Biographie

Decker, Irene

Herkunft: Banat
Beruf: Schriftstellerin
* 24. August 1910 in Hatzfeld
† 25. November 2012 in Bad Herrenalb

Als die Tochter des Hutfabrikanten Robert Decker am 24. August 1910 in Hatzfeld im Banat zur Welt kam, gehörte ihr Heimatort noch zur Habsburger-Monarchie Österreich-Ungarn. Nach dem Ersten Weltkrieg besuchte sie dort das deutsche Realgymnasium. Sie gehörte zur Gesellschaftsklasse der „Herrischen“ und sprach sowohl ungarisch als auch „herrisch“, einen an die österreichische Beamtensprache angelehnten Dialekt, der als Hochsprache empfunden wurde, in klarer Abgrenzung zu den Bauern, die „schwowisch“ sprachen und sich als Gralshüter der Tradition verstanden.

Das Städtchen Hatzfeld wurde nach Kriegsende zuerst Jugoslawien, später Rumänien zugeschlagen. Irene fing schon als junges Mädchen an zu schreiben. Mit 19 Jahren schloss sie eine Liebesehe mit einem intellektuellen Rumänen alten Schlages. Daraus gingen ein Sohn und eine Tochter hervor. 1938 lernte sie den aus Karansebesch im Banater Bergland stammenden Schriftsteller René Fülöp-Miller kennen, der öfter als Freund zu Gast bei ihrer Familie war. Seine Rasputin-Biographie von 1927 hatte ihn weltberühmt gemacht. Er entdeckte Irenes Schreibtalent und ermunterte sie zur literarischen Arbeit: „Alles zu mir nach Wien schicken, ich habe meine Verleger!“ Später entrissen der Eiserne Vorhang und seine Auswanderung nach Amerika ihr diesen Freund und Förderer auf immer. In der Erzählung Interludium beschreibt sie diese Beziehung.

In Heimatzeitungen wie „Der Donauschwabe“ und „Banater Post“ wurden in den 70er Jahren einige ihrer Novellen und Kurzgeschichten veröffentlicht, manche in Fortsetzungsform: In der Stadt sind Russen, Der Baragan, Stille Nacht in Rumänien. Anfang der achtziger Jahre war sie Mitarbeiterin beim „Donautal-Magazin“ als Redakteurin der Rubrik „Hatzfeld“, auch einige ihrer Erzählungen sind hier erschienen wie Der Verdacht und Genosse Oberleutnant Loewe. In der Halbjahresschrift „Geschichte, Literatur, Politik“ erschien die Erzählung Die Generalprobe. Im Jahre 2007 kamen ihre Geschichten in einem Sammelband unter dem Titel Zwischenspiel im Hartmann Verlag heraus. Neben der literarischen Qualität dieser Erzählungen bieten sie wertvolle Einblicke in die ethnische Vielfalt Südosteuropas und in die Lebenswelt der Donauschwaben in ihrer ehemaligen Heimat sowie in ihre harte Existenz als Aussiedler. Irene Decker veröffentlichte auch unter dem Namen Irene van Dekker, wie ihre holländischen Vorfahren geheißen hatten.

