Biographie

Diwald, Hellmut

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
Beruf: Historiker
* 13. August 1929 in Schattau/Mährisch Ostrau
† 26. Mai 1993 in Würzburg

Geboren 1929 in Mährisch Ostrau, studierte Hellmut Diwald in den ersten Nachkriegsjahren in Prag zuerst Maschinenbau und später, weil ihm nach eigenem Zeugnis die Technik zu wenig konkret war, Geschichtswissenschaften und Philosophie. Dies führte ihn nach Erlangen, wo er den Großteil seiner akademischen Laufbahn verbrachte. Wichtigster Lehrer war der bedeutende Geistesgeschichtler Hans-Joachim Schoeps, eine fulminante Forscherpersönlichkeit, die auf so unterschiedlichem Terrain wie der neutestamentlichen Theologie (insbesondere der Paulus-Forschung), der Geistesgeschichte des Barock und der Preußischen Geschichte brillante Leistungen erbracht hatte. Etwas von dem Horizont des Lehrers ging in Diwalds eigenes Forschungsprogramm ein. Diwald und der Jude und einstige preußische Emigrant: eine fruchtbringende, nicht spannungslose Symbiose für die nächsten Jahre.

1953 wurde Diwald in Erlangen mit einer methodologischen, geschichtsphilosophischen Arbeit „Untersuchungen zum Geschichtsrealismus im 19. Jahrhundert“ promoviert, 1958 habilitierte er sich unter der Ägide von Schoeps mit einer grundlegenden Untersuchung zu Dilthey.

Seinerzeit wurde bereits deutlich, daß für Diwald Geschichtsschreibung und Geschichtsdenken untrennbar miteinander verbunden waren, stärker in der Tradition von Droysens ‚Historik‘, der Aufgrabung des konkreten Faktums, dem Rückgang auf das anfänglich Wahre bei dem NeapolitanerGeschichtsdenker Vico und dem großen Okular der Rankeschen Geschichtsforschung als in Geistesgeschichte und Hermeneutik verankert. Aus der Sicht der ‚Kritik der historischen Vernunft‘, einem Unterfangen, das Dilthey ins Auge gefaßt hat, fand Diwalds Dilthey-Buch höchste Anerkennung (man vergleiche jüngere Aussagen von Stephan Otto): Er legte die metaphysische Tiefendimension des Verhältnisses von Geschichte und Vernunft wieder frei, die eine Lesart im Sinn hermeneutischer Kontinuitäten im Gefolge Gadamers zu verwischen drohte. Es folgten Dozentenjahre; seit 1965 war Diwald Extraordinarius für Mittlere und Neuere Geschichte an der Erlanger Universität, im Spätherbst 1989 wurde er aus gesundheitlichen Gründen vorzeitigpensioniert. Diwald war unter anderem Mitglied der Sudetendeutschen Landsmannschaft, des Witikobundes, der Generalversammlung des Christlichen Jugenddorfwerkes Deutschland (CJD) und des Goethe-Instituts. Er erhielt zahlreichehochkarätige Auszeichnungen, vom Kulturpreis für Wissenschaft der Sudetendeutschen Landsmannschaft (1979), über den Südmährischen Kulturpreis und die Johannes-Mathesius-Medaille (1980), die Kant-Plakette der Deutschen Akademie für Bildung und Kultur (1987), den goldenen Ehrenring ‚Der deutschen Literatur‘ (1990) und den Schillerpreis des Deutschen Volkes, gestiftet vom Deutschen Kulturwerk Europäischen Geistes (1992).

Der erste große Wurf, der ihn schlagartig einer breiten Öffentlichkeit bekannt machte, war seine Wallenstein-Biographie, im Sommer 1969 erschienen. Diwald verband virtuos das akribische Quellenstudium mit imaginativer Einfühlung und Darstellungskunst von hoher Sprachkraft.

Er erwies sich gleichermaßen als scharfsichtiger Analytiker der Europäischen und Weltzusammenhänge und als Erzähler von Graden. Seine Geschichtsphilosophie der Konkretion, geistverwandt mit der französischen Annales-Schule, die er freilich erst viel später ausdrücklich rezipierte, ließ ihn bei der Analyse historischer Zusammenhänge nach Landschaft, Klimaten oder Witterungsverhältnissen fragen. Dazu kam eine ungewöhnliche Fähigkeit, stilistisch Stimmen und Gegenstimmen zu Wort kommen zu lassen. Obgleich Golo Mann seine Geschichte Wallensteins nur zwei Jahre später folgen ließ, wie man nicht zu Unrecht annehmen darf, um Diwalds Forschungsergebnisse abzuwarten, bleibt Diwalds Darstellung in ihrer Wohlproportioniertheit bis heute uneingeholt. Die Landschaft um Fridland, die Ahnengalerie des Schlosses schreiben sichtbar mit.

