Biographie

Fischer, Kuno

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Philosoph
* 23. Juli 1824 in Sandewalde, Kr. Guhrau/Schlesien
† 5. Juli 1907 in Heidelberg

Kuno Fischer ist der bedeutendste Philosophiehistoriker des 19. Jahrhunderts gewesen, dessen Entwicklung gerade unter wissenschaftsgeschichtlichen Gesichtspunkten besondere Beachtung verdient. Von ihm ist uns in Gestalt des Lebenslaufes, den der 19-jährige zur Zulassung zum Abiturientenexamen verfasst hat, ein Dokument seines Bildungsganges erhalten, aus dem sich erste wichtige Grundlagen seines späteren erfolgreichen Wirkens erkennen lassen. Der 1824 geborene Kuno Fischer war erst anderthalb Jahre alt, als er seine Mutter verlor. Die Bedeutung des Vaters für seine Entwicklung wurde dadurch noch größer. 1832 wurde Karl Theodor Fischer, Sohn eines Leinewebers in Züllichau, erster Pastor in dem unweit von Sandewalde gelegenen Städtchen Winzig, von wo aus er seit 1834 auch die Superintendentur Wohlau wahrnahm. Zunächst übernahm der Vater selbst die Erziehung Kunos und dessen drei Jahre älteren Bruders. Die „Wallfahrten“ zum Grabe der Mutter haben den Sohn ebenso tief beeindruckt wie die Hingabe des Vaters an die Bildung seiner Söhne bei zunehmenden Amtsgeschäften. Dadurch wurde zunächst das Gefühlsleben des Knaben überproportional entwickelt, und er hatte auf dem neu gegründeten Gymnasium in Posen, auf das er 1835 zur Entlastung des Vaters auf Vorschlag des als Kreis-Steuereinnehmer dort ansässigen Bruders des Vaters, der den Jungen zu sich nahm, gegeben wurde, viele schwere Jahre zu kämpfen, bis die Klarheit des Verstandes seine schwärmerischen Neigungen besiegt hatte. Gerade noch rechtzeitig habe er in seiner Entwicklung eine Stufe errungen, auf der er sagen könne, dass er vorurteilsfrei denke. „Ich sage: denke“, bekräftigt er seine Feststellung,„denn ich werde meine Interessen, welcher Natur sie auch seien, nie mehr ausschließlich vor das Tribunal des Gefühls bringen.“ Aus dieser Entwicklung ergibt sich zweierlei. Erstens hat die selbständig errungene Vorherrschaft des Verstandes seine wissenschaftlichen Fähigkeiten auf eine feste Grundlage gestellt. Zweitens aber hat diese mühsame Selbstüberwindung ein psychologisches Einfühlungsvermögen von seltener Tiefe entstehen lassen und auch die Voraussetzung für ein gezügeltes Pathos geschaffen, ja überhaupt den Sinn für dramatische Gedankenentfaltung ebenso wie für eingängige Vermittlung des Erkannten kultivieren helfen.

Die herangezogene Vita des Abiturienten zeigt darüber hinaus eine für diese Altersstufe ungewöhnliche Reife sowohl in derSelbstbeurteilung als auch in Gedankenentwicklung und sprachlichem Ausdruck. Von den großen Gegenständen, mit denen er sich später so ruhmvoll beschäftigt hat, sind hier bereits unsere klassischen Dichter neben dem Studium der Alten und der Geschichte aufgeführt. Der Philosophie gelten Hoffnung und Studienvorsatz für die Zukunft.

Nach drei überwiegend der klassischen Philologie und der Philosophie gewidmeten Studienjahren, einem Semester in Leipzig, fünf in Halle, wurde Fischer mit einer Dissertation über Platons Parmenides promoviert, brachte fast ein Jahr schriftstellernd im heimatlichen Winzig zu, ging dann als Hauslehrer zu einem Fabrikbesitzer nach Pforzheim, wo er eine Schrift über die Idee des Schönen (Diotima) veröffentlichte, und habilitierte sich 1850 an der Universität Heidelberg für Philosophie. Hier begann der junge Dozent bereits seine wirkungsvolle akademische Lehrtätigkeit vor einer stets wachsenden Zuhörerschaft. Hugo Falkenheim würdigt diese Anfänge so:„Eine ganz neuartige Kraft lebenweckender Wirksamkeit schien von den Lippen dieses redegewaltigen Lehrers auszugehen, der für jeden Gedanken mit überlegener Sicherheit den präzisesten, künstlerisch geprägtenAusdruck fand und mit nie versagendem didaktischem Takt auch die widerstrebendsten Ideenreihen entwirrte.“

