Biographie

Garve, Christian

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Schriftsteller, Philosoph
* 7. Januar 1742 in Breslau
† 1. Dezember 1798 in Breslau

Im selben Jahr, als Schlesien durch den Berliner Frieden rechtlich an Preußen kam, ist Christian Garve geboren worden. Das Leben Garves, Sohn eines einfachen Färbermeisters, war nicht reich an großen äußeren Ereignissen. Die häusliche Redlichkeit seines Elternhauses, die fromme Erziehung durch seine Mutter und das von seinen lutherischen Privatlehrern vermittelte theologische Wissen scheinen ihn auch später stets an eine Grenze des philosophisch Erreichbaren gemahnt zu haben. Seit 1762 studierte Garve Theologie in Frankfurt/Oder, wo Christian Wolffs berühmtester Schüler Alexander Baumgarten lehrte. Nach dem Tod Baumgartens wandte sich Garve 1763 nach Halle, wo er sich für die Fächer Theologie, Philosophie und Mathematik einschrieb. Der dortigen „Pietisterei“ wegen wechselte Magister Garve 1766 weiter nach Leipzig. Hier kam er mit Christian F. Gellert, dem volkstümlichsten Dichter der Aufklärung und Professor für Poesie, Beredsamkeit und Moral, in vertrauten persönlichen Kontakt und schloß Freundschaften, die in umfangreichen Briefwechseln weitergeführt wurden: mit dem Schriftsteller Christian Felix Weiße und dem Theologen Georg Joachim Zollikofer.

1769 habilitierte sich Garve in Leipzig und erhielt, als sein Lehrer Gellert im selben Jahr starb, dessen Ordinariat für Moral. Mit Leipzig konnte sich der kränkelnde und hypochondrisch veranlagte Garve jedoch nicht anfreunden. Der achtundzwanzigjährige Professor klagte über die Arbeitslast, über seinen „Mangel an Lebensgeistern“, über die Lebensumstände; bereits 1772 verließ er seinen Posten in Leipzig und kehrte nach Breslau in das Haus der Mutter zurück. Garve hat seine Heimatstadt, in der er als Schriftsteller finanziell unabhängig arbeiten konnte, bis zu seinem Tod kaum mehr verlassen.

Seine Schriften, welche seit der Rückkehr nach Breslau entstanden, machten Garve berühmt, und schon zu seinen Lebzeiten wurde ihm als Lehrer der Philosophie in den Gelehrtenlexika hohe Anerkennung entgegengebracht. Seine Arbeiten gehören zur popularisierenden Richtung der Aufklärung; neben dem Schriftsteller Johann Jakob Engel (1741-1802) und dem Philosophen Moses Mendelssohn (1729-1786) muß man Garve zu den bedeutendsten Vertretern dieser Strömung zählen.

Die Popularphilosophen hatten das Ziel, ihre sittlichen Maximen aus der alltäglichen Erfahrung zu entwickeln und die aus der Erfahrung erwachsene natürliche Vernunft zur Richterin der Handlungen zu machen, vor allem aber wollten sie philosophische Erkenntnisse einem breiteren Publikum weitergeben. Welches Gebiet Garve auch bearbeitete, er behandelte es stets unter dem Gesichtspunkt der Moral und der Brauchbarkeit für ein glückseliges Leben. Ohne Vertrauen in metaphysische Spekulationen, stellte Garve selbst kein neues philosophisches System auf, sondern suchte den Grundantrieb für sittliche Handlungen in der menschlichen Glückseligkeit. Indem er Sittlichkeit und Religion voneinander trennte, lenkte er bereits in die Wege seines Landsmannes Schleiermacher (1768-1834) ein. Zu der Weiterentwicklung des gesellschaftlichen Lebens und zum Fortschritt der Menschheit auf allen Ebenen wollte Garve beitragen. Dies Motiv galt bei den verschiedensten Themen, ob er Über den Charakter der Bauern …arbeitete, die Ursachen des Verfalls der kleinen Städte untersuchte oder die Pflichten eines Regenten analysierte wie in der Schilderung des Geistes, Charakters und der der Regierung Friedrichs des Zweyten (2 Bde., 1798). Auch in seinem anderen Hauptwerk, Versuche über verschiedene Gegenstände aus der Moral, der Literatur und dem gesellschaftlichen Leben (5 Bde., 1792-1802) stand stets die Beziehung zum alltäglichen Leben im Vordergrund. Selbst dort, wo er sich mit Psychologie, Poesie, Geschichte, Staatswissenschaft oder Literatur beschäftigte, mündeten seine Kernfragen letztlich im Rum der Moral.

