Biographie

Freymann, Walter

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Komponist
* 12. November 1886 in Riga/Livland
† 27. September 1945 in Lager bei Moskau

Walter John Alexander Freymann erhielt früh Klavierunterricht und auch bald Unterricht in musiktheoretischen Fächern bei dem Pädagogen und auch als Komponist tätigen Robert Müller und wirkte im Kinderchor des Rigaer Stadttheaters mit. Nach dem Abitur am Nikolai-Gymnasium in Riga immatrikulierte er sich zum Jura-Studium an der Universität Dorpat. Während der Studienzeit setzte er seine musikalische Ausbildung bei dem Dorpater Musikdirektor Rudolf Griwing fort. Nach Beendigung des Studiums ließ er sich 1911 als Rechtsanwalt in Riga nieder. 1912 trat er in den Staatsdienst, war seit 1928 Appellhofrichter und Vorsitzender der Palate in Riga, außerdem seit 1932 Dozent für Arbeitsrecht am Herder-Institut. 1917 hatte er Wera Marie Rudolf (1890-1967) geheiratet, eine ausgebildete Sängerin, welche in jüngeren Jahren Gesangsunterricht erteilte. 1922 wurde die Tochter Ingeborg und 1924 der Sohn Gerhard geboren.

Freymanns erste Kompositionsversuche gingen in die Kindheit zurück. Seine Gnomentänze von 1908 tragen bereits die Opus-Zahl 17. Er hat die Zählung jedoch früh aufgegeben und die Werke nur noch datiert. Neben den im jugendlichen Sturm und Drang entstandenen Opernversuchen nach eigenen Texten Gundhild (1904) undFriedmund und Siegrunde(1908), welche sich fragmentarisch erhalten haben, hat sich Freymann zunächst der Klaviermusik, und dieser in kleinerer Form, zugewandt. Der spätromantische Stil seiner Jugendwerke ist von starker Expressivität, außerdem sind früh Wesensmerkmale zu erkennen, welche in Freymanns gesamten Schaffen auffallend sind, eine besondere, in gewisser Weise komplizierte Harmonik, dann die von ihm häufig verwendete rhythmische Disposition des Verlängerns bzw. des Verkürzens, um den Schwerpunkten des Taktes auszuweichen, sowie eine vornehme Verhaltenheit mit der Bevorzugung unterer dynamischer Bereiche. Die Begegnung mit seiner Frau führte ihn zum Klavier-Lied, so daß vierzig Lieder seine lyrische Begabung belegen, welche ihn, mit mehreren Werken nach eigenen Texten, auch in die Tradition der deutschbaltischen Liedschule stellen, zu deren typischen Eigenheiten der Dichter-Komponist gehört. Neben einigen deutschbaltischen Autoren (Bruno Mellin, Alexander Arbusow und anderen) bevorzugte er für seine Lieder Christian Morgenstern, den wohl meistvertonten Dichter in der deutschen Musik des 20. Jahrhunderts.

Mit der Klaviermusik bildet die Kammermusik einen Schwerpunkt in Freymanns Schaffen, diese in klassischen Formationen wie Klavier-Trio, Klavier-Quartett und Streichquartett, aber auch in besonderen Besetzungen, mit dem WerkSkirnirsfahrtfür Streich-Trio und Harfe von 1917 und dem Divertimento amabile für Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello und Klavier (1937). Sein freier Umgang mit der Tonalität, der ihn ins Bi- bzw. Polytonale führte, und rhythmische Besonderheiten, die zunächst weniger auf ausgeprägten diesbezüglichen Interessen beruhten, sondern häufiger die Konturen verschleiern sollten, machten ihn zu einem Impressionisten. Als Repräsentant dieser Stilrichtung in der deutschen Musikgeschichte sollte er genannt werden.