Doch schon 1853 wurde seine schöne Wirksamkeit durch eine Entscheidung der badischen klerikalen Reaktion (Minister von Wechmar) abgebrochen: Die pantheistischen Gesinnungen, die man in Fischers erstem Band seiner Geschichte der neueren Philosophie, der Descartes gewidmet ist, gefunden hatte, führten zum Entzug der Lehrerlaubnis. Auch dies war für Fischer eine neue rhetorische Herausforderung (Streitschriften) und seine Bewährungsprobe im Umgang mit einer bornierten maßgebenden Umwelt. Ehe 1856 eine für die beantragte Lehrbefugnis Fischers an der Berliner Universität günstige Kabinettsordre des preußischen Königs sich auswirken konnte (weil der preußische Kultusminister von Raumer sich den Einsichten Friedrich Wilhelms IV. entgegenstellte und von der ihm dennoch erteilten Ermächtigung keinen Gebrauch machte), rettete „das kleine Jena einmal wieder die Ehre von Deutschland“, wie Alexander von Humboldt an den im Ruhestand lebenden Diplomaten Frhr. von Bunsen schrieb. Fischer trat noch 1856 sein Amt als Professor der Philosophie an der Großherzoglich Sachsen-Weimarischen Universität Jena an. Am 16. Dezember 1856 schrieb Varnhagen von Ense in Berlin in sein Tagebuch: „Professor Kuno Fischer, Jena, hält Vorlesungen mit dem größten Beifall und Zudrang … Der König hat für Kuno Fischers Zulassung an der hiesigen Universität und gegen den Minister von Raumer entschieden, aber was hilft’s? Fischer ist doch nicht hier, sondern in Jena, und Preußen hat das Nachsehen.“Bei diesem Nachsehen ist es denn auch geblieben. Als 1881 nach dem Tode des Philosophen Lotze der Ruf auf den Berliner Lehrstuhl an Fischer erging, blieb dieser in Heidelberg, wohin er nach 15-jähriger segensreicher Tätigkeit in Jena 1872 „mit Freuden“ zurückgekehrt war, „um dort zu leben und zu sterben“.

Über die Ausstrahlung Kuno Fischers als akademischer Lehrer gibt es nur eine Meinung: Sie war phänomenal. Wilhelm Windelband, der diesen Kathederfürsten in Jena gehört hatte, erinnert sich an diese Erscheinung in der Gedächtnisrede bei der Trauerfeier der Heidelberger Universität für Kuno Fischer (Heidelberg 1907) mit facettenreicher Deutlichkeit. Er stellt fest, dass Fischer jede Vorlesung zu einem Kunstwerk gestaltet habe, und fährt fort:„Mit einem glücklichen Organ, dessen voller und getragener Ton, besonders auch in der Rezitation, den Zuhörer zu ergreifen verstand, mit der feinsten Modulation des Ausdrucks, die alle Register vom schlagenden Witz bis zu weihevoller Erhebung umspannte, mit der würdevollen Haltung einer vornehmen Erscheinung erweckte er stets den Eindruck, daß in ihm ein mächtiges Temperament und eine von dem hohen Gegenstande bis in das Innerste erregte Gesinnung unter der siegreichen Macht des Gedankens zu überlegener Ruhe abgeklärt war.“ Diese Strahlkraft des noch jungen Gelehrten ließ das geflügelte Wort entstehen, dass Jena durch Kuno Fischer eine Wiederkehr der großen Zeiten von Schiller, Reinhold und Fichte erlebe. Und ein erhebender Anblick war es nach Windelbands Zeugnis für die Jenenser Studenten, wenn sie morgens um 7 Uhr den ehrwürdigen alten Vater mit dem berühmten Sohn, der den Emeritus 1864 zu sich genommen hatte, in die Logikvorlesung gehen sahen.