Der Wunsch nach populärer Umsetzung philosophischer Erkenntnis prägte einen großen Teil des Garveschen Werkes und war ein Antrieb für die umfangreiche Übersetzungsarbeit, durch welche er eine beachtliche Wirkung ausübte. Er vermittelte dem deutschen Gelehrtenpublikum vor allem Werke der englischen Philosophie: 1772 und 1773 erschienen in Leipzig und Riga seine Verdeutschungen von Adam Fergusons Moralphilosophie und der Schrift Edmund Burkes Über den Ursprung unserer Begriffe vom Erhabenen und Schönen. Wenn man sich die Bedeutung der „Lehre vom Erhabenen“ in der Romantik vergegenwärtigt, so muß man diese dem Kreuzweg zur Romantik zuordnen. 1794-1796 erschien Garves Übersetzung des Werkes Untersuchung über die Natur und Ursache des Nationalreichtums (3 Bde., Breslau 1794-1796) von Adam Smith. Auf Wunsch König Friedrichs II. von Preußen übertrug und kommentierte Garve auch Ciceros Werk De officiis (1783) ins Deutsche, eine Arbeit, die sein philosophisches Hauptwerk wurde und noch zu seinen Lebzeiten drei Neuauflagen erfuhr.

Christian Garve stand mit Goethe, den er 1781 in Weimar besuchte, mit Schiller und mit Kant im Briefwechsel. Schiller hat aus der Korrespondenz mit Garve und aus dessen Schriften eine Fülle von Anregungen für sein eigenes Schaffen entnommen; Garves Bemerkungen über Herodot haben ihn etwa zur Ballade Der Ring des Polykrates inspiriert. An Goethe, zu dessen tiefempfundener Dichtung Garve keinen rechten Zugang fand, und mehr noch an Immanuel Kant erkannte Christian Garve aber auch seine Grenzen. Nach der Lektüre von Kants Kritik der reinen Vernunft mußte Garve feststellen, er wäre „verrückt geworden“, hätte er ein solches Buch schreiben müssen. Er sei „weit entfernt“ davon, sich mit Kant „an Tiefsinn und systematischem Geiste zu messen“, und sei vielmehr zur „Philosophie des Lebens“ gemacht. Im Gegensatz zu Kant, den er hoch verehrte, sah Garve seine Aufgabe darin, als Philosoph eher für den „schwerbegreifenden und flatterhaften Leser“ zu schreiben, weniger „die Wahrheiten von ihren ersten Elementen an zu untersuchen“. So war sein Anliegen weniger ein erkenntnistheoretisches als ein pädagogisches und belehrendes, sein größtes Verdienst die Anregung und Förderung anderer. In Anspielung auf Horaz äußerte er einmal über sich, er glaube, nicht ganz unnütz ein Wetzstein für andere gewesen zu sein, wenn er auch als schneidendes Instrument nur wenig ausgerichtet habe.

Lit.: Schlesische Lebensbilder II: Schlesier des 18. und 19. Jahrhunderts. Hg. von der Historischen Kommission für Schlesien. Sigmaringen 21985 (zuerst ersch. 1924), S. 60-69, hier die ältere Garve-Literatur bis 1924. – Günter Schulz: Christian Garve und Immanuel Kant, Gelehrten-Tugenden im 18. Jahrhundert. In: Jb. d. Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 5 (1960), S. 123-188.  – ders.: Schiller und Garve. In: Jb. d. Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 3 (1958), S. 182-199. – Ders.: Christian Garve über den Patriotismus der Schlesier. In: Schlesien, eine Vierteljahresschrift für Kunst, Wissenschaft und Volkstum (1964), Heft 3, S. 138-142. – Arno Lubos: Geschichte der Literatur Schlesiens, Bd. 1. München 1960,S. 216-218. – NDB Bd. 6,1964,77f. – ADB Bd. 8,1884,8. 385-392. — Karl Gustav Heinrich Berner: Schlesische Landsleute. Ein Gedenkbuch hervorragender in Schlesien geborener Männer und Frauen aus der Zeit von 1800 bis zu Gegenwart. 1901. – Piotr Dehnel: Christian Garve (1742-1798) und die Probleme der Philosophie der deutschen Aufklärung. In: Aufklärung in Polen und Deutschland, 2. Bd. (Acta Universitatis Wratislaviensis Nr. 1107). Warschau, Breslau 1989, S. 167-173. – Kurt Wölfel: Vorreden zu: Christian Garve – Gesammelte Werke, hg. v. Kurt Wölfel. Hildesheim, Zürich, New York 1985-1987, der demnächst erscheinende Schlußband mit einer neuen Biographie Garves

Bild: nach Anton Graff

Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Christian_Garve

Matthias Weber