Adolph Hermann Friedmann stammt aus einer baltischen Familie, deren Vorfahren wahrscheinlich im 16. Jahrhundert als Flüchtlinge aus Deutschland eingewandert waren; der Großvater hatte noch den alten litauischen Namen „Bjelostozkij“ geführt, der Vater – ein angesehener Finanzfachmann in Riga – nahm dann den Familiennamen „Friedmann“ an. Hermann Friedmann hat die rein biologische Herkunft immer für sekundär gehalten, doch war Deutsch die Muttersprache seiner Kindheit und er selbst sagt in seiner Autobiographie Sinnvolle Odyssee (S. 14): „Ich bin durch die Fügung meines Lebens und aus freier Wahl ein deutscher Denker und Diener am deutschen Schicksal geworden“.
Nach dem Abitur in Riga 1890 begann Hermann Friedmann ein breit angelegtes Studium am Polytechnikum in Riga sowie an den Universitäten Dorpat, Heidelberg, Basel, Jena und Berlin. Nachdem er 1897 in Heidelberg den juristischen Doktorgrad erworben hatte, wirkte er, mittlerweile verheiratet, in Basel als Rechtsanwalt von 1889 bis 1902, dem Jahr, in dem er in Genf auch zum Dr. phil. promoviert wurde. Von seinem juristischen Lehrer E.J. Bekker und von keinem geringeren als Ernst Haeckel veranlasst, sich den Naturwissenschaften und der Philosophie zu widmen, ging er nach Berlin, wo er im Giordano-Bruno-Bund Wilhelm Bölsche, E. v. Hartmann und Rudolf Steiner kennenlernte sowie im Friedrichshagener Dichterkreis u.a. den Brüdern Carl und Gerhart Hauptmann, R. Dehmel, F. Wedekind, A. Strindberg begegnet sein muss. Nicht zufällig stehen neben frühen lyrischen Arbeiten bis in die späten Jahre eigene literaturgeschichtliche Beiträge und Editionen literaturwissenschaftlicher Sammelwerke (z.B. zum Expressionismus).
Von 1906 bis 1934 war Hermann Friedmann in Helsinki tätig und beriet als Experte für internationales Recht zunächst den russischen Generalgouverneur in Finnland, dann die finnische Regierung im Genfer Völkerbundsrat, zugleich aber auch wichtige Industrieunternehmen. An der Universität Helsinki (Helsingfors) erhielt er einen Lehrauftrag für Philosophiegeschichte, was seine wiederaufgenommenen Bemühungen in der systematischen Philosophie ergänzte. Hatte er 1904 mit einer originellen Außenseiterposition in der biologischen Entwicklungslehre noch deutlich spezialwissenschaftliche Ziele verfolgt, so gelingt ihm jetzt die Vereinigung seiner universalistischen Interessen (die von Biologie und Anthropologie über die musikalische Harmonielehre bis zu Relativitätstheorie und Astronomie reichen) in dem ersten seiner beiden großen Hauptwerke, das unter dem Titel Die Welt der Formen 1925 erschien. Es erregte damals bedeutendes Aufsehen und erlebte schon 1930 eine revidierte und erweiterte zweite Auflage.