Ein zweiter großer Wurf gelang Diwald 1975 mit seinem Band zur ‚Propyläen Geschichte Europas‘ „Anspruch auf Mündigkeit“, der das große Säkulum zwischen spätem Mittelalter und Renaissance auslotet, wiederum mit systematischer Kraft und in einer gesamteuropäischen, die Realien von Handel und Wirtschaft ebenso wie die tiefen Umbrüche in Wissenschaft und philosophischer Spekulation berührenden Darstellung. Zu Recht erfuhr dieses Opus magnum, das zudem mit einem – auch im Vergleich zu anderen Werken der Reihe – ungewöhnlichen Bildteil ausgestattet war, höchste Aufmerksamkeit und Bewunderung. Es zieht die Synthese aus Jahrzehnten der von Huizinga, Klibanski und anderen geprägten Forschungen.

Diwald war, wofür er in den nächsten Jahren den Beweis antreten sollte, ein Zeithistoriker von Rang, der Strategie und Tektonik der Machtpolitik analytisch scharf durchleuchten konnte, dabei aber einen untrüglichen Blick für die Kontingenz menschlicher Schwächen und Stärken hatte, die Geschichtsbedeutsamkeit von Anekdoten mit wenigen Strichen zu verdeutlichen wußte. In diesen Zusammenhang gehören seine großen Darstellungen der Geschichte der Seefahrt und des Seekrieges „Die Erben Poseidons“.

Zugleich war er ein begnadeter Redner und Debattierer. Hervorzuheben ist der Diskurs, den er 1977 über mehrere Fernsehabende mit Sebastian Haffner und Wolfgang Venohr über Preußen führte. Als ein von Herkunft und Temperament her ganz und gar nichtpreußischer Geist zeigte er sich dem Haffnerschen Florett gewachsen, nachdenklich von einer stillen philosophischen Grundhaltung und der unaufdringlichen urbanen Gelassenheit und Ironie, die ihm im Gespräch eigen waren. Auch der öffentliche Disput geriet ihm zur Unterredung, nicht anders das Universitätsseminar. Diwald vertrat die Wissenschaft von der neueren und neuesten Geschichte in ihrer vollen Breite, geschichtsphilosophische Themen kamen neben Fragestellungen der longue durée zum Zug: In kulturhistorischer Perspektive auf das deutsche und europäische Bürgertum oder die Weltgeschichte des Krieges. Er konnte ein und dasselbe Thema im Wechsel einiger Semester als Vorlesung und als Seminar anbieten. Seine Seminare waren nicht weniger durchgearbeitet, wie das große Kolleg, und dennoch ließ er die Anfänger zu Wort kommen, korrigierte, nuancierte, verflüssigte mit einer einzigen Bemerkung festgeschriebene Dogmen und wies vor allem auf den unvoreingenommenen Umgang mit den Quellen hin. Zur Sache selbst, das heißt für den Historiker „ad fontes!“ Er konnte unterbrechen, ohne zu kränken. Seine Beispiele bewiesen eine Weltkenntnis und Universalgelehrtheit, wie sie sonst nirgends zu erleben war. Von der islamischen Welt über das No-Theater, bis zu Einzelzügen der Kompositionskunst im Zeitalter Bachs; nie wiederholte er sich, nie illustrierte er ein schwieriges Problem mit einer Plattitüde.

Zu den Erinnerungen an den akademischen Lehrer Hellmut Diwald gehört das Faktum, daß sich dieser große Historiker im einzelnen um Unterrichtshilfen und Lesebücher kümmerte, mehr Zeit in die Lehreraus und -fortbildung investierte als zum Teil ungleich weniger produktive Kollegen. Man muß aus der Rückschau bedauern, daß Diwald die große Synthese zum Bürgertum nicht geschrieben hat, die ihm möglich gewesen wäre. Ein großer Gegenwurf zu Nipperdey hätte dies werden können, verfaßt nicht von einem letzten Bürger, sondern von einem Historiker, dem das Bürgertum als Habitus eher fern lag, dessen anarchischer Konservatismus jenen Thesaurus aber eben darum besonders sorgfältig bewahrte.

