Biographie

Fühmann, Franz

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
Beruf: Schriftsteller
* 15. Januar 1922 in Rochlitz an der Iser
† 8. Juli 1984 in Berlin

Der Lyriker und Erzähler Franz Fühmann aus dem böhmischen Riesengebirge galt im DDR-Literaturbetrieb als Musterbeispiel eines geläuterten und politisch umerzogenen Faschisten.

Geboren als Apothekersohn in Rochlitz an der Iser, einem nördlichen Nebenfluss der Elbe, besuchte er nach der Volksschule 1928/32 vier Jahre das Jesuitenkonvikt Kalksburg bei Wien und 1936/39 das Realgymnasium in Reichenberg, wo er 1937 Mitglied der Schülerburschenschaft „Hercynia“ wurde. Später urteilte er über seine Kindheit und Jugend, er sei aufgewachsen in einer „Atmosphäre von Kleinbürgertum und sudetendeutschem Faschismus“. Die Stadt Reichenberg am Oberlauf der Görlitzer Neiße, die 1930 knapp 40 000 Einwohner hatte, galt als größtes Industriezentrum und kultureller Mittelpunkt der Sudetendeutschen, die überwiegend in den Randgebieten Böhmens und Mährens siedelten. Sie war auch der Geburtsort des um ein Jahr jüngeren Kinderbuchautors Otfried Preußler (1923), der mit seinen Romanen Der kleine Wassermann (1956), Der Räuber Hotzenplotz (1962) und Krabat (1971) berühmt geworden war.

Franz Fühmann legte 1941, nachdem er 1939 in Reichenberg nicht versetzt worden war, am Realgymnasium in Hohenelbe das Notabitur ab und wurde im gleichen Jahr zur „Wehrmacht“ eingezogen. Das Siedlungsgebiet der 3,6 Millionen Sudetendeutschen war schon am 1./2. Oktober 1938 von der deutschen „Wehrmacht“ annektiert und am 14. April 1939 als „Reichsgau Sudetenland“  dem „Dritten Reich“ angegliedert worden. Fast vier Jahre war der Abiturient ohne Beruf Soldat einer Nachrichtentruppe, die im besetzten Griechenland und in der Ukraine eingesetzt war. Bei Kriegsende 1945 geriet er im Protektorat „Böhmen und Mähren“ in sowjetrussische Gefangenschaft, wurde dort zum „Antifaschisten“ umerzogen und 1947 auf die „Antifaschule“ in Ogre/ Lettland geschickt, wie zur gleichen Zeit auch der Lyriker Johannes Bobrowski (1917-1965) aus Tilsit in Ostpreußen nach Noginsk bei Moskau. Acht Wochen nach der DDR-Gründung am 7. Oktober 1949 wurde Franz Fühmann aus einem Kriegsgefangenenlager in Lettland nach Weimar in Thüringen entlassen, wo inzwischen die 1946 ausgesiedelte Mutter mit der Schwester lebte. In einer offiziellen Einschätzung seiner politischen Arbeit im Lager vom 10. November 1949 konnte man lesen: „Fühmann hat vollständig mit seiner faschistischen Vergangenheit gebrochen. Durch systematisch intensive Arbeit an sich selbst eignete er sich gut vdie Theorie des Marxismus-Leninismus an und wendet seine theoretischen Erkenntnisse sowohl in der Praxis seiner täglichen Unterrichtsarbeit als auch in seinen literarischen Werken an.“

Nach seiner Rückkehr trat er in die am 25. Mai 1948 gegründete „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ (NDPD) ein, deren Vorsitzender damals der aus Gleiwitz in Oberschlesien stammende Lothar Bolz (1903-1986), der spätere DDR-Außen­minister 1953/65, war und die in der DDR-Parteienlandschaft als Sammelbecken für unbelastete Nationalsozialisten und Mitläufer diente. Hier arbeitete er 1950/58 als Kulturfunktionär im Parteiapparat, den Austritt vollzog er 1972, von seiner Partei furchtbar enttäuscht. Von 1958 an, als er 36 Jahre alt geworden war, bis zu seinem Krebstod 1984 arbeitete er als freischaffender Autor, der auch in Westdeutschland zunehmend Aufmerksamkeit und Anerkennung fand. Er wurde schon 1955 mit dem „Vaterländischen Verdienstorden“ ausgezeichnet,1956 mit dem „Heinrich-Mann-Preis“, zweimal, 1957 und 1974, mit dem „Nationalpreis“, 1963 mit dem „Johannes-R.-Becher-Preis“ und 1964 mit dem FDGB-Kunstpreis, auch der Münchner „Geschwister-Scholl-Preis“ wurde ihm 1982 für sein Buch Der Sturz des Engels. Erfahrungen mit Dichtung (1982) zugesprochen.

