Biographie

Droysen, Johann Gustav

Herkunft: Pommern
Beruf: Historiker
* 6. Juli 1808 in Treptow a.d. Rega/Pommern
† 19. Juni 1884 in Berlin

Droysen kam in die preußische Hauptstadt und in das akademische Leben, ohne dass ihm seine glänzende Karriere vorgezeichnet gewesen wäre. Sein Vater war ein pommerscher Militärgeistlicher, der starb, als Droysen acht Jahre alt war; die Familie war bettelarm. Nur private Unterstützung sicherte die Fortsetzung des Schulbesuchs in Stettin. Als Student, 1827, wurde er auf Empfehlung seines akademischen Lehrers, des klassischen Philologen Boeckh, Hauslehrer bei der Familie Mendelssohn: Felix Mendelssohn-Bartholdy war sein Schüler.

Berlin bedeutete für den jungen Droysen den Ausgang aus der Enge der Herkunft. Hier begegnet er Alexander von Humboldt, Savigny, Rahel Varnhagen, Heine, vor allem aber Hegel: über Bachs Matthäuspassion schreibt er einen mehrfach nachgedruckten Aufsatz. Dichterischer Enthusiasmus war ihm nicht fremd. Dies zeigt sich daran, dass er sich als Textdichter für einige Lieder Mendelssohns betätigte. Seine Übersetzungen der Tragödien des Aischylos zogen aus dieser dichterischen Kraft Gewinn: eine seltene glückliche Verbindung von philologischer Akribie und Enthusiasmus. 1831 wurde Droysen bei Boeckh promoviert, zwei Jahre später habilitierte er sich. Er lehrte gleichzeitig als Privatdozent an der Berliner Universität und am Gymnasium Zum Grauen Kloster in Berlin. Der Ruf nach Kiel brachte eine Verschiebung des Arbeitsschwerpunktes von der griechischen Antike und dem Hellenismus zur neueren Geschichte und damit zugleich eine engere Verflechtung in die Politik mit sich: Droysen hielt in Kiel Vorlesungen über das Zeitalter der Freiheitskriege ab, die 1846 publiziert wurden. Diese zeithistorische Lehr- und Forschungstätigkeit verband sich mit unmittelbar politischem Engagement; so trat Droysen für die Unabhängigkeit Schleswig-Holsteins ein und nahm am Aufstand der Herzogtümer 1848 teil. In der Folge wurde er als Vertreter der provisorischen Regierung Mitglied im Parlament der Paulskirche, später Mitglied des Siebzehner-Ausschusses und holsteinischer Abgeordneter der Nationalversammlung. In der Paulskirche gehörte er der Kasino-Partei an; er zeigte sich indessen sehr enttäuscht über das Scheitern der parlamentarischen Bestrebungen, aber auch über die preußische Politik unter Manteuffel. Für Droysen stand fest, dass einzig Preußen Sachwalter einer nationalen Einigung sein könne. Den Paulskirchen-Parlamentarismus sah er nach der Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. als vollständig gescheitert an. Die Crux bestand darin, dass dem Parlament nicht gelungen war, Preußens Macht für sich zu gewinnen. Der Umweg auf einen Lehrstuhl in Jena geschah nicht ganz freiwillig: in Kiel hatte Droysen Repressionen der dänischen Seite zu gewärtigen. Er erwies sich in dieser Zeit auch als vehementer Verfechter und einer der geistigen Urheber der kleindeutschen Lösung, dessen Nationalstaatskonzept auf den Ausschluss Österreichs setzte und ein erbliches Kaisertum der Hohenzollern vorsah. Die Yorck-Biographie und das Hauptwerk, seine Geschichte der preußischen Politik (erster Band 1855) bestätigt das Epitheton, das ihm sein vielleicht bedeutendster Schüler, Friedrich Meinecke, beilegte: eine Symbiose von Wissenschaft und Politik gebildet zu haben. Von der Fachkritik wurde dies, nicht zu Unrecht, als Abkehr von der Rankeschen Objektivität kritisiert. Die akademische Karriere Droysens erreichte ihr Ziel, als er 1859 in Berlin sein Lehramt antreten konnte. Gegen Bismarck hatte er zunächst einige Vorbehalte gehegt, zunehmend bejahte er gleichwohl dessen Politik, und die Reichseinung von 1871 konnte er weitgehend als Verwirklichung seiner eigensten politischen Ideen verstehen. In Berlin entwickelte Droysen eine bedeutende Wirksamkeit, nicht zuletzt durch die Edition derAkten zur preußischen Geschichte. Hier entfaltete er auch in insgesamt siebzehnmaligem Vortrag seine Historik: eine bis heute in ihrer kategorialen Differenziertheit und ihrem geschichtsphilosophischen Durchblick Maßstab bildende historische Methodenlehre, der in den Hermeneutik- und Methodendiskussionen seit den 1960er Jahren (u.a. durch Gadamer und Jörn Rüsen), aber auch innerhalb der Philosophie (Stephan Otto) hohes Gewicht zuerkannt wird, die bis heute anhält. Wenn man sich Meineckes lebendige Schilderung der Historik-Vorlesungen des alten Droysen vor Augen hält, so muss Droysens Reflexion allerdings in einer Zeit des puren Positivismus wie ein Relikt aus ferner Zeit gewirkt haben.

