Es gibt zahlreiche Komponistinnen nun Komponisten, welche durch regionale und zeitgebundene Erfolge in das Karteiwesen der Musik gelangten und unbeachtet weitergeführt werden. Ihre Rezeptionsgeschichte besteht im Fortschreiben des wenigen, bereits Vorliegenden. Zu diesem Kreis gehört auch Hermann Franke, der lexikalisch noch im 21. Jahrhundert erfasst ist. Sein genaues Todesdatum ist nicht überliefert.
Hermann Franke verbrachte die Schulzeit wohl in seinem Geburtsort Neusalz/Oder. Er studierte dann bei Adolf Bernhard Marx in Berlin, dessen Kompositionsunterricht, musikjournalistisches und musikmethodisches Schrifttum ihm den Weg zu eigenem breitem Wirken wies. Nach kurzer Zeit als Kantor in Crossen/Oder kam er 23-jährig in die Kreisstadt Sorau. Sorau war als Reichsgräflich Promnitzsche Residenzstadt durch den Musiktheoretiker und Kantor Wolfgang Caspar Printz und das Wirken von Georg Philipp Telemann als Hofkapellmeister des Grafen Erdmann von Promnitz eine Stadt mit musikalischer Vergangenheit. 200 Ouvertüren im französischen Stil hatte Telemann in Sorau komponiert, auch hatte er als Begleiter des Grafen Erdmann bei Reisen nach Krakau und in die oberschlesischen Besitzungen polnische und hanakische Volksmusik kennengelernt, Eindrücke, die er in sein Schaffen immer wieder wirkungsvoll aufnahm.
Franke war in Sorau als Klavierlehrer, Kirchenmusiker sowie Gesangslehrer am Gymnasium und an der höheren Töchterschule tätig. 1869 wurde er Kantor der Hauptkirche St. Marien, wo er über Jahrzehnte den Gemischten Chor und den Evangelischen Kirchenchor leitete und auch größere oratorische Werke aufführte. Außerdem war er Dirigent des Bürger-Gesangvereins.
Schon mit den ersten Kompositionen knüpfte er an seine praktischen Tätigkeiten an. Es entstanden erste instruktive Klavierstücke, die in dem bekannten Breslauer Verlag C.F. Hientzsch erschienen. Die 6 Kinderstücke op. 2 hatte er dem berühmten Klavierpädagogen Louis Köhler (Braunschweig 1820-1886 Königsberg) „hochachtungsvoll zugeeignet“, der mit seinen Klavierstücken für den Unterricht Franke wohl Vorbild war und einen größeren Teil seiner früheren Kompositionen ausmachen: 6 Klavierstücke für die Jugend op. 3, Märchenbuch – 8 leichte Stücke op. 12, Zum Vorspielen – 20 kleine charakter. Tonbilder op. 16, 3 Sonatinen op. 28, Tanzkränzchen – 6 leichte Tanzweisen op. 37 u.a. Manche Stücke fanden Aufnahme in Sammelwerke. Lokalgeschichtlich interessant ist der Druck der Klavierstücke Der Abschied op. 24 und Schön‘ Ellen op. 25 in einem Sorauer Verlag namens Linke.
Auch seine Tätigkeit als Gesangslehrer am Gymnasium zeigt sich in entsprechenden Sammlungen, wie Zur Hausmusik. Liederalbum für die Jugend mit 50 Liedern nach Hoffmann von Fallersleben und anderen norddeutschen Dichtern des Aufschwungs wie Ernst Moritz Arndt, Klaus Groth, Hans Ferdinand Maßmann. Noch umfangreicher war die Sammlung Das Kirchenjahr – 52 Sprüche und Motetten zum Gebrauche von Kirchen- und Schulchören op. 74 (Vieweg Bln.-Lichterfelde). Größeren Anteil am Schaffen hatten weltliche Chöre, entsprechend seiner Tätigkeit mehr Männerchöre. Erwähnt seien ca. 35 Klavierlieder, teils mit zwei Stimmen (je Zehn Gesänge op. 30, op. 70).
Franke betätigte sich auch als Rezensent, nicht nur für die Sorauer Zeitung. 1867 erschien sein Handbuch der Musik in dem schlesischen Großverlag Flemming in Glogau, das als vorzüglichstes der kleineren Musiklexika gerühmt wurde; zu nennen ist noch Vortrag des Liturgischen Gesanges, ein Handbuch für evangelische Geistliche (Lpz. 1891).
Für seine großen Verdienste um das Musikleben der Stadt Sorau als deren Musikautorität über viele Jahre und seine überregionale Bekanntheit als Komponist, einige Werke erhielten Preise, wurde er 1883 zum Kgl. Musikdirektor ernannt.
Ein Meisterwerk ist die Sonate g-moll op. 69 für Violoncello und Klavier (Hientzsch/ Breslau), die durch weitere Auflagen bei Ries & Erler /Berlin bekannt wurde. Es ist ein Werk, das im musikalischen Schwung und in Erzählfreudigkeit den Mendelssohnschen Cellosonaten nicht nachsteht, mit seinem östlichen Kolorit eigene Wege aufzeigt und mit tänzerischer Gebärde auch auf die Cellosonate g-moll von Chopin verweist. Man würde dieser Sonate, die den Komponisten Hermann Franke staunenswert artikuliert, gerne öfter im Konzertsaal begegnen. Zu überprüfen wäre, ob sich weitere Werke solcher Qualität in seinem Schaffen finden. Bezüglich der Kammermusik wäre noch das Klaviertrio C-Dur op. 27 zu erwähnen, ein elegantes Werk, mehr Gesellschaftsmusik als Hausmusik, das im Variationssatz das deutsche Volkslied Wenn ich ein Vöglein wär … mit einer polnischen Mazurka verbindet; verdienstvoll die Einspielung des Malinconia-Ensembles Stuttgart (Label Cornetto).