Der Autor ist sich selbst darüber im Klaren, dass er es seinen Lesern und Leserinnen schwer macht: die nicht im Bereich einer Einzelwissenschaft Tätigen werden durch die vielfach eingestreuten Formeln und Tabellen leicht abgeschreckt, der Wissenschaftler wiederum wird den nicht weniger zahlreichen Zitaten aus der Dichtung(z.T. sogar der antiken, etwa der Odyssee) mit Mißtrauen begegnen. Tatsächlich aber ist eines der Ziele Friedmanns die Überbrückung der – erst weit später mit diesem Schlagwort bezeichneten – „zwei Kulturen“. Diese sieht er gekennzeichnet durch „zwei verschiedene Arten […], den Dingen gegenüber zu treten“, eine analytisch-wissenschaftliche, und eine synthetisch-integrale,„mehr philosophische“ (S. VIII). Scheint es zunächst, als ob sich der Unterschied auf den der mechanistischen gegenüber einer morphologischen, gestaltbezogenen Erkenntnisweise reduziere, so zeigt die genauere Untersuchung, dass der Unterschied zwar in zwei prinzipiell andersartigen Begriffsbildungen sichtbar wird, den „haptischen“ und den „optischen“ Begriffen, dass aber die durch diese Termini nahegelegte Bindung an„Tastsinn“ und „Sehsinn“ missverständlich ist. Beide Bereiche binden sich vielmehr an scheinbar unversöhnliche Arten von Metaphysik, und eines der Anliegen Friedmanns ist es, den Weg zu einem Erkenntnis (und insbesondere wissenschaftliche Erkenntnis) fundierenden Zusammenwirken von Psychologie, Logik und Metaphysik aufzuzeigen. Er selbst hat ausgesprochen, dass ihn diese Einsicht von seinen „als eine Anknüpfung an die idealistische Morphologie der vordarwinschen Epoche begonnenen Arbeiten“ (S. IX) zu dem jetzt vertretenen (und im Untertitel des Werkes so bezeichneten)„morphologischen Idealismus“ geführt hat; Friedrich Kuntze hat dieses System schon 1929 umsichtig und in vielem weiterführend dargestellt. Im Vorwort zur 2. Auflage 1930 betont Friedmann, wie sehr es ihm darum gehe, einerseits zwar in seiner Argumentation den Forderungen wissenschaftlicher Strenge zu genügen, andererseits aber einer Wissenschaft zu dienen, die „lebenswichtig und sozial bedeutsam“(S. XI) ist. Nicht ohne Grund also lautet die Überschrift des ersten Kapitels (beider Auflagen) „Die Verbundenheit von Wissenschaft und Leben“. Diese Verbindung versucht Friedmann als Leitgedanken in allen drei Teilen des Werkes zur Geltung zu bringen, die unter den Titeln Psychologie der Form,Logik der Form und Metaphysik der Form stehen. Natürlich lassen sich deren mehr als 500 Seiten hier nicht in wenigen Zeilen zusammenfassen; zumindest in den Blick bringen lassen sich jedoch die hinter den Schlagworten des „Haptischen“ und des „Optischen“ stehende Idee und die Vision Friedmanns, wie durch ihre Überwindung die Defizite, ja die Krise der europäischen Wissenschaft jener Zeit (wie sie z.B. Edmund Husserl diagnostiziert und Karl Jaspers in Die geistige Situation der Zeit 1931 für das allgemeine Krisenbewusstsein mitverantwortlich gemacht hat) behoben werden könnten.
Die Dominanz der Haptik (also der durch die Sinnlichkeit der Tasterlebnisse charakterisierten Zugangsweise) in der selektionistischen Entwicklungslehre wie auch in der klassischen Sinnesphysiologie verdankt sich dem vorausgegangenen Siegeszug der Atomistik und der analytischen Mechanik. Biologie wird zu „Physik und Chemie der Zelle“ (S. 28), alle Form gilt als „etwas Sekundäres […], ein nicht analysiertes Phänomen“(ebd.), für das es eine Erklärung geben muss und daher geben wird – sofern wir als Physiologen„Physiker im Kleinen“werden und „das Gesetz, nach dem die Kräfte zwischen den Zellelementen wirken“, ebenso genau erkennen „wie Galilei und Newton das Fallgesetz und das Anziehungsgesetz erkannt haben“ (S. 31). Leser und Leserinnen des soeben begonnenen 21. Jahrhunderts werden ohne viel Mühe eng verwandte Sichtweisen in Trends der gegenwärtigen physiologischen und mikrobiologischen Forschung ausmachen können.
Friedmann sucht demgegenüber zu zeigen, dass unbeschadet der Gesetzmäßigkeit des Haptischen ein von ihm als „optisch“ bezeichneter Bereich von Kategorien existiert und berücksichtigt werden muss; schon die Formwahrnehmung eines gewöhnlichen optischen Eindrucks aus haptischen Eindrücken erklären zu wollen, sei, als wollte man ein Gemälde aus der Dynamik der Pinselbewegungen„begreifen“(S. 31). Es gibt sozusagen eine Kausalität des Gemäldes, über welche die Beschaffenheit der Leinwand und der Chemismus der Farbe noch nicht das Geringste sagt; „das Gemälde [gehorcht] in der Richtigkeit der Perspektive, in der Harmonie seiner Farben, in der Folgerichtigkeit aller Gruppenbeziehungen einer anderen, einer optischen Kausalität […], die in einem anderen Bereiche liegt als die Logik des Tastsinnes“ (ebd.).