In Diwalds Lebens- und Werkgeschichte markiert die „Geschichte der Deutschen“ von 1979 unstrittig einen Bruch: ingeniös die Konzeption, vom vorläufigen Ende, dem befristeten Aufenthalt in der Gegenwart, diese Geschichte zu erzählen, brillant das sich Verlaufen ihrer Spuren an den Anfängen, wo er einige Jahre später antithetisch mit seiner Biographie Heinrichs I. wieder ansetzen sollte. Inkriminiert wurden einige Sätze im Zusammenhang des Kapitels über den Holokaust. Signifikant dabei ist, daß Diwald als Historiker an ein Tabu gerührt hatte und sich den Sprachformeln der ‚political correctness‘ entzog, Jahre vor Jenningers skandalisierter Bundestagsrede oder Martin Walsers Meinungsverweigerung.

Diwald hatte nichts gemein mit Leugnern totalitären Verbrechens. Die unvoreingenommene Prüfung, das ‚audi altera pars‘, die Relativität von Bildern, die Durchleuchtung des Anscheins waren indes für ihn Tugenden des Historikers und Gebote intellektueller Redlichkeit, die er keinem Konsens zu opfern bereit war. Er hat dafür mit bitteren Inkriminierungen bezahlt, auch im Kollegenkreis. Das bedeutende Buch erschien in zweiter Auflage in einer zensierten, geschwärzten Fassung. Doch manche Argumente, die in der Debatte um Reemtsmas Wehrmachtsausstellung eine Rolle spielen sollten, sind von Diwalds Überlegungen antizipiert worden.

Nicht ganz zu Unrecht ist festgestellt worden, daß seine späteren Bücher schwächeren Karates seien: dies gilt sicher für die Monographie über Heinrich I., in die unvermittelt Fiktion einfließt, es gilt wohl auch für die programmatischen Texte über den „Mut zur Geschichte“ (später in zweiter Auflage „Ein Querkopf braucht kein Alibi“), auch wenn sie historische Einsicht exemplarisch vor Augen stellen und manche der Miniaturen, Phrasierungen desalten historiographischen Grundsatzes „historia magistra vitae“, brillante Einsichten in den Kairos von Tag und Stunde geben. Ein Medaillon, ein Brückenknauf in Würzburg, wo Diwald jahrzehntelang seine Wohnung genommen hatte, werden Anlaß zu Weltgeschichtlichen und Weltpolitischen Betrachtungen. Etwas vom alten Feuer des „Wallenstein“ hat sein Buch über „Luther“, eine Physiognomik des Mannes zwischen Gott und Teufel, die hochgradig theologisch ist, im Sinn der alten von ihm hochgeschätzten Jesuitischen Luther-Biographik argumentiert, dabei aber in erzählerischer Prägnanz den Charakter eines Volksbuchs erreicht.

Nicht nur des Geschichtsschreibers, auch des politischen Publizisten ist zu gedenken. Bemerkenswert ist, daß der junge Diwald als eher linker Intellektueller wahrgenommen wurde (den Zug des Rebellischen, des die akademische Kleiderordnung mit leichter Ironie kommentierenden Anarchen behielt der sportive, unkonventionelle Mann bis zu seinem letzten Tag als akademischer Lehrer). Die Debatte um die Ostverträge ließen ihn zu einem der scharfzüngigsten und sprachmächtigsten Kritiker an dem werden, was er Verzichtspolitik nannte. Die Irritationen reichten aber tiefer: Diwald machte kein Hehl daraus, daß er die Wiedervereinigungsrhetorik für Heuchelei hielt, und seine weltpolitische Konzeption lief auf bewaffnete Neutralität zwischen den Blöcken hinaus. Mit der Adenauerschen Westbindung sah er eine Selbstenteignung Deutschlands, des armen, geliebten Vaterlandes, vorprogrammiert.