Franz Fühmanns literarisches Schaffen begann mit dem Gedichtband Die Fahrt nach Stalingrad (1953) und der Novelle Kameraden (1955). Daneben hat er seit 1959 auch Kinderbücher veröffentlicht und antike Stoffe bearbeitet. Seine essayistische Prosa ist, außer in dem 1982 ausgezeichneten Buch, in den Bänden Erfahrungen und Widersprüche. Versuche über Literatur (1975) und Meine Bibel. Erfahrungen (1983) gesammelt. Sein Beitrag zur Literaturbewegung „Bitterfelder Weg“ vom 24. April 1959 war die Reportage von der Rostocker Warnow-Werft Kabelkran und Blauer Peter (1961) und seit 1974 die Arbeit unter Tage im Mansfelder Bergbaurevier. Der Aufforderung des Staates „Schriftsteller in die Betriebe!“ hat er sich jedenfalls nicht entzogen, aber bereits am 24. März 1964, im Vorfeld der zweiten „Bitterfelder Konferenz“ vom 24./25. April 1964, in einem „Brief an den Minister für Kultur“ (gemeint war DDR-Kulturminister Hans Bentzien) dem staatlichen Ansinnen Grenzen gesetzt: „Ich werde diesen Roman nicht schreiben. Weder liegt mir der Roman als Genre, noch glaube ich, jemals in der Lage zu sein, die differenzierten Gestalten der Arbeiter heute und hier in ihren Lebensmilieus, ihren Gedanken, Träumen, Wünschen, Sehnsüchten, Glücks- und Leidempfindungen so prall und poetisch echt darstellen zu können … Ich kenne sie, die Arbeiter, dafür viel zu wenig, und der üblich gewordene Weg: in einen Betrieb gehen und dort längere, auch lange Zeit mit einer Brigade zu arbeiten … fügt den ersten schönen und tiefen Erlebnissen der Begegnung von Schriftsteller und Arbeiter zu wenig neue Erlebnisse und Erfahrungen hinzu, als dass sich der große Aufwand an Zeit noch rentiere, auch wenn man den Betrieb wechselt, wie ich es getan habe, kommt man doch schließlich einmal an eine Grenze, die nicht mehr zu überschreiten ist, obwohl jenseits noch weites Land liegt.“