Frankes Oratorium Isaaks Opferung op. 75 für Soli, gemischten Chor, Gemeindegesang, Orgel und Harmonium hatte zu seiner Zeit gewisse Bekanntheit erreicht. Das Werk entstand aus dem Bestreben, den Gemeindegesang stärker in den Gottesdienst einzubeziehen und das sentimentale Kirchenlied zu verdrängen, im Sinne jener evangelischen Kirchenmusikbewegung, die u. a. von dem Theologen Friedrich Zimmer (1855-1919) angeregt und in dessen in der Königsberger Zeit veröffentlichter Denkschrift über die Einführung von Oratorien mit Gemeindegesang (1885) verdeutlicht wurde. Es war auch eine Gegenbewegung zur Dominanz der „Oratorien im Frack“. In Zimmers 14bändiger Sammlung von Kirchenoratorien und Kantaten, die 1886 bis 1896 bei Breitkopf & Härtel Leipzig prominente Drucklegung erfuhr, erschien auch Frankes Werk. Weitere Komponisten der Reihe waren u. a. der Königsberger Domorganist Konstanz Bernecker (Darkmehnen 1844-1906 Königsberg), der Theorieprofessor Reinhold Succo (Görlitz 1837-Breslau 1897) sowie der Königsberger Musikdirektor Robert Schwalm (Erfurt 1845-1912 Königsberg).
Frankes Oratorium Isaaks Opferung op. 75 entstand wohl auf Veranlassung von Zimmer, aus dessen Feder die Textvorlage stammt. Die Zueignung „Dem Andenken an meinen Sohn Felix Franke“ weist auf ein tragisches Geschehen, das sinnfällig die Thematik des Werkes widerspiegelt. Dies erklärt auch das Ende von Frankes heiterem, unbeschwerten Komponieren. Er wandte sich dann mit mehreren Motetten-Zyklen ausschließlich geistlicher Chormusik zu. Erkennbar ist, dass er in den 1890er Jahren das Komponieren einstellte, wohl auch in Folge der schnell fortschreitenden Entwicklung der Spätromantik, die seine postmendelssohnsche Stilistik zurückfallen ließ.
Franke hatte mit seinen Kompositionen, belegt sind ca. 100 gedruckte Opera, zu seiner Zeit durchaus Erfolg; ein großer Bestand hat sich in der Berliner Staatsbibliothek erhalten. Das abgelegene Sorau mit seinen kleinen Verhältnissen führte zu Beschränkungen im Wirken und kompositorischen Schaffen, bei großer Arbeitsbelastung und wirkte sich nicht nur im Bezug zur schlesischen Metropole Breslau, sondern auch in den Entfernungen zu den anderen Musikzentren Berlin und Sachsens nachteilig aus, trotz seiner Beziehungen zu Verlegern an verschiedenen Orten oder zu Kollegen, wie z.B. die Widmung „Herrn Dr. W. Rust in Hochachtung“ seiner Motetten op. 71 von 1884 an den Leipziger Thomaskantor oder Briefe an den Herausgeber der Schweizerischen Musikzeitung Arnold Niggli belegen. Besonders das Fehlen einer Lehrstelle mit Schülerschaft an einem Großstadtkonservatorium wirkte sich negativ auf eine Rezeption aus.
Ein Wesenszug ist uns durch den Dichter Christian Morgenstern überliefert, der seit 1890 in Sorau aufs Gymnasium ging und über Franke als wichtige Bezugsperson berichtete. In einer für ihn schwierigen Zeit konnte er von seinem Musiklehrer Zuwendung erfahren und mit ihm Spaziergänge machen, in vertraulichem, generationenübergreifendem Gespräch – sozusagen zwischen abgeklärter und aufbrechender Künstlerschaft. Aus dieser Begegnung spricht Frankes Hinwendung und Gesprächsfähigkeit zur nachkommenden Generation; dies belegen ja auch seine zahlreichen Kompositionen für die Jugend. Franke hatte Morgenstern nicht aus den Augen verloren – eine letzte Reminiszenz war Das Königskind op. 91 für Männerchor (erschienen 1907) nach Morgenstern.
Lit.: Div. Musiklexika. – Max Hesses Deutscher Musiker-Kalender 1900, Leipzig 15. Jg., S. 441. – Franz Pazdirek, Universal-Handbuch der Musikliteratur usw., 1904-1910, Werkverz. S. 508-511. – Emil Engelmann, Geschichte der Stadt Sorau, Sorau 1936, S. 39. – Bernward Speer, Hermann Franke, in Schlesisches Musiklexikon, hrsg. Lothar Hoffmann-Erbrecht, Augsburg 2002, S. 171f. – Helmut Scheunchen, Hermann Franke Klaviertrio op. 27 in Beiheft CD Malinconia – Werke für Klaviertrio. – Malinconia-Ensemble Stuttgart, Label Cornetto Stuttgart 2006. – Udo W. Acker, Christian Morgenstern und Sorau, in: Schlesischer Kulturspiegel 45. Jg. 2010, H. 1, S. 21f.
Friederike Scheunchen