Biographie

Erdmann, Johann Eduard

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Philosoph
* 5. Juni 1805 in Wolmar/Livland
† 12. Juni 1892 in Halle/Saale

Johann Eduard Erdmanns Geburtsstadt Wolmar lag im Herzen Livlands, in der Mitte zwischen Königsberg und St. Petersburg.Den ersten Unterricht empfing er bei seinem Vater, einem pflichtenstrengen Pfarrer und Schulmann. In Dorpat, zuerst auf dem Gymnasium, dann an der dortigen Theologischen Fakultät, wurde der Grund für Erdmanns gediegene Kenntnis der Antike und der christlichen Theologie gelegt. Die Berliner Studienzeit ist geprägt durch eine enge Freundschaft mit dem hochbegabten Johannes Gaye (1804-1840), wobei Erdmanns ästhetisches Sensorium sich im Umgang mit dem späteren Kunstgelehrten, damaligen Enthusiasten Gaye schulte. Er ging nach Berlin, um Schleiermacher zu hören; doch, obwohl sich Schleiermacher seiner väterlich annahm, zog ihn sehr bald schon Hegel ungleich stärker in seinen Bann. Auf das systematische Grundproblem des Verhältnisses von Philosophie und Religion, das Erdmann von diesem Zeitpunkt an in Atem halten sollte, dürfte er nicht zuletzt unter der Ägide Hegels und seine Religionsphilosphie gestoßen sein. Er kehrte in die livländische Heimat zurück, legte das Konsistorialexamen ab und wurde am 23. Juni 1829 ordiniert. Er ehelichte die fast gleichaltrige Emilie Walter, geb. Bandau, eine junge Witwe, im April 1833. Über die Unterscheidung zwischen Philosophie und Theologie 1830 aufgrund einer Disputation in Kiel promoviert, habilitierte sich Erdmann 1834 in Berlin, nachdem er nach wenigen Dienstjahren seine Entlassung aus dem geistlichen Amt beantragt und erhalten hatte. Der junge Privatdozent hielt am 13. Juni 1834 seine öffentliche Antrittsvorlesung zu dem Thema: „De postulatis in methodo philosophica admittendis“.

Seiner Ehefrau scheint der Abschied von der Heimat besonders schwer geworden zu sein. Immer wieder hatte Erdmann sie zu trösten. In der letzten Phase der Blütezeit des Hegelianismus zur Habilitation gelangt, entfaltete Erdmann eine offensichtlich erfolgreiche, rege Vorlesungstätigkeit. Er entwickelte zunächst eine systematische Vorlesung über „Glauben und Wissen“, die 1837 schon als Buch veröffentlicht wurde, und, durchaus originell, weniger an Hegels Enzyklopädiesystem als vielmehr an die ‚Phänomenologie des Geistes‘ anschließt, ein Werk, wie Erdmann charakterisierend sagt, „das Hegel seine Entdeckungsreise genannt hat und das uns allerdings Nachricht bringt von zauberhaften Inseln, die auf dem wüsten Ozean der Theologie keiner vor ihm gefunden hatte“. Haupterzeugnis der Berliner Privatdozentenzeit ist sodann die erste Abteilung seines ‚Versuch[s] einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neuern Philosophie‘: die Darstellung reicht von Descartes bis Spinoza, wobei in Erdmanns Sicht Descartes (und nicht wie in Feuerbachs späterer rivalisierender Konzeption) die Renaissance am Anfang der neuzeitlichen Philosophie steht. Der philosophiehistorische Topos von Descartes als dem Vater der Neuzeit“ wird also wesentlich durch Erdmann mit etabliert.

