Das 19. Jahrhundert zeitigte unter anderem in der Medizin bahnbrechende diagnostisch-therapeutische Neuerungen. Zu den Pionieren ärztlicher Heilkunst zählt Johann Friedrich Dieffenbach. Seine Vorfahren, darunter mehrere evangelische Pastoren, stammten aus Südhessen. Nach dem frühen Tod des Vaters Konrad Philipp Dieffenbach (1794), Lehrer am Collegium Fridericianum, übersiedelte die Mutter Sophie mit ihren Kindern Johann Friedrich und Philippine in ihre Heimatstadt Rostock, wo der Großvater Joachim Hinrich Buddigk als Ratschirurg wirkte. Dieffenbachs Schulbildung auf der Großen Lateinschule in Rostock blieb eher dürftig. Frühzeitig erwies sich dagegen seine praktische und sportliche Begabung, beispielsweise im Schwimmen und Reiten. Am 9. April 1810 immatrikulierte er sich in Rostock zum Studium der Theologie und wechselte im Oktober 1812 an die Greifswalder Universität. Während der Befreiungskriege, an denen er als Freiwilliger bei den Mecklenburgischen Reitenden Jägern teilnahm, lernte Dieffenbach die Schrecken des Krieges kennen, die er noch in seiner letzten Schrift Der Äther gegen den Schmerz (1847) anprangerte. Zugleich erwuchs aus diesen Erfahrungen sein Wunsch, den Kriegsversehrten zu helfen.
So entschloß er sich im Herbst 1814, an der Albertina zu Königsberg das Medizinstudium aufzunehmen. Als gebürtiger Königsberger kam er in den Genuß des Stipendium Drummerianum, als Freiheitskämpfer gegen Napoleon erhielt er außerdem ein königliches Stipendium. In jener Zeit knüpfte Dieffenbach persönliche Kontakte zu dem Königsberger Arzt und Literaten William Motherby sowie zu dessen Frau Johanna Charlotte. Unter Leitung des Anatomen von Baer und des Chirurgen Unger sammelte der Student erste medizinische Erfahrungen. Auffällig war sein außerordentliches praktisches Geschick, zum Beispiel im Selbstversuch mit der Transplantation von Haaren und Wimpern oder im Anfertigen von Operationswerkzeugen aus Holz und Bernstein. Daneben engagierte er sich in der Burschenschaft, als deren Abgesandter er 1818 am Burschentag in Jena teilnahm. Auch konnte er sich in Königsberg noch für die Errichtung einer Schwimmschule am Pregel vor dem Friedländer Tor einsetzen, bevor er 1819/20 im Gefolge der Karlsbader Beschlüsse demagogischer Umtriebe verdächtigt wurde. Damit zerschlug sich seine Aussicht auf eine Anstellung in der ostpreußischen Metropole.
Dieffenbach verlor seine Stipendien und ging im Frühjahr 1820 nach Bonn, wo ihn die Familie seiner Schwester notdürftig unterstützte. Dennoch setzte er seine medizinischen Experimente unermüdlich fort. Heinrich Heine, der damals in Bonn weilte, berichtete zum Beispiel von Transplantationsversuchen mit abgetrennten Schwänzen von Katzen und Hunden. So wurde der bedeutende Chirurg Philipp von Walther auf Dieffenbach aufmerksam, den er rasch zu seinem Lieblingsschüler erkor. Er vermittelte dem begabten Studenten 1821 auch die Reisebegleitung der Fürstin Protaschow nach Paris und an die berühmte Medizinerschule von Montpellier, wo er seine Kenntnisse bei den Chirurgen Boyer, Dupuytren und Larrey sowie dem Physiologen Magendie vervollkommnen konnte. Im Mai 1822 entschloß sich Dieffenbach, ergriffen von der Freiheitsbegeisterung, zur Teilnahme am griechischen Kampf gegen die türkische Herrschaft. Seiner Freundin Johanna Motherby gelang es jedoch, ihn umzustimmen und zur Rückkehr nach Deutschland zu bewegen. Beide, inzwischen fest liiert, ließen sich zunächst in Würzburg nieder, wo die medizinische Fakultät Dieffenbach am 19. Oktober 1822 promovierte.
Dank der Verbindung Johanna Motherbys zu Wilhelm von Humboldt konnte er 1823 in Berlin das Staatsexamen ablegen und sich dort als „Arzt und Operateur“ niederlassen. Im folgenden Jahr heiratete er Johanna, deren Ehe geschieden worden war. Binnen weniger Jahre blühte Dieffenbachs Praxis in der Jägerstraße auf. Zu seinen Patienten, die aus aller Welt kamen, zählten nicht nur Prominente wie Wilhelm und Alexander von Humboldt oder Kronprinz Friedrich Wilhelm, sondern auch einfache Leute, die ihm den Ruf eines „Doktors der Armen“ eintrugen, da er oft auf sein Honorar verzichtete. Die Folge war schon bald eine ständige berufliche Überlastung, unter der Dieffenbachs Privatleben litt. 1831 von Johanna geschieden, heiratete er noch im gleichen Jahr Emilie Friederike Wilhelmine Heydecker (1810-1889), die Tochter eines Arztes aus Bad Freienwalde. Aus dieser glücklicheren Verbindung gingen die Kinder Frida, Sophie und Alexander hervor.
