Ismar Elbogen entstammte einer alteingesessenen Rabbiner- und Gelehrtenfamilie aus dem Posen-schlesischen Grenzraum. Schon während seiner Gymnasialzeit in Breslau, wo er im Hause seines Onkels, des bedeutenden Lexikographen Jakob Levy, aufwuchs, zeigte er reges Interesse für die jüdische Geschichte und Tradition. Eine erste Einführung in den Talmud erhielt er durch Chairn Bloch und Gedaljah Tiktin. 1893 wechselte Elbogen zum Studium der Philosophie an die Universität Breslau über. Gleichzeitig trat er in das Jüdisch-Theologische Seminar Fränkelscher Stiftung ein, das seinen Sitz ebenfalls in Breslau hatte. Besonderen Einfluß übte der berühmte Talmudforscher Israel Lewy auf den jungen Studenten aus, den er zu seinem Lieblingsschüler erkor. 1898 schloß Elbogen sein Universitätsstudium mit der Promotion zum Dr. phil. ab (Dissertation: Der „Tractatus de intellectus emendatione“ und seine Stellung innerhalb der Philosophie Spinozas). Nach Beendigung seiner theologischen Studien an der Fränkelschen Stiftung erhielt er 1899 einen Lehrauftrag für jüdische Geschichte und biblischeExegese am Collegio Rabbinico Italiano in Florenz. Indem Elbogen seine Forschungen nach der historisch-kritischen Methode ausrichtete, folgte er bewußt Leopold Zunz, dem Begründer der modernen Judaistik. 1902 wurde Elbogen Dozent für Liturgie und Geschichte an der Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums in Berlin. Bis zum Jahre 1938 blieb er dieser Institution treu und wurde mit der Zeit deren führender Repräsentant. 1919 verlieh ihm die preußische Regierung in Anerkennung seiner Verdienste den Titel eines Professors an der genannten Lehranstalt, die zwischen 1922 und 1934 auch formaljuristisch zur Hochschule erhoben war. In Berlin entfaltete Elbogen eine rege wissenschaftliche Tätigkeit, die sich in zahlreichen Veröffentlichungen niederschlug. Seine ersten Arbeiten galten vorwiegend der jüdischen Liturgie. 1902 entstanden der mit dem David-Rosinschen Preis ausgezeichnete Essay Geschichte des Achtzehngebets, 1907 die Studien zur Geschichte des jüdischen Gottesdienstes; 1913 erschien Der jüdische Gottesdienst in seiner geschichtlichen Entwicklung, ein Werk, dessen Aussagen über die Quellen und die Entstehung der jüdischen Liturgie bis heute weitgehend Gültigkeit besitzen (3. Aufl. 1931, Nachdr. 1962); 1914 folgte die Schrift Gottesdienst als synagogale Poesie. Auch in späteren Jahren hat sich Elbogen noch in verschiedenen, teils populär gehaltenen Artikeln mit der jüdischen Liturgie befaßt. Von großer Bedeutung für den gelebten Glaubensvollzug, der ihm neben der wissenschaftlichen Theorie sehr am Herzen lag, wurde das unter seiner Mitwirkung herausgegebene Gebetbuch für das ganze Jahr, bearbeitet im Auftrage des liberalen Kultus (1932). Aufsehen erregte die 1902 erschienene erste historische Abhandlung Elbogens, Die neueste Konstruktion der jüdischen Geschichte, worin er die Unhaltbarkeit der Thesen von Isaak Halevy zum Ende der talmudischen Zeit nachwies und die von einigen Kritikern höher bewertet wurde als das wissenschaftliche Gesamtwerk des Historikers Heinrich Graetz. Einen Meilenstein in der modernen jüdischen Geschichtswissenschaft bildete die 1904 erschienene Arbeit Die Religionsanschauungen der Pharisäer, in der Elbogen ein betont jüdisches, nichtsdestoweniger kritisch-sachliches Bild von einer der bedeutendsten Religionsparteien der jüdischen Geschichte anhand der Quellen entwarf, das sich von den Einseitigkeiten der christlich-theologischen Sicht Adolf von Harnacks und Wilhelm Boussets deutlich abhob und die moderne Pharisäerforschung bis zu Louis Finkelstein und Jacob Neusner befruchtete.
Darüber hinaus verfaßte Elbogen eine Reihe weiterer Schriften zur Geschichte der Juden sowie diverse Artikel für Lexika und Sammelwerke. Sein letztes, 1944 posthum erschienenes Werk A Century of Jewish Life galt der jüdischen Zeitgeschichte (dt. Ausg. 1967).
