Biographie

Fuhrmann, Horst

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Historiker
* 22. Juni 1926 in Kreuzburg/Oberschlesien
† 9. September 2011 in Steinebach am Wörthsee

Gustav Freytag, der große schlesische Schriftsteller, beschließt seine Bilder aus der deutschen Vergangenheit mit einer Charakterisierung des Schlesiers: "Zu ernster, versponnener Anlage kam dem Schlesier etwas von der leichten Sorglosigkeit der Slawen und von ihrer Virtuosität, die ganze Lebenskraft im Genuß des Augenblicks zu konzentrieren. Daraus entstand ein lebhaftes Volk von gutmütiger Art, heiterem Sinn, genügsam, höflich und gastfrei, eifrig und unternehmungslustig … sehr geneigt, Fremdes auf sich wirken zu lassen … Alles, was man auf Erden werden kann, wird der Schlesier mit Leichtigkeit: Engländer, Amerikaner, Russe, Minister und Seiltänzer, fromm und gottlos, reich und arm!"

Diese Palette erweiterte der Schlesier Horst Fuhrmann um eine weitere, nicht unwichtige Variante: Er ist Historiker geworden, genauer gesagt: Mittelalter-Historiker. Mit der dem Schlesier eigenen Leichtigkeit stieg er in den Olymp der Mediävistik auf, als er 1971 zum Präsidenten des bedeutendsten Instituts zur Erforschung des Mittelalters, der Monumenta Germaniae Historica (MGH), gewählt wurde, zu dessen Gründungsvätern im Jahre 1819 kein Geringerer als der Reichsfreiherr vom und zum Stein gehört hatte.

Dabei wollte Fuhrmann gar nicht Historiker werden. Seine naturwissenschaftliche Ausrichtung ließ ihn zunächst andere, luftige Höhen anstreben: eigentlich wollte er Flugtechnik studieren, was jedoch nach 1945 völlig undenkbar war. Also schrieb er sich nach seiner Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft und Ablegung des "richtigen" Abiturs zum Sommersemester 1946 für die Fächer Rechtswissenschaft, Geschichte und Klassische Philologie an der Universität Kiel ein. Seine Studien schloß er 1952 mit der Promotion zum Dr. phil. und 1954 mit dem 1. Staatsexamen in den Fächern Geschichte und Latein ab. Im selben Jahr trat er als erste Station seiner wissenschaftlichen Laufbahn die Stelle eines Mitarbeiters am Institut der Monumenta Germaniae Historica in München an. Nach Kiel zurückgekehrt, übernahm er dort 1957 eine Assistentenstelle am Historischen Seminar. Im Wintersemester 1960/61 habilitierte er sich für die Fächer "Mittlere und Neuere Geschichte und Historische Hilfswissenschaften". Sein erster Ruf führte ihn 1962 auf den Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Tübingen. Mit seiner Berufung zum Präsidenten der MGH übernahm er 1971/72 auch eine ordentliche Professur für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Regensburg, die er bis zu seiner Emeritierung im Sommersemester 1993 innehatte.

Fuhrmanns wissenschaftliches Wirken ist auf vielfältige Weise anerkannt und gewürdigt worden: durch die Verleihung von Preisen ("Premio Spoleto" 1962; "Cultore di Roma" 1981), von Ehrendoktoraten (Dr. jur. h.c., Tübingen 1981; Dr. phil. h.c., Bologna 1982; Dr. in letters Columbia University/New York 1992) und von öffentlichen Auszeichnungen (Orden Pour le mérite 1986; Bundesverdienstkreuz 1987), durch die Mitgliedschaft in zahlreichen in- und ausländischen Akademien, Instituten und Historischen Kommissionen sowie durch die Übertragung bedeutender Ämter in der Wissenschaftsorganisation (Vorsitz des Kuratoriums der Stiftung "Historisches Kolleg" 1984; Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften seit 1.1.1992). Die inhaltliche, zeitliche und räumliche Bandbreite seines mehr als 200 Veröffentlichungen umfassenden wissenschaftlichen Oeuvres zeugt davon, daß Horst Fuhrmann in allen Epochen der Geschichte gleichermaßen zu Hause ist. Aus seinen Arbeiten zur mittelalterlichen Geschichte ragen drei Schwerpunkte heraus: Papsttum, Kirche und Recht im Mittelalter. Nicht ganz zufällig lautet so auch der Titel der ihm 1991 zum 65. Geburtstag gewidmeten Festschrift seiner Mitarbeiter und Schüler.

