärkt bemerkbar machten. Er wurde in den „Ruhestand aus Krankheitsgründen“ geschickt. Seitdem lebte der Emeritus wieder in der Stadt an der Isar, wo er auch seinen Lebensabend verbrachte.

Cysarz geistige Aktivität blieb ungebrochen. Buch folgte auf Buch, ergänzt durch eine anhaltende Vortragstätigkeit. (Auch eine faszinierende Redekunst ist bezeugt.) Ins Zentrum seines nun nationalkonservativ gefärbten Denkens traten zunehmend Fragen ethisch fundierter übergreifender Theoriebildung, der intellektuellen „Inkraftsetzung gültiger Gewißheiten“, wie er es nannte. Ihm schien, die getrennt operierenden Disziplinen seien zu synthetisieren, um die anstehenden Aufgaben zu lösen. Der geistigen Grundlegung dieses Mammutprogramms, das er sich noch in fortgeschrittenem Alter aufbürdete, dienten Werke wie Sein und Werden, Evidenzprobleme oder die Geistesgeschichte der Weltkriege, alle in den sechziger und siebziger Jahren verfaßt.

Selbst zwei Romane, Neumond (1956) undArkadien (1967), der erste eine meist im Böhmischen angesiedelte Familien-Saga, der zweite spielend im heutigen Griechenland, hat er vorgelegt. Sie setzen die „Spurensuche“ mit den Mitteln der Kunst fort. Universale „Wirklichkeits- und Weltgesetzlichkeiten“ galt es zu entdecken.

Das Bild wäre unvollständig, käme nicht auch das zuweilen cholerisch-polemische Temperament des Professors zur Sprache. So rechnete er in einer 1965 erschienenen Streitschrift Deutsches Geistesleben. Sumpf und Festland mit der seinerzeit aktuellen Literaturszene ab. Das Buch ist als ein „Manifest der Rechten“ heftig angefeindet worden. Immerhin ging Cysarz, ein bekenntnismutiger Mann, mit offenem Visier in solche Fehden. An echter Auseinandersetzung und sauberer Argumentation war ihm stets gelegen. Er sei, wie er in seinen Erinnerungen schreibt „zu einem sehend-erkennenden und tätigen Leben geboren“, kein Mann des Machtwillens oder gar des Mundtotmachens Andersdenkender. „Umso mehr liegt mir“, setzte er hinzu, und hier fließt ihm wieder eine seiner pathetischen Wendungen in die Feder, „an der stärkstmöglichen Kraftentfaltung des Geistes und der Seele, da habe ich keinen Kampf und keinen Widerstand jemals gescheut.“

Lit.: Lassmann, August: Herbert Cysarz. In: Fruchtbares Erbe. 20 Jahre sudetendeutscher Kulturpreis. Hrsg. von Victor Aschenbrenner. München 1974, S. 51 ff. SYMBOL 150 f „Times New Roman CE“ Cysarz, Herbert: Vielfelderwirtschaft. Ein Werk- und Lebensbericht. Bodman/Bodensee 1976 (2., erw. Aufl. 1980).

Bild: Herbert Cysarz 1945; Sudetendeutsches Archiv München.

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Herbert_Cysarz

Klaus Berthel