Bereits in seiner Dissertation Nonnulla de regeneratione et transplantatione hatte Dieffenbach den Schwerpunkt seines Wirkens angedeutet. In der Folgezeit entwickelte er vor allem die plastische Chirurgie weiter. Von besonderer Bedeutung wurden seine Nasenrekonstruktionen, wobei er sich in Indien und Italien erprobte Methoden zunutze machte. Seine Erfahrungen auf dem Gebiet der Gesichtserneuerung, die auch die Behandlung von Lidverwachsungen, Wolfsrachen, Hasenscharten und anderer Mißbildungen umfaßte, machte er in zahlreichen Schriften der Fachwelt zugänglich. 1833 berichtete er in seiner Abhandlung Physiologisch-chirurgische Erfahrungen mit Cholerakranken über Versuche mit Transfusionen und Infusionen – für die damalige Zeit ein Novum! Große Erfolge waren ihm außerdem in den Bereichen Bruchoperation, Darm- und Harnröhrenfistelbehandlung, Beseitigung von Klumpfüßen und Schielen beschieden. 1832 zum außerordentlichen Professor und leitenden Wundarzt an der Berliner Charité ernannt, führten ihn 1834 Reisen nach Frankreich, 1840 nach Österreich, wo er in den Hauptstädten triumphale Operationserfolge feiern konnte. Auf dem Weg zum Zarenhof nach Petersburg machte er 1843 in seiner Vaterstadt Königsberg Station, um vor dem versammelten Medizinkolleg der Albertina eine Probe seines Könnens abzulegen. Für seine Verdienste erhielt er wiederholt Auszeichnungen, unter anderem zweimal den Monthyon-Preis des „Institut de France“ (1833/39) und den Roten Adlerorden Dritter Klasse. Mit der Ernennung zum Direktor der chirurgischen Universitätsklinik Berlin erreichte er 1840 den Höhepunkt seiner Karriere. Im Laufe der Jahre wurde Dieffenbach zu einem Berliner Original, dem die Gassenjungen folgenden Vers widmeten: „Wer kennt nicht Doktor Dieffenbach, den Doktor der Doktoren? Er schneidet Arm‘ und Beine ab, macht neue Nas‘ und Ohren“. Sein ungestümes Temperament schuf ihm im Kollegenkreis manchen Feind, tat aber seiner Popularität, auch bei den Studenten, keinen Abbruch. Mitten in seinem rastlosen Wirken riß ihn am 11. November 1847 ein Schlaganfall aus seiner segensreichen Tätigkeit. Alle Welt zeigte sich betroffen von der Todesnachricht des berühmten Arztes. Am 18. November 1847 schrieb Alexander von Humboldt aus Paris an die Witwe Dieffenbachs: „Mein Schmerz, teure, edle Freundin, gibt mir das Maß Ihres Schmerzes … Trost fühlen Sie und ich in dem Gedanken, daß er wie ein Held in seinem edlen Berufe wie auf dem Felde seines Ruhmes gefallen ist“. In einer Gruft auf dem Friedrichwerderschen Friedhof wurde er beigesetzt. Bleibende Verdienste hat sich Johann Friedrich Dieffenbach als „Vater der plastischen Chirugie“ erworben. Über den Tod hinaus bewahrte er den Ruf eines temperamentvollen, genialen Mannes der Praxis. Seine Geburtsstadt Königsberg ehrte ihn 1916 und noch einmal 1940 mit Straßennennungen.
Werke: Gesamtverzeichnis der von J.F.D. verfaßten Schriften, in: R. Lampe: Dieffenbach, S. 104-106.
Lit.: A. Hirsch: Art. Dieffenbach, J.F., in: ADB, Bd. V, Leipzig 1877, S. 120-126. – R. Lampe: Dieffenbach, Leipzig 1934. – Ders.: Art. Dieffenbach, J.F., in: APB, Bd. I, Nachdr. Marburg 1974, S. 131. – J. Thorwald: Das Jahrhundert der Chirurgen, Stuttgart 1956, bes. S. 87—94. – H. Killian: Art. J.F. Dieffenbach, in: NDB, Bd. III, Berlin 1957, S. 641-643. – Ders.: Meister der Chirurgie und die Chirurgenschulen im gesamten deutschen Sprachraum, Stuttgart 21980, S. 346 f. – F. Gause: Die Geschichte der Stadt Königsberg in Preußen, Bd. 2, Köln/Graz 1968, S. 489-491. – H. Scholz/P. Schröder: Ärzte in Ost- und Westpreußen. Leben und Leistung seit dem 18. Jahrhundert, Würzburg 1970, S. 251-254. _ G. Höhle: J.F. Dieffenbach, in: Große Ostpreußen, bearb. v. W. Schulz/G. Höhle, Berlin 1986, S. 24.
Bild: Daguerreotypie (nach 1840), aus: J. Thorwald: Das Jahrhundert der Chirurgen, S. 104.
Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Friedrich_Dieffenbach
Christof Dahm