Als Erdmann seinen ‚Versuch‘ in Angriff nahm, waren Hegels ‚Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie‘ noch nicht erschienen; Hegel inspirierte aber wesentlich jene gediegene philosophische Geschichtsschreibung, die in Erdmann einen eindrucksvollen Exponenten findet. Der Übergang von der Metropole in die Saalestadt Halle, an deren Alma mater ihn der Ruf ereilte und die damals kaum mehr als 25.000 Einwohner zählte, fiel Erdmann, der ähnlich wie sein großer Lehrer Hegel ein Theaterenthusiast gewesen ist, schwer. Zudem scheint er nicht mit allzu offenen Armen aufgenommen worden zu sein. Im Alter, anläßlich seines 50. Doktorjubiläums, erinnerte er sich: „Bald nach meiner Herkunft ward ich gewahr, daß, wenn man eine Zeitlang nur gestreichelt ist, die zum ersten mal empfundene Striegel sehr schmerzt“.

Doch schon nach wenigen Jahren brachte ihm die Hallesche Studentenschaft zu seinem 40. Geburtstag emphatische Ovationen. Erdmanns gewandt gelehrter, rhetorisch geschliffener Vortrag verfehlte seine Wirkung nicht. Er war vollständig frei gehalten, ohne jedes Manuskript, wobei Erdmann freilich, nach antiker Rhetorenart, seine Ausarbeitungen auswendig zu lernen pflegte. Auch im ‚Berliner Wissenschaftlichen Verein‘, wo die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung einem bürgerlichen Publikum näher gebracht werden sollten und wo Erdmann mehrfach zu Gast war, brillierte er mit seiner Vortragskunst und setzte Maßstäbe, so daß sich seither alle Vortragenden je nach ihrem sehr unterschiedlichen Vermögen zu freier Rede bemüßigt sahen. Hörer freilich, die in der Folge des ‚Jungen Deutschland‘ nach einem philosophischen Lehrvortrag suchten, in dem die Gedanken in statu nascendi erzeugt wurden, zeigten sich von Erdmann eher enttäuscht. Es kommt hinzu, daß er niemals in seinem Leben als akademischer Lehrer Seminarübungen abhielt. Er suchte am Katheder sein bestes zu geben. Damit hatte es aber auch sein Bewenden. Zeugnisse Rudolf Hayms, der 1839 in Halle zu studieren begonnen hatte, sprechen eine eindeutige Sprache: Es „schlief sich bei der glatten Rede, die so regelmäßig fortfloß, und so sicher, auch ohne mich, zum Ziele gelangte, so süß“. Jahrzehnte später sollte Haym als Extraordinarius für Literaturgeschichte, der aber auch eine (von Erdmann anerkannte) Logik-Vorlesung vortrug, geradezu Gegentyp und Rivale des „Kathedervirtuosen“ Erdmann in Halle werden.

Dieser scheute das öffentliche politische Wort nicht. Seine (1858 im Druck erschienenen) Vorlesungen ‚Über das akademische Leben und Studium‘ blickten den Zeittendenzen klarsichtig ins Auge, ohne sich einer von ihnen zu verschreiben. Liberal und konservativ zugleich, wenn man beides nicht als Parteiname mißbrauche, trat Erdmann seiner Hörerschaft gegenüber.