Natürlich schließen sich Haptik und Optik nicht aus, doch umfasst oder überformt die Optik die Haptik und bringt für unsere Lebenswelt ebenso wie für eine umfassende wissenschaftliche Erkenntnis entscheidende Kategorien allererst hinzu. Den Übergang zwischen beiden Bereichen schafft eine„Transformationslogik“, die uns mit der Erschließung der (nun in einem metaphorischen Sinne) „optischen“ Erkenntnis auch Zugang zu „tektonischen und Gestaltbildungen von eigenartiger Freiheit und Gesetzmäßigkeit verschafft“ (S. 66). So erfährt nicht nur die autonome Wissenschaftlichkeit der sog. Geisteswissenschaften (wie in unserem Beispiel die Kunstwissenschaft und die Kunstgeschichte) ihre Fundierung, vielmehr ergibt sich auch, da haptische wie optische Elemente in fast allen Disziplinen nebeneinander wirksam sind, eine eindrucksvolle Bereicherung von Wissenschaft überhaupt.
Der Nachweis im Detail, die Konzeption eines diesen Einsichten angemessenen philosophischen Systems und der darauf aufbauende metaphysische Entwurf sind Gegenstand von Wissenschaft und Symbol, dem zweiten Hauptwerk Friedmanns. Dieser war 1934 von Finnland nach England gegangen, wo er 1946 den Vorsitz der 1934 konstituierten deutschen PEN-Gruppe (von emigrierten „Poets, Essayists and Novelists“) übernahm und so das ab 1948 in Deutschland existierende PEN-Zentrum vorbereitete, dessen Präsidium er ebenfalls angehörte. 1950 nahm Friedmann seinen Wohnsitz in Heidelberg, wo er 1951 zum Honorarprofessor an der Universität ernannt wurde und bis zu seinem Tode 1957 blieb. Seine Diagnose des„Wissenschaftszeitalters“, die er später in Epilegomena (1954) noch vertiefte, führt Friedmann 1949 in Wissenschaft und Symbol zu Reflexionen darüber, wie unsere durch Symbolarmut auf einen höchst wirkmächtigen, aber zweifellos auch isolierten Bereich des kulturellen Lebens beschränkte Wissenschaft universale Bedeutung gewinnen oder wiedergewinnen könnte. Offensichtlich ist dabei die semantische Mehrwertigkeit mancher von Friedmann verwendeten Begriffe: „Perspektive“ etwa hat nicht bloß einen mathematischen Gehalt, sondern auch einen vielfältig einsetzbaren abstrakten (metaphorischen) Sinn, und zweifellos auch einen kunstbezogenen. Friedmann nennt Begriffe „symbolnah“, wenn sie „kunstnah“ und „religionsnah“ sind, d.h. über ihren Anschauungsgehalt hinaus auf Kunst und Religion zielen, zwei Kulturbereiche, die ebenso wie Wissenschaft nicht aus dem Leben stammen und unverbunden und vereinzelt dastehen. Es geht Friedmann also nicht nur um die Einheit der Wissenschaft (von der er einmal sagt, dass sie das eigentümliche Thema seines Lebens geworden sei), sondern viel weiter gehend um eine symbolnahe Wissenschaft, die herkömmliche Wissenschaft, Kunst und Religion zu einer Einheit verschmilzt, wie wir sie allenfalls noch im Denken A.N. Whiteheads finden, des wohl bedeutendsten Metaphysikers des 20. Jahrhunderts. Dieser hätte zweifellos große Sympathien gehabt für Friedmanns Einfall, den Menschen, den der Kosmos einst hervorgebracht hat und der sich diesem nun erkennend zuwendet, als „fünfte Dimension“ neben die drei Raumdimensionen und die vierte Dimension Zeit zu stellen. Für die Zuordnung zwischen Mensch und Kosmos, die für Friedmann „nicht sekundär (etwa durch biologisch-historische Anpassung des Menschen an den Kosmos) entstanden sein kann, sondern deren uranfängliche, ontologische Existenz der Grund für die Existenz jeglichen Seins und Geschehens ist“ (Epilegomena, S. 66), hat Friedmann den Ausdruck„Anthropokosmos“ eingeführt. Nach M. Büttner vollzieht Friedmann in diesem Rahmen mit der als „Transformation“ bezeichneten Akzentverlagerung vom Haptischen ins Optische zugleich einen Übergang von wertfreier zu wertender Betrachtung (Büttner 1961, S. 458), und skizziert die Möglichkeiten zur Entwicklung unserer Kulturen und Gesellschaften in Richtung auf eine gleichberechtigte und friedliche Koexistenz aller Menschen.