Ihr großer Familien- und Gesellschaftsroman Rote Dornen, ebenfalls 2007 im Hartmann Verlag erschienen, schildert den Aufstieg der Familie und den Untergang ihrer Klasse in der „Volksdemokratie“, der schmerzende Narben hinterlassen hat. Mit dem Vagabundieren der abenteuerlustigen van-Dekker-Ahnen vor zweihundert Jahren beginnt der Roman. Drei Brüder irren handeltreibend mit eigenem Schiff weltweit auf allen Meeren herum, bis sie beschließen, sich auf den Flüssen Europas zu versuchen. Schließlich landen sie an der Theiß bei den von Maria Theresia angesiedelten „Donauschwaben“, wo sie sesshaft werden und Familien gründen. Später bilden der Untergang der Habsburger-Monarchie und die Schrumpfung Ungarns nach dem Ersten Weltkrieg den historischen Hintergrund, während Serben, Rumänen und Tschechen dank ihrer Verbündeten den Sieg feiern. Das Städtchen Hatzfeld fällt vorerst den Serben zu, vier Jahre später wird es den Rumänen zugeschoben und erhält den Namen Jimbolia. Die Verfasserin schildert prägnant die Lebensart der Kleinstadtmenschen in ihrer ehemaligen Heimat. Markante Stationen sind: erste Liebe, Ehe, Glück, zwei Kinder, später Enttäuschungen aller Art, der Zweite Weltkrieg, Scheidung, Invasion der Sowjets, neue Menschen, neue Gesellschaftsordnung, Freundschaften, Feinde, schließlich die totale Enteignung des von drei Generationen erarbeiteten Familienvermögens im Zuge der Verstaatlichung der wichtigsten Produktionsmittel im Juni 1948. Irenes einziger Bruder, geboren während des Ersten Weltkrieges, fällt im Zweiten. Sein Name steht als erster auf der Heldenliste unter dem großen Kruzifix in der Hatzfelder Kirche. Der bittere Kampf um die pure Existenz beginnt 1946 mit der Flucht ins Landesinnere Altrumäniens, nach Câmpulung Muscel. Dort verbringt die Autorin zwölf Jahre, geprägt von Hungersnot, Kälte, Elend, Verfolgung – kurz: Kommunismus. Mit einer Nähnadel in der Hand und der Unterstützung ihrer Mutter erzieht und schult sie die Kinder, ernährt sie die Familie. Der Vater ihrer Kinder ist sieben Jahre lang aus politischen Gründen inhaftiert. Kaum freigelassen, stirbt er an den Folgen der Haft, jedoch nicht bevor er seine inzwischen erwachsenen Kinder noch einmal gesehen hat. Die letzten 13 Jahre in Rumänien verbringt die dreiköpfige Familie wieder im Banat, zuerst in Bruckenau, ab 1965 in Temeswar. Nach dem Tod ihrer Mutter kann Irene Decker 1971 endlich im Alter von 60 Jahren allein in die Bundesrepublik Deutschland auswandern.

Es folgen Jahre der Eingliederung. 1972 gelingt es ihr mit Hilfe eines Anrufs des Bundespräsidenten Gustav Heinemann, die Tochter Liana-Maria aus dem Gefängnis Rumänien zu retten. Den künstlerisch begabten Sohn Alfred Garoescu und dessen Familie kann sie dank einer Demonstration vor der rumänischen Botschaft in Köln und eines Hungerstreiks vor dem Kölner Dom während der „Fotokina“ im Jahr 1976 nach Deutschland holen. Nach dessen Scheidung lebt sie mit ihm zusammen in einem Haushalt in Bonn. Nach seinem Tod im Jahr 2000 ziehen Mutter und Tochter zusammen in dasselbe Hochhaus in Bad Herrenalb. Es ist ein harmonisches Zusammenleben bis zu Irene Deckers Tod in ihrem 103. Lebensjahr am 25. November 2012. Auf dem Friedhof von Bad Herrenalb wurde sie beigesetzt.

Rückblickend auf ihren langen Werdegang hat die Jahrhundertzeugin trotz der harten Schicksalsschläge, die ihr und der Familie widerfahren sind, die Gewissheit eines erfüllten Lebens gehabt, das uns in ihrem literarischen Werk als spannend erzähltes Zeugnis lebendig und detailgesättigt entgegentritt. Das Erscheinen ihres literarischen Werks im Jahr 2007 war ihr eine freudige Genugtuung, die ihr in den letzten Lebensjahren viel Auftrieb gab.

Ihre unverwüstliche Menschenliebe und positive Einstellung zum Leben hat sich Irene Decker bis zuletzt bewahrt. Nach dem Rezept befragt, wie sie in solcher Rüstigkeit ihr hohes Alter erreicht habe, pflegte sie auf ihre unversiegliche Heiterkeit hinzuweisen. Man müsse stets die erfreulichen Seiten des Lebens hervorkehren, empfahl sie mit freudigem Blick. „Ich bin ein unverbesserlicher Optimist“, war ihr Lebensmotto.

Buchveröffentlichungen: Zwischenspiel. Kurzgeschichten, Hartmann Ver­lag, Sersheim 2007, 297 S.Rote Dornen. Autobiographischer Roman, Hartmann Verlag, Sersheim 2007, 498 S.

Stefan P. Teppert