Von Anbeginn seiner Berliner Wirksamkeit auch im jüdischen Gemeindeleben engagiert, übernahm Elbogen im Laufe der Jahre zahlreiche gesellschaftlich-politische Ämter und Verpflichtungen. So wirkte er seit 1906 im Auftrag der Internationalen Vereinigung „B’nai B’rith“ als Vorsitzender des Komitees für jüdische Jugendliteratur und hatte den Vorsitz des Gesamtarchivs der Juden in Deutschland bis zu seiner Emigration inne. Während der Weimarer Republik leitete er im neu gegründeten „Preußischen Landesverband jüdischer Gemeinden“ über mehrere Jahre die Abteilung für Erziehung. Jene Jahre, in denen sich die deutschen Juden auf dem Höhepunkt ihrer gesellschaftlichen Integration befanden, brachten dem Wissenschaftler Elbogen zugleich internationale Anerkennung durch Lehraufträge am Jewish Institute of Religion in New York (1922), am Hebrew College in Cincinnati (1923) und an der Hebrew University in Jerusalem (1928) ein. 1929 lehnte er einen Ruf als Professor an die Columbia University in New York ab. Auch nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten hielt Elbogen, wie viele Vertreter des liberalen jüdischen Bürgertums, die Existenz der deutschen Juden nicht für ernsthaft gefährdet. Deshalb übernahm er in der im September 1933 geschaffenen „Reichsvertretung der deutschen Juden“ den Vorsitz im Erziehungsausschuß, wo er wesentlich an der Neugestaltung des durch die restriktiven Maßnahmen der Regierung beeinträchtigten jüdischen Schulwesens beteiligt war. Elbogens Lehrtätigkeit wurde jedoch zunehmend eingeschränkt. Sein letztes in Deutschland erschienenes Buch Die Geschichte der Juden in Deutschland (1935) unterlag strengster Zensur durch die Überwachungsstelle des Propagandaministeriums. Diese Erfahrungen veranlaßten den 64jährigen nach langem Zögern 1938 zur Emigration in die USA. Seine früheren Kontakte erleichterten ihm das Einleben, so daß er seine wissenschaftliche Arbeit fortsetzen konnte. Bis zu seinem Tode war er gleichzeitig an den New Yorker Forschungsinstituten Jewish Institute of Religion, Jewish Theological Seminary, Hebrew Union College und Dropsie College tätig. Sie alle verliehen ihm die Ehrendoktorwürde.
Der Einfluß von Persönlichkeit und Werk Ismar Elbogens auf das preußisch-deutsche Judentum läßt sich kaum hoch genug einschätzen. Viele seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse sind bis heute nicht überholt. Als Lehrer und geistiger Anreger hat er mehrere Generationen deutscher Rabbiner geprägt. Stand Leo Baeck an der politisch-organisatorischen Spitze des deutschen Judentums, so gehörte Ismar Elbogen zu den führenden Repräsentanten der geistigen jüdischen Elite in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Werke: Gesamtverzeichnis: R. Elbogen: Ismar Elbogen 1874-1943. A Bibliography, in: Historia Judaica 8 (1946) Nr. l, S. 69- 94
Lit.: I. Landman: Art. Ismar Elbogen, in: The Universal Jewish Encyclopedia, Bd. 4, New York 1948, S. 44f. – E. Rosenthal: Ismar Elbogen and the New Jewish Learning, in: Year Book of the Leo Baeck Institute 8 (1963), S. 3 – 28. – A. Marx: Ismar Elbogen – eine Würdigung, in: Ismar Elbogen, Ein Jahrhundert jüdischen Lebens. Die Geschichte des neuzeitlichen Judentums. Hrsg. v. E. Littmann. (Bibliotheca Judaica), Frankfurt/M. 1967, S. 8-16. – M. Birnbaum: Staat und Synagoge 1918-1938. Eine Geschichte des Preußischen Landesverbandes jüdischer Gemeinden. 1918-1938 (= Schriftenreihe wiss. Abh. d. Leo Baeck Instituts, Bd. 38), Tübingen 1981. – J. Walk, Kurzbiographien zur Geschichte der Juden 1918-1945. Hrsg. v. Leo Baeck Institute Jerusalem, München, New York, London, Paris 1988, S. 77.
Bild: I. Landman: Art. Ismar Elbogen, a.a.O., S. 45.
Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Ismar_Elbogen
Christof Dahm