Als Forscher leistete schon der junge Extraordinarius Pionierarbeit, mit einer zweibändigen, in wenigen Wochen in Hannover aus dem Nachlaß gearbeiteten Leibniz-Edition: „G. G. Leibnitii opera philosophica, […] latina gallica germanica omnia“. Erdmann faßte die Editionsarbeit als unerläßliche Voraussetzung für den Fortgang der Darstellung seines ‚Versuchs‘ auf. Dessen Pionierleistung besteht nicht nur in der konsequenten Entfaltung der Leibniz-Linie der neueren Geschichte der Philosophie, sondern auch darin, daß Erdmann aufs gründlichste den Empirismus einbezieht. Nicht nur die Briten Locke und Hume, sondern auch die Franzosen werden erstmals aufs gediegenste aus detaillierter, bis heute bewundernswürdiger Quellenkenntnis heraus dargestellt, womit Erdmann am weitesten über die Darstellung der Geschichte der Philosophie bei seinem Lehrer Hegel hinausgeht. Ergänzt wurde die beständig fortfließende Hauptarbeit durch kleinere systematische Publikationen, die erkennen lassen, daß Erdmann sich den Entdeckungen und der zunehmenden Geltung der Einzelwissenschaften nicht entzog. Er behandelte das Verhältnis von Leib und Seele, besonderes Interesse galt der Psychologie; dennoch blieb er mit einem ‚Grundriß der Logik und Metaphysik‘ Hegelscher Systemform verpflichtet. Seit den vierziger Jahren wandte er sich immer stärker der Verhältnisbestimmung von Naturwissenschaften und Philosophie zu. Seit 1848 gehörte er der Leopoldina, der Naturforschenden Gesellschaft zu Halle an, in der er freilich erst viele Jahre später und mit großer Seltenheit Vorträge hielt: eine grundsätzliche Abhandlung über ‚Natur, Naturforschung, Naturphilosophie‘, die eine Physiognomik aller drei Weisen der Wirklichkeits- und Weltbetrachtung entwirft; und eine Auseinandersetzung mit Darwin und dem Darwinismus sind überliefert. Die pointierten kleineren Schriften Erdmanns, die aus seinen Vorträgen hervorgingen, sind in zwei Bänden, als ‚Psychologische Briefe‘ und ‚Ernste Spiele‘ gesammelt worden; seinerzeit fanden sie viele Leser.

Systematisch ist Erdmann als Hegelianer eine originäre Gestalt, die zeigt, wie wenig zementiert das Hegelsche System, entgegen dem Vorurteil, ist, wie sehr in der Lage, einer veränderten wissenschaftlichen Forschungssituation geöffnet zu werden, und daß es Zufall und Notwendigkeit nicht nur zu integrieren in der Lage ist, sondern sogar beide voraussetzt.

Der hochgelehrte Erdmann war jedoch bei all diesen Aktivitäten, wie sein Vortragsstil schon zu erkennen gibt, nicht Schulfuchs, sondern Weltmann. Größte Freude und Wahrnehmungssubtilität entwickelte er am Reisen. Er reiste „um die Welt zu sehen“, wobei er zwei Reisearten unterschied: allein und in voller Freiheit, oder in Begleitung seiner Frau. Livland, Südfrankreich, Italien, die Schweiz waren gemeinsame Reiseziele; Paris, wo er in den maßgeblichen Salons verkehrte, und ihn mit dem Gelehrten und Staatsmann Thiers ein enger Kontakt verband, aber auch Rußland suchte er bevorzugt alleine auf. Zum Teil sehr genaue Einblicke in seine Erfahrungen und Begegnungen gewinnt man aus den Briefen, die er in guter Manier seines Lehrers Hegel der eigenen Frau schrieb, Meisterwerke der Charakterisierungskunst, die soviel Zeitkolorit vermitteln, daß eine Neuausgabe lohnen dürfte.