Hegels Vorlesungen, vor allem jene zur Philosophie der Weltgeschichte, prägten und beeindruckten den Studenten Droysen nachhaltig. Er verwies später allerdings im Sinne einer Abkehr von Hegel immer wieder darauf, dass der Boden der historischen Erkenntnis empirisch sei und nicht spekulativ. Damit verband sich auch ein religiöses Motiv: Nicht die Spekulation, sondern die unmittelbare Erkenntnis Gottes, führe über die Empirie hinaus. Droysen entwickelt eine Konzeption, die strenge philologische Maßstäbe, einschließlich aller Dimensionen der Quellenkritik, und eine teleologisch geprägte Geschichtsphilosophie zusammenzuführen versucht.

Indessen ist gerade für Droysens frühes Opus magnum, seine Geschichte Alexanders des Großen, die Hegelsche Prägung unverkennbar. Dabei bezog er Hegels Geschichtsdenken in einer Vereinseitigung auf den Fortschritt, dem der Historiker das größte Gewicht geben müsse. Man brauche, so schreibt er anderwärts in einem Brief an den Verleger Perthes, „einen höheren Gesichtspunkt als das Kritisieren der Quellen, und die Richtigkeit der zu erzählenden Fakta ist stets prekär“. Über seine subjektive Präferenz für die neuen Kräfte gegenüber den alten hatte sich Droysen selbst stets Rechenschaft abgelegt. In seinem Alexander-Buch verdichtete sich dies in einer äußerst negativen Beurteilung des Redners Demosthenes: Die Geschichte kenne, so dekretierte er gegen die alten Kräfte, nur wenige so traurige Gestalten als den großen Redner von Athen. Der junge Jacob Burckhardt hatte seinerzeit bei Droysen das Kolleg gehört, und sollte seinerseits in seinen eigenen späten Vorlesungen eine Ehrenrettung des Demosthenes unternehmen. Die Freilegung der Schattenseiten der attischen Demokratie, die bei Droysen angelegt ist, wird freilich in BurckhardtsGriechischer Kulturgeschichteihre kongeniale Fortsetzung finden. Das Alexander-Buch bereitete zugleich dem magistralen Hellenismus-Werk, das nur teilweise verwirklicht werden konnte, den Boden. Es nahm den Hellenismus überhaupt erst als eigenständige, bedeutsame und geschichtsprägende Epoche wahr. Der „Bruch der Zeiten“ und die „Durchreißung“ naturwüchsiger Sittlichkeit, von denen die spätantike Krise der Poliswelt ein Zeugnis gibt, führt nach Droysen zur „unsichtbaren und doch allbeherrschenden, einen Macht des Geistes“: Die große Epoche zwischen Alexander und Augustus wird daher zum Paradigma einer Negation der Zustände, die sich auf die intelligible geistige Freiheit und ihre Gewissheit hin vermittelt. Getragen ist diese Konzeption offensichtlich von dem Christentum als zentralem geschichtlichen Datum (‚als die Zeit erfüllt war’), womit Droysen einen Hegelschen Grundgedanken durch Geschichtsschreibung verifiziert – zugleich aber unverkennbar nach wie vor die Hegelschen Prämissen teilt.

