Biographie

Gabert, Volkmar

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
Beruf: Politiker
* 11. März 1923 in Dreihunken/ Böhmen
† 19. Februar 2003 in Unterhaching

In den Abendstunden des 20. November 1966 schien Bayern kurz vor dem Machtwechsel zu stehen. Schon im Vorfeld der Landtagswahlen hatten Meinungsforscher der alleinregierenden CSU den Verlust ihrer absoluten Mehrheit prognostiziert. Für diesen Fall waren die beiden Oppositionsparteien im bayerischen Parlament, SPD und FDP, bereits eine Koalitionsvereinbarung eingegangen. Die Programmatik der geplanten sozial-liberalen Regierung stand ebenso fest wie die personelle Zusammensetzung des Kabinetts; selbst seine erste Regierungserklärung hatte der designierte Ministerpräsident schon fertiggestellt. Es sollte freilich anders kommen: Im Laufe der Wahlnacht stellte sich heraus, dass die CSU ihre Landtagsmehrheit wider Erwarten behalten würde. Dennoch hatte die bayerische SPD mit 35,8 Prozent der Stimmen ihr bestes Nachkriegsergebnis bei Landtagswahlen erzielt.

Dies erscheint umso bemerkenswerter, als der sozialdemokratische Spitzenkandidat, der damals beinahe Ministerpräsident des Freistaates Bayern geworden wäre, selbst gar kein Bayer war: Volkmar Gabert war am 11. März 1923 in Dreihunken bei Teplitz-Schönau in Böhmen geboren worden. Seine Heimat wurde wirtschaftlich von der Kohle-, Eisen- und Glasindustrie, politisch von der Arbeiterbewegung dominiert. In Kleinaugezd, dem späteren Wohnort der Familie, erreichten die Sozialdemokraten bei Wahlen bis zu 70 Prozent der Stimmen. Gaberts Vater, Oberlehrer und zeitweise Bürgermeister der Gemeinde Dreihunken, war selbst Mitglied der Deutschen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (DSAP), die in der Tschechoslowakischen Republik die (sudeten-)deutsche Arbeiterschaft vertrat. Volkmar Gabert wuchs dadurch schon früh in die vielfältige Arbeiterkultur der Region hinein; so engagierte er sich unter anderem bei den Falken, der Sozialistischen Jugend, dem Arbeiter-Turn- und Sportverband und der Naturfreunde-Bewe­gung.

Gaberts Jugend fiel jedoch in eine Zeit, in der die Sozialdemokratie europaweit immer stärker unter Druck geriet. Insbesondere im Deutschen Reich war sie ab 1933 härtester Verfolgung durch die Nationalsozialisten ausgesetzt – eine Entwicklung, die auch die sudetendeutschen Genossen betraf. Schon in frühester Jugend beteiligte sich Volkmar Gabert am Schmuggel von Schriften des sozialdemokratischen Exilvorstands in Prag, die über die sächsische Grenze ins Reich gelangten. Aufgrund der zunehmenden Verschärfung der Wirtschaftskrise in den 1930er Jahren verloren die Sozialdemokraten freilich auch auf der böhmischen Seite des Erzgebirges immer mehr an Boden.

Mit dem „Anschluss“ des Sudetenlandes an das Deutsche Reich im September 1938 sahen sich Gaberts Vater und sein älterer Bruder unmittelbar der Gefahr einer Verhaftung und Einlieferung ins Konzentrationslager ausgesetzt. Die gesamte Familie entschloss sich daher zur Emigration, zunächst ins Landesinnere nach Prag, schließlich nach Großbritannien. Dort arbeitete Volkmar Gabert als Landwirtschaftshelfer, Monteur und Dreher, blieb aber auch politisch aktiv. Als Mitbegründer und erster Vorsitzender der „Sudetendeutschen Sozialistischen Jugend in Großbritannien“ wurde er zugleich Mitglied im Exilvorstand der sudetendeutschen Sozialdemokratie, wodurch er bereits in jungen Jahren zahlreiche Kontakte zu führenden Politikern des deutschen Exils und der britischen Labour Party herstellen konnte. Die Versuche der sudetendeutschen Sozialdemokraten, bei den Westalliierten gegen die Vertreibungspläne der tschechoslowakischen Exilregierung zu intervenieren, waren indes nicht erfolgreich.

Nach Kriegsende bemühte sich Gabert, möglichst schnell nach Deutschland zurückzukehren, was ihm zunächst als Dolmetscher der US-amerikanischen Besatzungstruppen gelang. In München kam er bald in Kontakt mit Emil Werner und Alois Ullmann, die dort eine der ersten westdeutschen Anlaufstellen für Flüchtlinge und Vertriebene aufgebaut hatten. Ullmann organisierte auch die Transporte sudetendeutscher Sozialdemokraten aus der Tschechoslowakischen Republik nach Bayern, im Zuge derer Arbeiter gezielt in Industrieregionen angesiedelt wurden. Die bayerische SPD, die zeit ihres Bestehens unter der geringen Ausprägung des einheimischen Arbeitermilieus gelitten hatte, erfuhr dadurch eine deutliche strukturelle Stärkung. Im Rahmen seiner Flüchtlingsarbeit veröffentlichte Gabert außerdem die ersten unzensierten Berichte über die Vertreibung der Sudetendeutschen.