Im Schaffen Franz Fühmanns war der „Bitterfelder Weg“ nur eine Sackgasse! Die Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus 1933/45 und ihren Folgen war und blieb das vorherrschende Thema. So erschienen 1962, ein Jahr nach dem Mauerbau in Berlin, sowohl der ErzählungsbandeDas Judenauto als auch die Novelle Böhmen am Meer, die historisch aufeinander bezogen sind und miteinander korrespondieren. Nach den Kriegserzählungen Kameraden (1955) und Stürzende Schatten (1959) war Das Judenauto der dritte Prosaband, der der Auseinandersetzung mit „Krieg und Faschismus“ diente. Hier beschrieb der Autor in autobiografischen Erzählungen das Schicksal der durch den Nationalsozialismus verführten Generation, der er selbst angehörte. Die Erlebnisse, die den Ich-Erzähler einst aufgewühlt und für sein Leben geprägt haben, werden aus wechselnder Perspektive geschildert: aus der des Kindes, des Oberschülers, des Soldaten, des Kriegsgefangenen, des Heimkehrers. In der Novelle Böhmen am Meer, in deren Titel eine Metapher Shakespeares zitiert wird, ist eine weitere Perspektive benannt, die des aus seiner Heimat ausgesiedelten Sudetendeutschen! Franz Fühmann greift hier also das Thema „Heimatverlust“ auf, das ihn selbst betraf. Es ist ein schwierig zu interpretierendes Prosastück, weil der Autor sich damals schon aus den ideologischen Vorgaben seines Staates zu lösen begann, was in den Text eingeflossen war, zugleich aber auch das Erwartungsmuster eines vertriebenenkritischen Textes, nämlich die Verurteilung des westdeutschen „Revanchismus“, zu erfüllen versuchte. Auch hier tritt ein Ich-Erzähler auf, der 1955 zur Sommerfrische an die Ostsee fährt und dort bei Hermine Traugott wohnt, einer 40-jährigen Sudetendeutschen, die auf ihn einen verstörten Eindruck macht. Das Ärgerliche ist nun nicht, dass sie zufällig aus einem Nachbarort des Dorfes im Riesengebirge stammt, wo auch der Erzähler geboren wurde, sondern dass sie ihm, nach anfänglichem Zögern, eine merkwürdige Geschichte aus dem Jahr 1940 erzählt, die vielleicht stimmt, aber zur Verdammung des „Revanchismus“ kaum ausreicht. Damals fuhr sie als „Dienstmädchen“, wie es im „Dritten Reich“ hieß, mit dem Baron von L., der sie offensichtlich geschwängert hatte, und seiner Familie an die Nordsee und wurde sofort entlassen, als ihre Schwangerschaft ruchbar wurde. Anderthalb Jahrzehnte später, im Jahr 1955, ist dieser Bösewicht Funktionär der 1950 gegründeten „Sudetendeutschen Landsmannschaft“ und tritt auf einem Heimattreffen in Westberlin auf. Höchst folgerichtig das alles, soll der DDR-Leser denken: erst Frauenschänder, dann Revanchist! Man kann diese Novelle aber, die schon am 19. August 1961, sechs Tage nach dem Mauerbau, in der SED-Zeitung „Neues Deutschland“ vorabgedruckt wurde, als Psychogramm des Autors lesen, der in beiläufigen Sätzen verrät, dass für ihn das Thema „Flucht und Vertreibung“ noch nicht abgeschlossen ist: „Die Vergangenheit war noch nicht vergangen; solange noch einer nach dem Warum der Umsiedlung fragte, war die Vergangenheit nicht vergangen.“ Aber sofort nach diesem Satz wird ein sozialistisches Biedermeier mit gedeckter Kaffeetafel und Blick aufs Meer geschildert und die aufgeworfene Frage zugedeckt. Hermine Traugotts 15-jäh­riger Sohn, die Frucht jener Vergewaltigung, kommt „den Dünenweg heruntergesprungen“, noch nass vom Meerwasser, ein „großer, frischer, schöner Junge mit lachendem Gesicht“, bei dessen Anblick, so will es der Autor, sich jede weitere Frage verbietet.

In Stichworten könnte man das Leben Franz Fühmanns so beschreiben: als Kind in der böhmischen Heimat war er frommer Katholik; als junger Mann vor und nach 1938 bis zum Kriegsende 1945 überzeugter Nationalsozialist, der als Soldat für seinen „Führer“ kämpfte; als Erwachsener seit der „Umerziehung“ in der Kriegsgefangenschaft bis zum XX. Parteitag der KPdSU 1956 gläubiger Stalinist. Danach war er bis 1984 ein desillusionierter, von zwei Ideologien enttäuschter Schriftsteller, der seine psychischen Verwundungen, seine Traumata, literarisch verarbeitete.

Nach einer Phase von Alkoholsucht und einem Kollaps gewann er zunehmend Einsichten in die politische Praxis des Staates, dessen Bürger er seit 1949 war, und wurde zum scharfen DDR-Kritiker. Auch deshalb förderte er junge Autoren, die einen unverstellten Blick für die Wirklichkeit besaßen und offen ihre oppositionelle Einstellung bekannten wie Wolfgang Hilbig (1941-2007) und Uwe Kolbe (1957). Als Franz Fühmann seine Krise überwunden hatte, nannte er das Jahr 1968 seinen „eigentlichen Eintritt in die Literatur.“ Aber auch dieses Datum hatte seine Vorgeschichte! Wer den Gedichtband Die Richtung der Märchen (1962) aufmerksam liest und nach autobiografischen Bezügen sucht, wird auch hier schon Andeutungen des „unerträglichen Widerspruchs“ finden, mit dem er lebte und dichtete. Dass dieser Zwiespalt lyrisch nicht zu bewältigen war, zeigte sich auch darin, dass der Autor nach vier Gedichtbänden verstummte. Er schrieb danach nur noch Erzählungen und Essays.