Fuhrmanns Interesse an der Geschichte des Papsttums als "einer ins Transzendentale reichenden Institution" ist vor allem durch einen mehrmonatigen Romaufenthalt als Mitarbeiter der MGH und Stipendiat des Deutschen Historischen Instituts entscheidend gefördert worden. Er ist ein lebender Beweis für die große Faszination, die dieses Thema auf Protestanten auszuüben vermag, von denen manche dieses historische Phänomen –  erinnert sei nur an Leopold von Ranke und Johannes Haller –  auf geradezu kongeniale Weise zu erfassen und zu durchdringen verstehen. Fuhrmann hat sich seinem Gegenstand methodisch auf ganz unterschiedliche Weise genähert: quellenkundlich –  durch eine Analyse der päpstlichen Selbstzeugnisse, der Briefe und Urkunden und ihrer Wirkung, ekklesiologisch –  durch die Frage nach den Grundlagen und der Entwicklung des päpstlichen Kirchen- und Amtsverständnisses, rechtlich –  durch den Nachweis der Bedeutung von Recht und Rechtswissenschaft für die Begründung der päpstlichen Suprematie und die Durchsetzung ihrer politischen und religiösen Forderungen. Ein Papst hat Horst Fuhrmann vor allen anderen immer wieder als historische Persönlichkeit fasziniert: Gregor VII. (1073-1085), dessen Name nicht nur an den Bußgang König Heinrichs IV. nach Canossa und an den sogenannten Investiturstreit erinnert, sondern auch mit einem fundamentalen Eingriff in die damalige Weltordnung verbunden bleibt: der Entsakralisierung des deutschen Königtums.

Der Anspruch Gregors VII. und seiner Nachfolger auf den Vorrang der päpstlichen vor der weltlichen Gewalt und alleinige Vertretung Christi auf Erden ("Der wahre Kaiser ist der Papst") erscheint uns heute als antiquiert und typisch mittelalterlich. Doch Fuhrmann betont in seinen Arbeiten zur Papst- und Kirchengeschichte gleichermaßen die Kontinuität und das Fortleben mittelalterlicher Phänomene, etwa bei der Papstwahl, die in wesentlichen Bestandteilen (z.B. Konklave, Zweidrittelmehrheit) auf das 12. und 13. Jahrhundert zurückgeht, oder hinsichtlich der Bedeutung des Ökumenischen Konzils für die Universalkirche, dessen zwanzigstes, das erste Vatikanum von 1869/70, durch die damals verkündeten Dogmen des Universalepiskopats und der Unfehlbarkeit des Papstes "als verwirklichtes Mittelalter" erscheint.

Daß die geschilderten päpstlichen Ansprüche auf den innerkirchlichen Primat und den Vorrang vor jeglicher weltlichen Gewalt im Kern auf gefälschten Rechtssätzen basierten, hat Horst Fuhrmann durch eine Vielzahl einschlägiger Studien vorgeführt und nachgewiesen. Sein VortragDie Fälschungen im Mittelalter auf dem Deutschen Historikertag in Duisburg 1962 hat eine fruchtbare, noch nicht abgeschlossene Diskussion ausgelöst, die vor allem nach der "Wahrheit der Fälscher", nach ihrem Selbstverständnis, der Funktion und der Wirkung ihrer Falsifikate fragte. Als vorläufiger Höhepunkt darf der von ihm angeregte erste internationale Kongreß der MGH über "Fälschungen im Mittelalter" im September 1986 gelten.

Am Beispiel der beiden berühmtesten Fälschungen des Mittelalters – der 847/52 entstandenen Pseudoisidorischen Dekretalen, einer Sammlung falscher Papstbriefe von Anaklet I. († 88) bis Gregor II. († 731), und der zwischen 754 und 847/52 gefälschten Konstantinischen Schenkung, die die angebliche Übertragung Roms und der westlichen Hälfte des Römischen Reiches mitsamt der kaiserlichen Insignien durch Kaiser Konstantin auf Papst Sylvester I. dokumentiert – verdeutlichte Fuhrmann, wie das Papsttum diese zur Untermauerung und Erweiterung seiner Autorität gegenüber Königtum und Episkopat seit etwa 1050 einsetzte. Ihr Erfolg beruhte nicht auf einer laxen Wertung von Lüge und Betrug, sondern darauf, daß sie  –  gemäß der Maxime "das Geeignetere gilt uneingeschränkt" –  einer eigentlichen, "höheren Wahrheit" dienten und damit die göttliche Ordnung bewahrten oder wiederherstellten.