Aufdie Revolution von 1848 und die nachfolgenden deutschen Zustände reagierte er immer auch aus einer europäischen Blickweite. Wichtig sind die ‚Philosophischen Vorlesungen über den Staat‘. Sein Staatsbegriff wiederholte im Strudel einer anderen Zeit die äquilibristische Leistung, die Hegel Jahrzehnte zuvor gegenüber Burschenschaften einerseits und Heiliger Allianz andererseits erbracht hatte. Erdmann wandte sich gleichermaßen gegen das Legitimitätssystem der Metternichschen Politik und die Einseitigkeit eines Systems der Nationalität und den Traum vom Reich zwischen den sieben Meeren in der Paulskirchenverfassung. „Professorenpolitik“ war ihm, der an einer konservativen Grundhaltung lebenslang festhielt, ein polemischer Begriff; dahinter erkannte er klarsichtig die Träumereien der Studenten aus den Jahren 1815-1819 und mithin eine unreife Form von politischem Engagiertsein. Hinsichtlich der Lage der Universitäten beurteilte er die studentischen Ziele, die sich unter anderem auf Abschaffung der Kolleggelder richteten, überaus skeptisch. Der Konservatismus verband sich mit einer wortmächtigen Beschwörung der Freiheit des Studiums, an die in Zeiten einer immer maßloseren Nivellierung einerseits und hilfloser Exzellenz-Appelle von Kultusbürokraten andererseits dringend zu erinnern wäre. „Die eigentliche Wurzel der deutschen Universität ist die Privatdozentur“, bemerkte Erdmann; und einzig der Professor, der frei forschender, allerdings durch Kolleggelder und Stipendien wohl versorgter Privatdozent gewesen ist, wird davor gefeit sein, „nur Beamter“ zu werden. Der Privatdozent ist im gut Hegelschen dreifachen Wortsinn in ihm ‚aufgehoben‘: Es bedarf nur wenig Phantasie, um sich auszumalen, was Erdmann über Juniorprofessuren gedacht hätte.

Als politischer Zeitgenosse war der Livländer, der bis zum Lebensende an der alten Heimat hing (geradezu wehmütig steigerte sich diese Verbundenheit allerdings bei seiner Frau) Preuße aus Überzeugung. Deutschland war ihm, der es groß wünschte, zuvorderst eine geistige und erst in zweiter Linie eine politische Macht. Deshalb hielt Erdmann auch fest, daß alle Zentralisation der deutschen Geschichte, als einer Geschichte des Reiches und der Föderalitäten, entgegengesetzt sei.

In Erdmanns späterem philosophiehistorischen Werk ist es augenfällig und erstaunenswert, daß ein überzeugter Hegelianer sich so detailliert mit der nachhegelschen Philosophie auseinandersetzt: mit Schopenhauer und mit Herbart. Dabei kommt ihm die immer mehr zutage tretende Einsicht zu Hilfe, daß die gesamte neuere philosophische Entwicklung auf Kant zurückgehe und jeder Dank verdiene, der Kants Verständnis aufhelfe, also Herbart in hohem, Schopenhauer in noch höherem Maße. Schopenhauer begegnete er in persona in dessen Frankfurter Speiselokal. Der Philosophieprofessor habe die Gelegenheit nicht genutzt, wird Schopenhauer in seinen Briefen gallig bemerken; bei seiner Auffassung von „Philosophiebeamten“ wäre jedes andere Urteil erstaunlich gewesen.

Die Hegel-Darstellung in Erdmanns Philosophiegeschichte ist nicht mehr erklärlich als Arbeit eines Gliedes der Hegelschen Schule, sondern eines Philosophiehistorikers und Philosophen in Hegelschen Spuren, weshalb sie auch jenseits der Sektenbildungen von Rechts- und Linkshegelianismus verortet werden muß. Der Vorwurf, er habe Fremdartiges in Hegels System hineingetragen, erschreckte ihn zunehmend weniger. Der Biograph Hermann Glockner hat notiert: „Er war gezwungen, den Hegelianismus so zu fassen, daß die Prinzipien Schleiermachers, Herbarts, Schopenhauers in der Tat darin aufgehoben waren. Er mußte Hegel als den Vollender auch jenes Kant darstellen, auf den sich Schleiermacher, Herbart, Schopenhauer beriefen“. Schwieriger war es mit dem größten Antipoden, mit Schelling: Ob sein Denken in Hegel aufzuheben wäre, dies ließ Erdmann zu Recht unentschieden.