In den vier Erzählungen Der Jongleur im Kino oder Die Insel der Träume (1970), die den Untertitel trugen Studien zur bürgerlichen Gesellschaft, beschrieb Franz Fühmann, wie ein sensibles Kind in die Lebens- und Denkweise hineinwächst, die den Nährboden für den aufkeimenden Nationalsozialismus abgab, auch in Gebieten wie Danzig, Österreich und dem Sudetenland, die erst Jahre nach der „Machtergreifung“ 1933 dem „Dritten Reich“ einverleibt wurden. Der Jenaer Germanist Hans Richter, der selbst Sudetendeutscher ist, hat diese Phase 1968/76 in Franz Fühmanns Schaffen als „fortwährenden Gerichtstag eines besessenen Schreibers“ bezeichnet. In der Tat ist auch das Tagebuch einer Reise nach Ungarn Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens (1973) eine Abrechnung mit der eigenen Vergangenheit, wobei mit den Worten „jene Erschütterung vom August 1968“ der Einmarsch der Staaten des „Warschauer Pakts“ in die Tschechoslowakei am 21. August 1968 angedeutet wird. In den Erzählungen des Bandes Saiäns-Fiktschen (1981) dagegen gerät die bedrängende DDR-Wirklichkeit ins kritische Blickfeld des Autors.

In den letzten Jahren vor seinem qualvollen Ende versuchte er, die engen Grenzen „sozialistischer Erbe-Rezeption“ zu sprengen, griff mit Nacherzählungen altgriechischer und germanischer Stoffe weit aus in Antike und Mittelalter und setzte sich intensiv mit den Gedichten des als „dekadent“ geltenden Lyrikers Georg Trakl (1887-1914) auseinander; niedergeschrieben ist das alles in dem Essay Vor Feuerschlünden. Erfahrung mit Georg Trakls Gedicht (1982), der in Westdeutschland unter dem Titel Der Sturz des Engels. Erfahrungen mit Dichtung (1982) erschien. Auch mit einer anderen „Nachtgestalt“ der deutschen Literatur hat sich Franz Fühmann beschäftigt, mit dem Werk des in Königsberg/ Preußen geborenen E.T.A. Hoffmann (1776-1822), auf den er zum 200. Geburtstag am 24. Januar 1976 in der Ostberliner „Akademie der Künste“ eine Rede hielt und einen Vortrag im DDR-Hörfunk. Sein drei Jahre später über den Dichter und preußischen Beamten veröffentlichtes Buch hieß Fräulein Veronika Paulmann aus der Pirnaer Vorstadt oder Etwas über das Schauerliche bei E.T.A. Hoffmann (1979). Aus dem Nachlass herausgegeben wurden die Erzählungen Das Ohr des Dionysios (1985), die Textsammlung Im Berg (1991) mit dem Bericht eines Scheiterns (126 Seiten) über seine Arbeit im Kupferbergbau von Sangerhausen, der für das Werkverständnis aufschlussreiche Band Briefe 1950-1984 (1994) mit 606 Seiten und der Briefwechsel mit Christa Wolf (1995).

Die „Staatssicherheit“ hatte Franz Fühmann seit 1977, also die sieben Jahre bis zu seinem Tod, unter dem operativen Vorgang „Filou“ erfasst und in Ostberlin, wo er wohnte, wie auf seinem Wochenendgrundstück in Märkisch Buchholz, wo er auch bestattet ist, und auf der Leipziger Buchmesse observiert; die elf Bände 1977/84 umfassen 3644 Seiten.

Werkausgaben: Werke in sieben Bänden, herausgegeben von Ingrid Prignitz, Hinstorff-Verlag, Rostock 1993.

Lit.: Erich Loest, Franz Fühmann. Paderborner Vorlesungen, Paderborn 1986. – Uwe Wittstock, Franz Fühmann, München 1988. – Hans Richter, Franz Fühmann. Ein deutsches Dichterleben, Berlin 1992. – Barbara Heinze, Franz Fühmann. Eine Biographie in Bildern, Dokumenten und Briefen, Rostock 1998. – Gunnar Decker, Franz Fühmann. Die Kunst des Scheiterns. Eine Biografie, Rostock 2009.

Bild: Archiv der Kulturstiftung

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Franz_F%C3%BChmann

Jörg Bernhard Bilke