Doch wer glaubt, Horst Fuhrmann habe sich darauf beschränkt, "seine Seriösität nur durch einige schwer lesbare Bücher, durch diffizile Texteditionen und durch die Behandlung abseitiger Themen in fachwissenschaftlichen Organen" unter Beweis zu stellen, irrt. Sein schier überschäumendes Temperament und die Lust, Geschichte und Geschichten durch Wort und Bild anschaulich zu machen, haben ihn immer wieder leichten Herzens veranlaßt, sich auf unterschiedliche Weise dem allgemeinen Interesse an Geschichte zu stellen. In zahlreichen öffentlichen Vorträgen und populär gehaltenen Büchern hat er einem großen, internationalen Publikum "sein" Mittelalter vorgestellt, das in jeder Zeile sein sichtliches Vergnügen an Geschichte widerspiegelt. Kein anderer deutscher Historiker hat durch die ihm eigene Erzählkunst und durch treffend ausgewählte Beispiele so den Leser und Zuhörer in seinen Bann zu ziehen und sein Verständnis für die Andersartigkeit des Mittelalters zu erwecken gewußt wie er.

Das Bild von dem Historiker und Menschen Horst Fuhrmann bliebe unvollständig wenn wir nicht auch seine Beziehungen zu Ostdeutschland, insbesondere Schlesien erwähnten. Seine schlesische Herkunft hat er nie verleugnet, doch haben seine berufliche Beanspruchung und die politischen Zustände lange Zeit eine Beschäftigung mit Geschichte und Kultur Schlesiens verhindert. Diese fast 50jährige Pause hat er in der Folgezeit mehr als wett gemacht. Seiner Geburtsstadt Kreuzburg hat er gleich auf zweierlei Weise ein Denkmal gesetzt, wobei ihm sein Spürsinn als mittelalterlicher Quellenforscher zu Hilfe kam. In Breslau entdeckte er die lange verschollene Gründungsurkunde Kreuzburgs von 1253. Ein im Staatsarchiv Basel gefundenes Konvolut von 30 Briefen des Schweizers Johann Oeri, Neffe des berühmten Historikers Jakob Burckhardt, den es zwischen 1868 und 1870 als Lehrer ins oberschlesische Landstädtchen Kreuzburg verschlagen hatte, nahm Fuhrmann in seinem Buch "Fern von gebildeten Menschen". Eine oberschlesische Kleinstadt um 1870 (München 1989) als Grundlage für einen "köstlichen Einblick in das bunte Leben Kreuzburgs"um 1870 aus dem Blickwinkel eines weitgereisten Schweizers.

Möge Horst Fuhrmann im Sinne von Gustav Freytag noch lange "Fremdes auf sich wirken lassen" und uns mit der bekannten schlesischen "Leichtigkeit des Seins" und seiner Virtuosität im Umgang mit der Geschichte immer wieder in Erstaunen versetzen!

Werke: Studien zur Geschichte mittelalterlicher Patriarchate, T. 1, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 39, 1953, S. 112-176; T. 2, 40, 1954, S. 1-84; T. 3, 41, 1955, S. 95-183. –  Konstantinische Schenkung und abendländisches Kaisertum. Ein Beitrag zur Überlieferungsgeschichte des Constitutum Constantini, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 22, 1966, S. 63-178. – Das Constitutum Constantini (Konstantinische Schenkung). Text, hg. von H. Fuhrmann (Monumenta Germaniae Historica. Fontes iuris Germanici antiqui 10), Hannover 1968. – Einfluß und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen. Von ihrem Auftauchen bis in die neuere Zeit. 3 Teile (Schriften der MGH 24, 1-3), Stuttgart 1972-1974. –  Das Reformpapsttum und die Rechtswissenschaft, in: Investiturstreit und Reichsverfassung (Vorträge und Forschungen 17), Sigmaringen 1973, S. 175-203. –  Deutsche Geschichte im hohen Mittelalter von der Mitte des 11. bis zum Ende des 12. Jahrhunderts (Deutsche Geschichte 2), Göttingen 31993. –  Von Petrus zu Johannes Paul II. Das Papsttum: Gestalt und Gestalten, München21984. –  Papst Urban II. und der Stand der Regularkanoniker, München 1984. –  Einladung ins Mittelalter, München41989. – Pour le mérite. Über die Sichtbarmachung von Verdiensten. Eine historische Besinnung, Sigmaringen 1992.  –  "Wer hat die Deutschen zu Richtern über die Völker bestellt?" Die Deutschen als Ärgernis im Mittelalter, in: Matinee im Bayerischen Landtag 3, München 1994, S. 12-27.

 

  Hubertus Seibert