Die späten Jahre brachten noch einmal eine neue wissenschaftliche Begegnung von hohem Reiz, den Austausch mit dem großen Philosophiehistoriker der jüngeren Generation, Kuno Fischer, dessen Ruhm denjenigen Erdmanns bald und erst recht in der Nachwelt überstrahlen sollte. Zugleich fand seine Lebensarbeit durch Fischer Resonanz und eigenständige Fortsetzung. Man darf nicht übersehen, daß Erdmanns ‚Versuch‘ zunächst wenig rezipiert und kaum besprochen wurde. Fischer, der einstige Doktorand Erdmanns trat mit seiner philosophiegeschichtlichen Konzeption, die in der Neuzeit Bacon neben Descartes als Gründungsdenker verankert, hervor, wodurch er eine Mitte zwischen Erdmann und Feuerbach hielt. Doch Feuerbach zeigte nicht den langen Atem, der für ein solches Unternehmen unerläßlich ist.

Erdmann wurde also für Fischer zum väterlichen Freund und Mentor, Ratgeber in schwierigen akademischen Umständen zu Beginn der Laufbahn: eine Denunziation führte zum Entzug der Venia, der Rückweg nach Heidelberg, an den genuinen Ort seiner akademischen Bestimmung, war mühsam und umwegig. Der Rat des älteren Kollegen war förderlich. Der Briefwechsel ist auch aufschlußreich in der Sache: Er gibt Blicke auf das Verhältnis der großen neuzeitlichen Systeme zueinander, und das jeweilige Proprium der Philosophiegeschichtsschreibung frei, denen sich noch heute nachzugehen lohnt. Erdmann erweist sich eher als Problemhistoriker, Fischer hingegen als Biograph und Meister der Persönlichkeitsbilder. Durch das Feuer des Jüngeren mag sich der Ältere in seinem ‚Grundriß‘ noch einmal zum Aufbruch nach neuen Ufern ermuntert gesehen haben. Erdmann selbst betrachtete den ‚Grundriß der Geschichte der Philosophie‘ in einer Mischung aus Bescheidenheit und Unzufriedenheit als bloßes ‚Lehrbuch‘; es gingen jedoch die Früchte von Jahrzehnten Forschertätigkeit in dieses Manuale ein. Vor allem in der Philosophie des Mittelalters erbrachte er Pionierleistungen: hatte Hegel doch dort nur eine große Kluft konstatiert, von der eine Vielzahl von Folianten übrig geblieben sei. Das Altertum hingegen, in wenigen Wochen bewältigt, nahm er entschieden zu leicht, und hat deshalb, sehr im Unterschied zu seinem Gegner Trendelenburg, an einem Niveau- und Traditionsverlust hinsichtlich der akademischen Kenntnis antiker Philosophie Anteil, der sich im 19. Jahrhundert Bahn brach und nur durch wenige Ausnahmen, wie Paul Natorp in seinem Platon-Buch, korrigiert wurde.

Erdmann wurde nach seinen eigenen Maßstäben und denen seiner Zeitgenossen sehr alt. Er hatte am Ende die Empfindung, sich überlebt zu haben; verlor er doch nacheinander die drei Säulen, auf denen er sein Leben ruhen wußte: die geliebte Frau, die ihn mit der livländischen Jugend verband (sie starb nach langem, schweren Leiden, aufopfernd gepflegt von ihrem Gatten, im Sommer 1877), den Hörsaal (Hayms Erfolge ließen ihn sich erstmals alt fühlen) und zuletzt die Geselligkeit. Immerhin konnte er noch im Amte sein fünfzigjähriges Professorenjubiläum begehen; ein Umstand, der sich für den nachgeborenen Hochschullehrer fast so mysteriös unglaublich ausnimmt wie die Vätergeschichten des Alten Bundes. Und der Zweiundachtzigjährige verwaltete noch einmal das Dekanat. Das Ehepaar Erdmann war kinderlos geblieben (Benno Erdmann, der in der Folge von Johann Eduard Erdmanns Forschungen steht und sogar einige seiner Werke neubearbeitete, war mit ihm in keiner Weise verwandt!); umso mehr liebende Fürsorge galt dem Vetter Julius Walter, der 1875 als Professor der Philosophie nach Königsberg berufen wurde. Erdmann verstand sich in seinen letzten Jahren als „Überlebter, oder auch als letzter Mohikaner der Philosophie“. Andere sahen in ihm den treuesten Hegelianer. Am 12. Juni 1892 starb Erdmann. In einem nachgelassenen testamentarischen Schreiben an seinen Neffen hielt er fest: „Ich habe nichts zu kaschieren und von nichts ist mir, daß es bekannt werde, so wichtig, daß ich um seine Verbreitung bitten sollte. Ich bin, wie ich das oft ausgesprochen habe, eine meteorische Natur, habe darum nur in der Gegenwart und für sie gelebt, der Gedanke an die Nachwelt ist mir kaum gekommen, geschweige, daß er mich beunruhigt hätte“.