Droysens Sohn Gustav konnte 1910 in der Biographie seines Vaters schreiben, dass das Alexanderbuch erst zu seiner vollständigen Wirkung gelangt sei, seit Preußen„unsere Nation geeinigt“ und die Parallele zur Alexanderzeit sichtbar sei.

Das ist weniger eine Aussage über die Rezeption, als über Droysens Absicht: Er dachte Preußen in der Gegenwart jene Rolle zu, die im antiken Griechenland Makedonien eingenommen hatte. Und die wissenschaftlich künstlerische Blüte in den Befreiungskriegen, verbunden mit der politisch verspäteten Nation, wurde zu einer Analogie auf Attika. Hinter der Teleologie auf die Nationale Einung, die unmittelbare Verbindungen zur Gegenwart erlaubte, lag die andere, tiefere einer fundamentalen Krise, die sich aber gerade als Vorbereitung der erhofften geistigen und sittlichen Vertiefung erweisen könne. Hier bot sich eine subtilere Analogisierung an, wenn Droysen über die eigene Zeit schrieb: „Wir stehen in einer jener großen Krisen, welche von einer Weltepoche zu einer neuen hinüberleiten.“ Die neue Krisis war bezeichnet durch eine Tendenz zu maßloser Machtentfaltung (Bonapartismus), die die Autonomie des Bürgertums gefährde. Politische Interpretation der Geschichte bedeutete für Droysen immer zugleich „historische Ansicht“ der Gegenwart.

Droysens Alexanderbuch ist noch glanzvolle literarische Darstellung, die den Leser zu einem Sich-Hineindenken und -fingieren auffordert. „Das Faktum steht nicht in den Quellen“, dies war Droysens Überzeugung. Die Gegebenheit und die literarische Darstellungsweise hatte sich später bei Droysen, als Historiker Preußens und als Biograph des Grafen Yorck, von spekulativer Ahnung weit entfernt: ein Tribut an die immer differenzierter und spezialistischer werdenden Einzelforschungen, die sich der Darstellung entzogen, den in ähnlicher Weise auch der Zeitgenosse Theodor Mommsen zu entrichten hatte.

Die preußische Geschichte ließ weniger von der kritischen Instanz erkennen, die der Vermittlungsgedanke auch erlaubte: Es sollte gezeigt werden, dass preußische Politik von den Brandenburger Anfängen an auf Reichsinteressen gerichtet war. Im Laufe der Arbeit an den Bänden des Chef d’œuvre drohte Droysen die universalhistorische Perspektive verloren zu gehen: Er konzentrierte sich auf eine immer engere, streng auf Akten gestützte Darstellung borussischer Außenpolitik.

Droysens Historik, die erst 1936 vollständig veröffentlicht wurde, ging in ihrer Tektonik weit über eine gängige, weitgehend auf Quellenkritik begründete Methodik hinaus. ZurMethodik, die er in Heuristik, Kritik und Interpretation gliederte, trat als zweiter Hauptpunkt die Systematik, in der er die geschichtliche Arbeit wiederum, nach der Aristotelischen Kategorien- und vor allem Vier-Ursachen-Lehre, nach Stoff, Formen, ihren Arbeitern und ihren Zwecken gliederte. Faszinierend ist, wie die Begriffsbildung ein höchst differenziertes Feld historischer Forschung eröffnet. Droysen durchmisst die Differenzen zwischen Geschichte und historischer Methodik, er geht aus von den großen sittlichen Daseinsmächten zwischen Mensch und Welt: Hegels objektivem Geist. Einer jeden teleologischen Vollendung der Geschichte, sofern sie denn in Hegels Absicht gelegen haben sollte, erteilt Droysen eine entschiedene Absage: erreichte historische Bildung ist als Handlungsorientierung zu verstehen. Damit kann Geschichte doch Magistra vitae werden. Seines Schülers BurckhardtWeltgeschichtliche Betrachtungen lassen sich als Gespräch mit Droysens Geschichtsdenken begreifen. Ihre einzigartige Signatur hat Droysens Historik auch darin, dass sie gleichermaßen Geschichtsphilosophie in Hegels Spuren, ergänzt durch zentrale Elemente der Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts, und Methodologie im Gefolge der großen klassischen Philologen, F. A. Wolf und – Droysens Lehrers – Boeckh ist: Der erstgenannte Aspekt lässt ihn den „ungeheure(n) Überschritt des Innern in das Äußere, der Einbildung der Vernunft in die Realität“ vermittels der sittlichen Mächte erkennen: jenes Proprium, an dem die Weltgeschichte von Anfang an gearbeitet habe. Der zweite Aspekt hingegen hat seine Stärke nicht zuletzt in einer Hypothesen bildenden Vernunft, einer Überprüfung, einem Falsifikationismus, wie er im 20. Jahrhundert eher in der Wissenschaftstheorie (etwa bei Popper) als in der Hermeneutik anzutreffen war. Die Wirkung von Droysens Historik wird so weit reichen wie historische Selbstreflexion reicht, wie bewusst ist, dass Geschichte an Akte der Reflexion gebunden, nicht unmittelbar gegeben ist. Praktische Vernunft, die „Bewährung“ gebildeter Hypothesen und der Nutzen der Historie für das Leben stehen damit stets auch zur Debatte.

