Biographie

Ehlert, Tamara

Herkunft: Ostpreußen
Beruf: Schriftstellerin, Lyrikerin
* 28. Dezember 1921 in Königsberg i.Pr.
† 8. September 2008 in München

Im Bismarck-Oberlyzeum in der Wrangelstraße am Oberteich in Königsberg legte Tamara Ehlert ihr Abitur ab. Dann nahm sie Schauspiel- und Tanzausbildung und war ab 1941 während des Krieges Telefonistin und Funkerin. Bereits 1938 veröffentlichte sie erste Gedichte im Königsberger Tageblatt.

Nach dem Krieg arbeitete sie als Dolmetscherin bei der britischen Militärregierung und veröffentlichte Kurzgeschichten und Gedichte in Zeitungen und Zeitschriften, ab 1948 in der Hannoverschen Presse. Ab 1951 war sie Mitarbeiterin im Bayerischen Rundfunk und lebte in Fürstenfeldbruck bei München.

Ihr Werk So war der Frühling in meiner Stadt mit Gedichten und Prosa wurde von Apollinarija Sulewa ins Russische übersetzt und 1993 in Kaliningrad, ihrer früheren Heimatstadt Königsberg, von Tamara Ehlert als zweisprachiger Band (Deutsch-Russisch) veröffentlicht. Außerdem erschienen ihre Lyrik und Prosa in über 60 Antologien. Ihr Werk geht in Prosa und Lyrik weit über das durchschnittliche Heimatorientierte hinaus und öffnet dichterische Tiefenschichten.

1954 erhielt Tamara Ehlert in Stuttgart den Lyrikpreis des Brentano-Verlages, 1970 wurde sie mit dem Nikolaus-Koper­nikus-Preis ausgezeichnet, und die Künstlergilde Esslingen verlieh ihr 1976 den Andreas-Gryphius-Preis.

Die Kurzgeschichte Der Weg erzählt vom alten Gutzeit und seiner Magd in einem ostpreußischen Forsthaus. Alle anderen sind schon fort, heißt es. Es ist Winter, wohl Januar 1945, die Magd hat noch eine Suppe auf den Tisch gestellt. Während sie essen, pfeift eine Granate über das Haus und setzt den Nachbarhof in Brand. Gutzeit schickt das Mädchen fort. Sie weiß den Weg. Er pfeift nach den Hunden, aber die hat er morgens schon erschossen und im Garten begraben. Dann geht auch er, seinen Weg in den Wald, wo er jeden Baum kennt, viele selbst gepflanzt hat. Der Schnee ist tief; irgendwo vergräbt er sich darin mit den Händen. Hier sei er am besten aufgehoben, denkt er. – „In Tamara Ehlerts knapper, manches nur andeutenden Erzählung, leuchtet der Krieg wie eine Fackel rot über die Schneelandschaft, zerreißt die Hausgemeinschaft und vertreibt den Alten … von seinem Gehöft. Gefaßt und voll Zuversicht geht er einen Weg, der nicht falsch sein kann, weil er ihn immer schon gegangen ist. Es ist jedoch der Weg in seinen Tod.“ (Heinz Tausch).

In der Erzählung Mutter und das Marjellchen suchen der Vater am Fluss, die Großmutter bei ihrer Küchenarbeit und der Junge in seinen abendlichen Angstträumen im Bett das Trauma des Schiffsuntergangs zu überwinden, bei dem Mutter und Marjellchen ertrunken sind. Als in der Schule das Märchen von der See, von Seerosen, Nixen und Perlen besprochen wird, erklärt der Junge böse: „Auf dem Meeresgrund gibt es bloß Fische und Tote, und so schön wie die Mutter und das Marjellchen kann keine Nixe sein.“ – Das Gelächter der Klasse offenbart die unüberwindbare Kluft zwischen Flüchtlingen und ihrem Schicksal und Einheimischen in ihrer bornierten Unwissenheit. Der Junge flieht nach Hause und weint sich an der Schürze der Großmutter aus; der Vater geht hilflos in den Hof und hackt Holz.