Lehre und Forschung standen bei Kuno Fischer in der engsten Verbindung. Da seine Forschung den großen Systematikern der Philosophie der Neuzeit von Descartes bis Hegel galt und er gerade diese Epoche des Denkens der Menschheit seinen Studenten nahebringen wollte, war die Verbindung thematisch vorbestimmt. Da nun seine Erforschung dieser Heroen der Philosophiegeschichte systematische Nachschöpfung und biographisch-genetische Entschlüsselung in einem zu sein bemüht war, bot sich für die Zusammenfassung beider Arbeitsgänge die dramatische Gestalt der Vorlesung geradezu an. Deshalb ließ er nach den ersten Jahren seiner Lehrtätigkeit nichts mehr drucken, was nicht die Probe des Verständnisses in der Vorlesung bestanden hatte. Hierdurch war er genötigt, seine Lust am klaren Ausdruck und sein Talent zu kunstvoller Verknüpfung bis zur Meisterschaft in schöpferischer Gestaltung zu entwickeln. Die Souveränität, mit der er die Fülle gesicherter Einzelheiten, auch der allgemeinen Geschichte, dem großen Gedanken eines Systems oder dem tragenden Wesenszuge eines geschilderten Charakters einzufügen und unterzuordnen wusste, vermochte die Überzeugungskraft seiner Gedanken auch dort noch zu stärken, wo der Sinn des Autors unentdeckt oder die sachliche Wahrheit unerkannt oder unbewiesen blieb. Diese Fähigkeit, die Macht über Gedanken und Worte kunstvoll zu gebrauchen, machte ihn auch zu einem geborenen Interpreten von Lessing, Schiller, Goethe und Shakespeare. Seine Faust-Vorlesungen waren Versammlungen fast der ganzen Studentenschaft. Er hat unmessbar viel dazu beigetragen, das Bewusstsein des deutschen Volkes in der Zeit der Gründung und Kraftentfaltung des Zweiten Reiches durch Kenntnis der Philosophie der bedeutendsten Epoche seit dem 4. vorchristlichen Jahrhundert und durch Vertrautheit mit den Klassikern seiner Literatur zu bilden und zu prägen.

Fischers Monumentalwerk Geschichte der neueren Philosophie hat vor allem in Gestalt der Bände über Kant und Hegel selbst durch Anstöße zu Schulbildungen epochemachend im wahrsten Sinne des Wortes gewirkt. Nach dem Erscheinen seines Kantbuches, das freilich viel mehr eine unterstützende als eine veranlassende Funktion hatte, entstanden die beiden Schulen des Neukantianismus (die Marburger und die südwestdeutsche), und nach Fischers zweibändigem Hegel entstand unter Schützenhilfe des südwestdeutschen Neukantianismus der Neuhegelianismus, der trotz Unterbrechung durch Phänomenologie, philosophische Anthropologie und Existentialismus bis heute als eine durch Mehrdeutigkeit besonders beliebte Form des deutschen Idealismus fortlebt. Die Wirkung gerade dieser Bücher ist auch unter inhaltlichen Gesichtspunkten kein Wunder, weil Fischer in seinem eigenen Denken kantische und hegelsche Elemente verknüpft hat. Aber die meisterliche Form in Aufbau und Ausdruck hat gewiss auch hier die Wirkung entscheidend gefördert.

Schon in Jena und bei Hofe in Weimar auch als Festredner geschätzt, war Fischer schließlich ein „Wahrzeichen“ Heidelbergs durch drei Jahrzehnte als Lehrer seiner Studenten in seinen Vorlesungen, als „praeceptor Germaniae“ durch seine Bücher, als gesuchter Repräsentant der Heidelberger Alma mater bei großen Anlässen und als lebendiges Zeugnis für den Sieg der Freiheit in Forschung und Lehre im 19. Jahrhundert in Deutschland.

Lit.: Hugo Holstein, Aus Kuno Fischers Studienzeit, in: Neue Jahrbücher für Pädagogik XIV (1904), S. 509-520. – Deutscher Nekrolog 12 (1909), S. 255-272. – Kuno Tiemann: Kuno Fischers Kampf gegen die Reaktion, in: Deutsche Rundschau 1925, S. 52ff. – Bruno Bauch, Kuno Fischer, in: Schlesische Lebensbilder 5 (1928), S. 504-511. – Edith Selow, Kuno Fischer, in: NDB 5 (1961), S. 119.

Bild: Wikipedia.

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Kuno_Fischer

Eberhard Günter Schulz