Nicht nur die viele Leser überfordernde Überfülle von Themen, historischen Exkursen und einzelwissenschaftlichen Details in Friedmanns Büchern, auch die politischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts haben das Werk dieses originellen Philosophen und Universalgelehrten der ursprünglich erhofften Wirkung beraubt. 1931 hatte der Naturphilosoph Bernhard Bavink Friedmanns Die Welt der Formen zu den Werken gerechnet,„die wie die Kantische Vernunftkritik oder Platons Dialoge
auch dann noch gelesen werden, wenn die Zeit längst zu neuen Fragestellungen und Antworten übergegangen sein wird“; es sei „eines der klassischen Werke der Philosophie unserer Epoche und wird es bleiben“ (Bavink 1931, S. 167). Daraus, dass Friedmanns Werk diesen hohen Platz in der europäischen Geistesgeschichte nicht errungen hat, folgt nicht, dass es ihn nicht verdient gehabt hätte. Wer sich die ökonomischen, politischen und religiösen Fundamentalismen unserer Zeit samt ihren Folgen vor Augen führt, wird einen Denker vom Range Hermann Friedmanns schmerzlich vermissen und sich zumindest eine „Wiederentdeckung“ seines Werkes wünschen.
Werke: Die Konvergenz der Organismen. Eine empirisch begründete Theorie als Ersatz für die Abstammungslehre. Gebr. Paetel: Berlin 1904. – Die Welt der Formen. System eines morphologischen Idealismus. Gebr. Paetel: Berlin 1925, C.H. Beck: München 21930 (veränd. u. erg.). – Wissenschaft und Symbol. Aufriß einer symbolnahen Wissenschaft. C.H. Beck: München o. J. [Vorwort datiert „Ende 1948“], Biederstein Verlag: München 1949. – Sinnvolle Odyssee. Geschichte eines Lebens und einer Zeit. 1873-1950. C.H. Beck: München 1950. – Epilegomena. Zur Diagnose des Wissenschafts-Zeitalters. C.H. Beck: München 1954. – Das Gemüt. Gedanken zu einer Thymologie. C.H. Beck: München 1956.
Lit.: Friedrich Kuntze, Der morphologische Idealismus. Seine Grundlagen und seine Bedeutung. C.H. Beck: München 1929. – Bernhard Bavink, Rezension von H. Friedmann, „Die Welt der Formen“, in: Unsere Welt. Illustrierte Zeitschrift für Naturwissenschaft und Weltanschauung, 23. Jg., Heft 6 (Juni 1931), S. 161-168. – Hans-Georg Gadamer, Hermann Friedmann † 25. Mai 1957, in: Ruperto-Carola. Mitteilungen der Vereinigung der Freunde der Studentenschaft der Universität Heidelberg e.V., 9. Jg. (Band 22, 1957), S. 11-12. – Manfred Büttner, Friedmann, Adolph Hermann, Neue Deutsche Biographie 5 (Berlin 1961), S. 457-458.
Bild: Tita Binz; Quelle: H. Friedmann, Sinnvolle Odyssee (op. cit. gegenüber der Titelseite).
Christian Thiel