In Drei Texte erzählt Tamara Ehlert drei Liebesgeschichten, die alle nach kurzem Liebesaufflammen tragisch enden. In der ersten Geschichte erweist sich das Zählen der Kuckucksrufe zwischen Anna und Heini Mickelun als verhängnisvoll: der nur einmalige Ruf bei Heini erfüllt sich wenig später in seinem Tod bei einem Motorradunfall. – In der zweiten Geschichte verliebt sich Mieke in Jurgeitis, den Verwalter. Dieser sieht in ihr nur ein „Kleines Fohlen“. Als sie in der Innentasche seiner Jacke ein zerknittertes Foto findet, das Jurgeitis mit einem Mädchen am Wasser zeigt, will sie auf sich aufmerksam machen und heftet das Foto ans Scheunentor, wo es alle sehen. Statt des Skandals gibt es gar nichts; nur wird Mieke jetzt von Jurgeitis „Dummes kleines Fohlen“ genannt. Aber von Liebe ist natürlich keine Spur, nur zerstörte Hoffnung. – In der dritten Geschichte erinnert sich die alte Byruta an ihre erste und wohl einzige Liebe zu dem jungen Tierarzt Mahlert. Da war sie achtzehn. Sie treffen sich mehrfach nachts bei den Kähnen; dann kommt er nicht mehr. Sie vergiftet eine Kuh, um sein Kommen zu erzwingen. Aber es kommt der alte Tierarzt, der junge ist wieder in der Stadt, verschwunden auf Nimmerwiedersehen. Nun muss sie mit ihrem Schicksal allein zurechtkommen. – Anders als bei anderen Heimatdichtern heilt die Heimat nicht alle Wunden. Tamara Ehlert hat die Kraft, auch Bitteres im menschlichen Schicksal zu schildern.

Ihre ganze Meisterschaft entfaltet Tamara Ehlert in ihrer Lyrik. Der Königsberger Theaterkritiker und Schriftsteller Karl Herbert Kühn (1895-1968) urteilt: Ehlert „sitzt im Geheimnis, das aus Untergründen atmet.“ Das Gedicht Tröstliche Vision hat sechs Strophen, die erste und die letzte sind gleich: „Abends, wenn die Schatten tiefer werden, / treten wir aus unsern fremden Türen, / und wir wandern, stumme Schattenherden, / auf den Straßen, die nach Hause führen.“ – Von den mittleren Strophen sind zwei von Zerstörung und Tod geprägt und zwei von hellen Hoffnungsfarben und Licht: Albtraum des Vergangenen und Traum einer Zukunftsvision. – Auch in diesem Gedicht zeigt Tamara Ehlert, dass sie weiter denkt als gewöhnliche Heimatdichtung.

In dem Gedicht So war der Frühling in meiner Stadt kreuzen sich sprachkräftig kaum spürbare Quellen der neuen Jahreszeit mit der Unerbittlichkeit städtischer Realität: „Die alten Häuser spürten die Gicht / vom Winter her in den krummen Wänden / und faßten mit roten Ziegelhänden / begierig ins weiße Mittagslicht. – Sie ließen willig den warmen Strom / der Sonne an ihre Schwellen branden / und ihre buckligen Schatten standen / wie schwarze Schatten rings um den Dom.“

Zu den bedeutendsten, leider viel zu wenig bekannten Gedichten der Lyrikerin gehört Meine Stadt – ein erschütterndes Bild, ohne Nostalgie und romantisches Pathos: „Es liegt meine Stadt im Winterwind / verloren am dunklen Fluß. / Sie gleicht einem heimatlosen Kind, das ohne Mantel im Winterwind / am Erdboden schlafen muß. – Es spiegelt sich dort ein grüner Mond / im schwarzen Wasser und weint, weil niemand mehr in den Häusern wohnt, / die dieser geisterhaft grüne Mond / in langen Nächten bescheint. – Die Brücken warten zur Abendzeit / auf Schiffe vom weiten Meer, / doch kommen in fahler Dunkelheit, / vom Wind gesteuert, zur Abendzeit / nur Wolkenschiffe daher. – So hebt meine Stadt ihr Steingesicht, / von Wolken und Wind bewacht, / mit blinden Augen ins blasse Licht / und birgt das zerstörte Steingesicht / erschauernd im Tuch der Nacht.“

Werke: Der Weg, in: Ostdeutsche Erzähler der Gegenwart. Zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Heinz Tausch, Paderborn 1964, S. 19-21. –Tröstliche Vision. in: Silke Steinberg, Ostpreußische Erzähler heute. Erzählungen und Gedichte, Düsseldorf 1977, S. 155, Mutter und das Marjellchen, S. 51-54. – Drei Texte, in: Ostpreußische Liebesgeschichten, hrsg. v. Rudolf Naujok, München 1967, S. 31-39. – Eva Maria Sirowatka (Hrsg.), Königsberg – die goldene Stadt im Osten, Kiel 1987, hier Frühling, S. 8, Meine Stadt, S. 140.

Bild: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen

Klaus Weigelt