Am 5. April 1922 trat Freymann im Schwarzhäuptersaal in Riga erstmals mit eigenen Werken an die Öffentlichkeit. Auf diesen ersten Komponistenabend eines deutschbaltischen Komponisten in dem neugegründeten Staat Lettland folgte für Freymann trotz begrenzter Möglichkeiten eine Zeit erfüllten Schaffens. Enge Freundschaft verband ihn mit dem Komponisten Hans von Dercks (1885-1947), mit welchem er mehrere gemeinsame Konzerte veranstaltete. Als Leiter der Musikabteilung der Rigaer Goethe-Gesellschaft und als Mitbegründer des Rigaer Kammermusikvereins suchte er dem zeitgenössischen deutschbaltischen Musikschaffen ein Podium zu schaffen. Es gab gemeinsame Konzerte mit mehreren in Lettland ansässigen deutschbaltischen Komponisten – neben Hans von Dercks seien Alexander Maria Schnabel und Gerhard Kroeger genannt – oder auch mit den komponierenden Chordirigenten Egon Friedrich, Alfred Kirschfeld, Theodor Weidenbaum und Walter Conradi. Aber es wurden auch Werke deutschbaltischer Komponisten, die in Deutschland wirkten, aufgeführt, wie von Elsa von Oettingen oder Kurt von Wolfurt. 1933 erschienen bei Neldner in Riga in KommissionDrei Lieder für mittlere Stimme, die einzige noch nachweisbare Drucklegung zu seinen Lebzeiten. Die MusikzeitschriftSignale für die musikalische Welt berichtete darüber: „Die Feinheit und Echtheit ihres Gefühlsgehalts werden die Lieder dem Hörer nahe bringen“. In den 30er Jahren entstanden umfangreiche Kammermusikwerke, denen in zunehmendem Maße das Bemühen um eine modernere Tonsprache anzumerken ist. Das rhythmische Element tritt stärker hervor und ein immer freier werdender Umgang mit der Tonalität ist auffallend. Dies führte dann auch zu kontroversen Leserbriefen über seine Werke in der Rigaer Presse: „In der hiesigen Musikwelt hat der Kompositionsabend von W. F. große Meinungsverschiedenheiten hervorgerufen … Und obgleich unser Ohr an solche Töne nicht gewöhnt ist, muß doch die eigenartige Schönheit in der Atonalität der Werke anerkannt werden.“

Die Umsiedlung der Deutsch-Balten 1939 führte die Familie nach Barth/Pommern, dann nach Posen. 1942 wurde Freymann Richter für Zivilsachen in Berlin. Seine letzte Lebenszeit war überschattet von den Abgründen dieser Jahre. Nach dem Verlust der Heimat kam das hoffnungslose Warten auf den Sohn Gerhard, der seit 1943 vermißt war. In den letzten Lebensjahren entstand nur noch weniges, vorwiegend Werke für Violoncello und Klavier, welche er seinem Sohn widmete. Am 9. Juni 1945, also bereits nach Kriegsende, wurde er – er war in diesen Wochen als Dolmetscher verpflichtet – nach Rußland verschleppt. Nach 17 Jahren erhielten seine Angehörigen eine knappe Nachricht vom sowjetischen Roten Kreuz, daß Walter Freymann noch 1945 in einem Lager bei Moskau verstorben sei. Seine letzte große Hoffnung, nach dem Krieg seine Werke veröffentlichen zu können, sollte sich nicht mehr erfüllen.

Die Wohnung Freymanns in der Rembrandtstraße im Berliner Stadtteil Friedenau wurde nicht zerstört, und so hat sich der größere Teil seines kompositorischen Schaffens erhalten. 1986, im Rahmen der Baltischen Kulturtage auf Burg Stettenfels, fand nach annähernd 50 Jahren erstmals wieder eine Aufführung eines Freymannschen Werkes statt, zum 100. Geburtstag des Komponisten. Es war auch die erste Aufführung außerhalb seiner Heimat. Gleichfalls aus diesem Anlaß konnte eine kleine Monographie vorgelegt werden. Inzwischen sind in schon fast zahlreich zu nennenden Konzerten große Teile seines Schaffens mit Erfolg vorgestellt werden, was im wesentlichen ein Verdienst des Malinconia-Ensembles Stuttgart ist. 1988 konnte die Drucklegung des Divertimento amabile von 1937 in Verbindung mit dem Institut für Ostdeutsche Musik Bergisch Gladbach bei der Edition Gravis erfolgen. Walter Freymann ist in der deutschbaltischen Musikgeschichte zu einer wahrnehmbaren Gestalt geworden, und er wird in dem sich diesem Gebiet zuwendenden Schrifttum genannt, inzwischen auch in der lettischen Musikwissenschaft.

Werke: Chorwerke, Lieder, Kammermusik, Klaviermusik, Spieloper Lelia (1939), alle Werke Manuskript bis auf: Drei Lieder (Neldner Riga 1933) u. Divertimento amabile f. Flöte, Klarinette, Violine, Violoncello u. Klavier (Edition Gravis Bad Schwalbach 1988, hrsg. H. Scheunchen)

Lit.: H. Scheunchen: Walter Freymann – Leben und Werk, Kleine Monographien zur dtsch.-balt. Musikgeschichte, Esslingen/Burg Stettenfels 1986. – ders.: Vorwort Divertimento amabile s.a.o. – ders.: Die Musikgeschichte der Deutschen in den baltischen Landen, Dülmen 1990, S. 165. – div. Rigaer Zeitungsartikel der 20er und 30er Jahre.

Helmut Scheunchen