Man wird diese Thesen, die in seinen Lehrveranstaltungen keine Rolle spielten, für problematisch halten können. Ihr geistiger Hintergrund ist aber noch nicht darum absurd, weil er vielerorts nicht mehr nachvollzogen werden kann. Diwald dachte dezidiert von der Habsburger Monarchie und dem Donauraum aus eine europäische Topographie, die in der bipolaren Entgegensetzung zweier Blöcke genauso wenig abgebildet werden kann wie in dem gegenwärtigen institutionalisierten, primär ökonomisch definierten Europa. Züge des Europa, wie es der Paulskirche und der Sozietät um das Hambacher Fest vorgeschwebt haben mag, blieben eher die Oberflächenpatina seines historischen Sehpunktes. Die Vereinigung des Jahres 1989 kommentierte er, der stets enge Kontakte in die DDR unterhalten hatte, mit einer tiefen Skepsis und mit Analysen, die die ‚Torheit der Regierenden‘ erbarmungslos freilegten und für die folgenden Jahre und das geeinte Deutschland wenig gutes erwarten ließen. Die Folgejahre haben ihm leider nicht unrecht gegeben. Der Maßstab, den er an die Politik anlegte, betraf intellektuelle Redlichkeit und praktische Vernunft. Wenige Politiker und Intellektuelle unter seinen Zeitgenossen konnten ihm genügen.

Die späten Jahre waren nicht immer heiter: Die schwere Krankheit von Diwalds Frau Susanne, einer bedeutenden Islamwissenschaftlerin und Ordinaria der Universität Würzburg, die Sorge um eine schwer behinderte Tochter: doch Isolation und Welt- und Zeitskepsis trübten seinen Blick nicht. Die frühere Dynamik und gebündelte Energie trat zurück, Züge der Melancholie eines tiefen Lebensernstes, wurden erkennbar. Gesundheitliche Störungen, erst Herzprobleme, dann ein Krebsleiden ließen ihn zugleich wie einen Besessenen arbeiten. Insofern sie auf eine Universalgeschichte zielten, bedeuteten die letzten Jahre einen neuen Aufbruch. Einzelne historische Episoden, charakteristisch wie Novellen, sollten zu Signaturen ganzer Entwicklungsströme verdichtet werden. Mit dem Vorhaben kam er erstaunlich weit. Die Kraft der Darstellung ist noch einmal ganz sichtbar; auch wenn aufgrund des Publikationsortes dieses große historiographische Vermächtnis, das seinem stets aus der Ferne leitenden Vorbild Ranke gemäß war, nicht hinreichend bekannt ist

Am 26. Mai 1993 ist Hellmut Diwald in Würzburg gestorben. Wenn man sich seiner erinnert – des Menschen und Historikers, nicht nur des Namens hinter Bildern – wird man einen Geschichtsdenker und Universalgelehrten, einen begnadeten Hochschullehrer, der Tugenden der alten Universität mit jugendlichem Feuer verband, in unauslöschlicher Erinnerung behalten. Nicht wenige seiner Bücher werden bleiben. Sie zeigen exemplarisch, daß historische Forschung und Erzählung nicht auseinanderdriften müssen, daß geisteswissenschaftliche Arbeit noch immer der Kraft des einzelnen bedarf und nicht an bürokratisch zu organisierende Forschungspolitik zu delegieren ist; daß die große Darstellung auf der Höhe von Ranke und Droysen möglich ist. Ingenium, Sehschärfe für das Ganze im Detail: sie sind unwiederbringlich an die einzelne Gelehrtenpersönlichkeit geknüpft; in seinen Schriften dokumentieren sie sich für die Nachlebenden, die das Glück der Begegnung nicht hatten.

Lit.: Hellmut Diwald, Wilhelm Dilthey. Erkenntnistheorie und Philosophie der Geschichte, Göttingen 1963. – Wallenstein. Eine Biographie, München 1969 (Taschenbuchausgabe 1975). – Propyläen-Geschichte Europas: Anspruch auf Mündigkeit. Um 1400 bis 1555. Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1975. – Geschichte der Deutschen. Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1978. – Der Kampf um die Weltmeere, München 1980. – Luther. Eine Biographie. Bergisch Gladbach 1982. – Die Erben Poseidons. Seemachtpolitik im 20. Jahrhundert, München 1984. – Die Großen Ereignisse. Fünf Jahrtausende Weltgeschichte und Darstellungen und Dokumenten. Lachen 1990-1991 (insgesamt 6 Bände mit 3851 Seiten). – Rolf-Josef Eibicht (Hrsg.), Hellmut Diwald. Sein Vermächtnis für Deutschland. Sein Mut zur Geschichte, Tübingen 1994. –

Weblinks: Eine bemerkenswerte Präsentation von Maria Gruettner findet man im Internet unter www.hellmut-diwald.de

Harald Seubert