1948 schied Volkmar Gabert aus der amerikanischen Armee aus und wurde hauptberuflich Referent für Flüchtlingsfragen beim SPD-Bezirk Oberbayern, zugleich Bezirksvorsitzender der oberbayerischen Jungsozialisten. Dem schloss sich eine schnelle politische Karriere an: Ab 1950 Landesvorsitzender der Jusos und Mitglied des Landtags, wurde Gabert 1962 zum Vorsitzenden der Landtagsfraktion und 1963 zum Vorsitzenden der bayerischen SPD gewählt. Ganz im Sinne des Godesberger Reformprogramms trat er dabei für eine Öffnung der Sozialdemokratie gegenüber allen gesellschaftlichen Schichten ein. Auch wenn es Volkmar Gabert damit letztlich nicht gelang, die Mehrheit der Wähler für sich zu gewinnen, übte die SPD unter seiner Führung doch erheblichen Einfluss auf die Politik der bayerischen Staatsregierung aus.

Viele der Reformen, die die SPD anstieß, waren durch den Zustrom der Flüchtlinge und Vertriebenen nach Bayern notwendig geworden. Das dadurch erheblich vergrößerte Arbeitskräftepotential, welches sich durch einen hohen Anteil an gewerblich und industriell ausgebildeten Arbeitern auszeichnete, bildete eine wichtige Grundlage für die Entwicklung Bayerns vom Agrar- zum Industriestaat. Die SPD drang darauf, diesen Strukturwandel durch die Instrumente der Landesplanung und Raumordnung staatlich zu steuern – ein Bemühen, auf das die CSU durch die Errichtung eines Staatsministeriums für Landesentwicklung und die erstmalige Aufstellung eines Landesentwicklungsplans in den 1970er Jahren schließlich mit Verzögerung reagierte.

Die Ankunft der Vertriebenen hatte Bayern auch in konfessioneller Hinsicht verändert. Hatte es vor 1945 noch zahlreiche konfessionell homogene Regionen gegeben, so bestand in den 1960er Jahren keine einzige Gemeinde mehr, die bekenntnismäßig einheitlich gewesen wäre. Da der Volksschulunterricht in Bayern laut Gesetz nach Konfessionen getrennt erteilt wurde, machte diese Situation den Unterhalt zahlreicher Klein- und Kleinstschulen erforderlich. Dem setzte die SPD das Konzept der „christlichen Gemeinschaftsschule“ entgegen, das den ge­mein­samen Volksschulunterricht für Angehörige beider Konfessionen vorsah. Da die Staatsregierung eine entsprechende Reform ablehnte, initiierte Volkmar Gabert ein Volksbegehren zur Einführung der christlichen Gemeinschaftsschule, dem sich eine breite Koalition unterschiedlichster gesellschaftlicher Grup­pen anschloss. Die CSU lenkte schließlich ein und stimmte Verhandlungen zu, aus denen eine Kompromisslösung hervorging, die alle Punkte des SPD-Entwurfes beinhaltete.

Das Instrument des Volksbegehrens fand auch im Bereich der Medienpolitik Anwendung. Gabert wandte sich damit gegen einen Gesetzentwurf der Staatsregierung, der dieser eine Mehrheit im Rundfunkrat des Bayerischen Rundfunks verschafft hätte. Unter öffentlichem Druck schloss sich die CSU diesem Volksbegehren letztlich selbst an. Auch die Initiative zum ersten bayerischen Naturschutzgesetz ging von der SPD aus.

Nach seinem Ausscheiden aus dem Landtag im Jahr 1978 widmete sich Volkmar Gabert verstärkt dem Gedanken der europäischen Verständigung. Von 1979 bis 1984 gehörte er als Abgeordneter dem ersten direkt gewählten Europaparlament an. Von 1986 bis zu seinem Tod war er Vorsitzender der Seliger-Gemeinde, der Gesinnungsgemeinschaft sudetendeutscher Sozialdemokraten. In dieser Eigenschaft setzte er sich insbesondere nach dem Fall des „Eisernen Vorhangs“ für die Versöhnung zwischen Deutschen und Tschechen ein, ab 1998 auch als Mitglied im Verwaltungsrat des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds.

Volkmar Gabert starb am 19. Februar 2003, im Alter von 79 Jahren, in Unterhaching bei München. Bis heute gilt er als einer der einflussreichsten bayerischen Politiker der Nachkriegszeit. Die entscheidende politische Prägung hatte Gabert jedoch in seiner böhmischen Heimat und durch die Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte erfahren. Die Lehren, die er daraus zog, bildeten für ihn stets die Grundlage seiner politischen Arbeit.

Werke: Mut zur Vernunft. Aus seinen Reden. München/Kochel am See 1972. – mit Heinz Rosenbauer, Parlamentarismus und Föderalismus. Festschrift für Rudolf Hanauer aus Anlaß seines 70. Geburtstages. München 1978. – mit Fred Sinowatz, Das Münchner Abkommen von 1938. Ursachen und Folgen für Europa. München 1988. – SPD im Widerstand, im Wiederaufbau und in der Gestaltung Bayerns. Vortrag von Volkmar Gabert am 19. September 1992 in der Georg-von-Vollmar-Akademie in Kochel. München 1994.

Lit.: Hildegard Kronawitter, Ein politisches Leben. Gespräche mit Volkmar Gabert, München 1996.

Bild: Seliger-Gemeinde e.V.

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Volkmar_Gabert

Webseite: https://www.fes.de/archiv/adsd_neu/inhalt/stichwort/gabert.htm

Mathias Heider