Was bleibt? Die Gediegenheit seiner Philosophiehistorie verdient, bei allen Wandlungen der Geschichtsbilder, als ebenbürtig erinnert zu werden mit den großen Historikern des 19. Jahrhunderts: Droysen, Mommsen, Ranke. Als Systematiker war er eher Epigone, der aber die Beben der neuen Zeit, vor allem im Aufkommen der Naturforschung und die politischen Erschütterungen erfaßte, in höchstem Maße eigenständig indes war er in dem Lebensthema des Verhältnisses von Religion und Philosophie, zu dem er in späten Jahren wieder zurückkehrte und in dem er (vielleicht zu Recht!) den Dreh- und Angelpunkt der klassischen deutschen Philosophie erkannte. Sein Biograph Hermann Glockner, ein ähnliches Temperament und eine ähnliche Begabung, schreibt in einer Darstellung, die Erdmann in einer Reihe ‚von ‚Klassikern der Philosophie‘ verortet, zu Recht erstaunt und nachdenklich geworden über die ‚meteorische Natur‘ eines großen Historikers: „Dieses Geheimnis einer von Universalgeschichte gesättigten ewigen Gegenwart ist das Geheimnis seiner Persönlichkeit. Es ist auch das Geheimnis der Hegelschen Philosophie“.

Jedem, der das philosophische Lehramt liebt, wird Erdmann aber eines anderen Satzes wegen unvergessen sein: Philosophie und ihre Geschichte zu lehren, das sei das Herrlichste, kein herrscherliches Regiment gebe er dafür her.

Werke: Vorlesungen über Glaube und Wissen als Einleitung in die Dogmatik und Religionsphilosophie, Berlin 1837. – Grundriß der Logik und Metaphysik. Für Vorlesungen, Halle 1841. – Philosophische Vorlesungen über den Staat, Halle 1851. – Psychologische Briefe, Leipzig 21856. – Ernste Spiele. Vorträge, theils neu, theils längst vergessen, Berlin21870. – Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichte der neueren Philosophie, Leipzig 1834-1853, 7 Bände. – Grundriß der Geschichte der Philosophie, 2 Bde, Berlin 1866. – Geschichte der Philosophie. Neudruck 1963-1970 (7 Bde.).

Lit.: Hermann Glockner, Johann Eduard Erdmann, Stuttgart 1932 (Reihe Frommanns Klassiker der Philosophie, Band XXX). – Stephan Bitter, Johann Eduard Erdmann. Kirchliche Predigt und philosophische Spekulation in der Entwicklung eines theologischen Hegelianers. Rheinbach-Merzbach 1994. – Tomas Vočka, Das Problem des Bösen in der Hegelschen Schule. Frankfurt/M. u. a. 2003.

Bild: Hermann Glockner, Johann Eduard Erdmann, Stuttgart 1932, Fr. Frommanns Verlag (H. Kurz), Frommanns Klassiker der Philosophie, Bd. XXX, Frontispiz.

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Johann_Eduard_Erdmann

Harald Seubert