Jörn Rüsen begriff Droysen als den Historiker des Bürgertums,„im Rahmen der nationalstaatlichen Einigung Deutschlands“, mit dem gleichsam eine neue Epoche der Geschichtsschreibung auf Rankes Rekonstituierung der Historiographie, des großen Okulars des Historikers, nach der aufklärerischen Traditionskritik folgte.

Droysen hat zu seinen Lebzeiten niemals ganz den Ruhm seiner großen Zeitgenossen gewinnen können: Zu Recht wurde bemerkt, dass ihm Mommsen als Althistoriker, Ranke als Neuzeithistoriker das Feld streitig machten, Treitschke hingegen bestimmte als historischer Schriftsteller und politischer Historiker sui generis das Feld. Es ist daher nicht zuletzt seine „Unzeitgemäßheit“, vielleicht nicht das schlechteste Epitheton für den Historiker, die Droysens Lebensarbeit umgibt.

Werke: Des Aischylos Werke, 2 Teile, Berlin 1832. 3. Auflage Berlin 1868. – Geschichte Alexanders des Großen, Berlin 1833. – Geschichte des Hellenismus, 2 Bände, Berlin 1836-1843. – Vorlesungen über die Freiheitskriege, 2 Bände, Kiel 1846. – Das Leben des Feldmarschalls Yorck von Wartenburg, 3 Bände, 1851/52. – Geschichte der preußischen Politik (bis 1756), 14 Bände 1855-1886. – Abhandlungen. Zur neueren Geschichte, Leipzig 1876. – Kleinere Schriften zur alten Geschichte, 2 Bände, Leipzig 1893-94. – Politische Schriften, hrsg. von F. Gilbert, München 1933. – Grundriß der Historik, hrsg. von Peter Leyh, Stuttgart/Bad Cannstatt 1977.

Lit.:G. Droysen, J. G. Droysen, Berlin 1910, 1. Band. – O. Hintze, Droysen, in: Allgemeine Deutsche Biographie, 48. Band, S. 82 ff. – F. Meinecke, Johann Gustav Droysen. Sein Briefwechsel und seine Geschichtsschreibung, in: ders., Schaffender Spiegel. Studien zur deutschen Geschichtsschreibung und Geschichtsauffassung, Stuttgart 1948, S. 146 ff. – Jörn Rüsen, J.G.D., in Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Deutsche Historiker II, Göttingen 1971, S. 7 ff. – Ders., Begriffene Geschichte. Genesis und Begründung der Geschichtstheorie J.G. Droysens. Paderborn 1969. – Chr.-G. Schuppe, Der andere Droysen. Neue Aspekte seiner Theorie der Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1998. – A. Seifert, Droysen und die Objektivität, in: Hist. Jahrbuch 99 (1979), S. 414 ff. – F. Jaeger, Bürgerliche Modernisierungskrise und historische Sinnbildung, Göttingen 1994. – A. Buller, Die Geschichtstheorien des 19. Jahrhunderts, Berlin 2002.

Bild: Geschichte Alexanders des Großen, Zürich 1986 (Manesse Bibliothek).

Harald Seubert