Biographie

Gerkan, Meinhard von

Herkunft: Baltikum (Estland, Lettland, Litauen)
Beruf: Architekt
* 3. Januar 1935 in Riga
† 30. November 2022 in Hamburg

Viel zu früh verlor Meinhard von Gerkan seine Eltern. Der Vater Arved von Gerkan starb 1943 als Soldat an der Ostfront des Zweiten Weltkrieges, nahe Orscha. Seine Mutter Dagmar, geborene Walter, starb kurz nach der Flucht aus Posen. Dorthin waren Mutter und Sohn im Zuge der Umsiedlung der Baltendeutschen 1939 gelangt. Im Januar 1945 mussten sie vor den heranrückenden sowjetischen Truppen fliehen. Über Stettin, Prenzlau und Hannover gelangten sie nach Bruchhausen-Vilsen. Am 13. April 1946 starb Dagmar von Gerkan in Bassum.

Von Gerkan wuchs bei Pflegeeltern, dem Pastorenehepaar Hedwig und Carl-Justus Hoppe, in Düshorn in der Lüneburger Heide auf. Seine weitere schulische Bildung erhielt er zunächst in Walsrode, danach an einer Waldorfschule in Hamburg, wo er bei einer Gastfamilie im Haus der Anthroposophischen Gesellschaft lebte. Das Abitur legte von Gerkan 1953 an einer Abendober­schu­le am Heiligengeistfeld ab. Nach dem Besuch des Europakollegs und ersten Studien der Fächer Jura und Physik an der Hamburger Universität wechselte von Gerkan 1956 an die Technische Universität in Berlin, um sich dort der Architektur zuzuwenden. Nach dem Vordiplom 1959 wechselte er gemeinsam mit seinem Studienkollegen und Freund Volkwin Marg an die Technische Hochschule Braunschweig, wo er 1964 sein Studium mit einer Diplomarbeit über ein Terminal für den Flughafen Hannover-Langenhagen abschloss.

Ein Jahr später gründeten von Gerkan und Marg ein Architekturbüro in Hamburg. Dieses erarbeitete sich in fast sechs Jahrzehnten mit aufsehenerregenden Bauprojekten, darunter vielen Großprojekten in Deutschland und weltweit, hohes Ansehen. Von Gerkan und Marg realisierten mit ihrer in Hamburg ansässigen und zuletzt an sieben weiteren Standorten, darunter in Asien, vertretenen Firma ‚Architekten von Gerkan, Marg und Partner‘ (gmp) und ihren zahlreichen Partnern, Partne­­rinnen, mehreren hundert Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen weltweit über 500 Projekte und wurden vielfach dafür ausgezeichnet. Von Gerkan entwarf Gewerbe- und Bürobauten, Flughäfen, Bahnhöfe, Veranstaltungshallen, Kongresszentren, Sport­stätten, Opern­häuser, Hochschulen, Museen, Archive, Kirchen und Villen.

Es begann mit mehreren gewonnenen Architekturwettbewerben und frühen Projekten wie der Stormarnhalle in Bad Oldesloe 1967 und dem Sportzentrum im luxemburgischen Diekirch. Seinen Durchbruch erlebte von Gerkan zusammen mit Marg mit dem Bau des „Flughafens der kurzen Wege“ in Berlin-Tegel, der 1974 eröffnet wurde. Seitdem unterhielt gmp eine Niederlassung in Berlin, zunächst nahe dem Flughafen, ab 1999 in Kreuzberg und ab 2006 am Ernst-Reuter-Platz.

Weitere wichtige Verkehrsbauten in Deutschland waren die Erweiterungen der Flughäfen Hamburg-Fuhlsbüttel und Stuttgart, der Bau des Bahnhofs Spandau, des Hauptbahnhofs in Berlin und des Flughafens Berlin Brandenburg Willy Brandt. Das Projekt des Flughafens Scheremetjewo II in Moskau 1980 allerdings scheiterte wie auch spätere Versuche, in der Heimatstadt des Vaters von Gerkan zu bauen. Für die Deutsche Bahn entwarf von Gerkan auch Bahnsteigdächer, die deutschlandweit gebaut wurden, sowie 1999 die Innenraumgestaltung für den Metropolitain Express Train.

Zu den Projekten, die von Gerkan in Berlin realisierte, gehören das Energiesparhaus am Landwehrkanal für die Internationale Bauausstellung 1984, das Restaurant VǍU am Gendarmenmarkt, das Gebäude der Dresdner Bank am Pariser Platz, das neue Tempodrom mit Liquidrom, der Umbau des Berliner Olympiastadions, das Ku’damm-Eck, das Jakob-Kaiser-Haus beim Bundestag und die Gemeinsame Vertretung der Länder Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern.

Eine Sonderstellung unter von Gerkans deutschen Entwürfen nimmt der Christus-Pavillon für die Expo 2000 in Hannover ein, der nach der Ausstellung auf dem Gelände des Zisterzienserklosters in Volkenroda wiedererrichtet wurde. Weitere bekannte Bauten sind die Stadthalle Bielefeld, die Musik- und Kongresshalle in Lübeck, das Hörsaalzentrum der TU Chemnitz, die Neue Weimarhalle, das Bergbauarchiv Clausthal-Zellerfeld, die Fachhochschule des Bundes in Schwerin und die Spielbank Bad Steben.

In seiner Wahlheimat Hamburg baute von Gerkan neben den Stadthäusern für die Bauaustellung 1978, dem Hauptgebäude der TU Harburg, dem Deutsch-Japanischen Zentrum und dem Wohn- und Geschäftshaus in der Grindelallee 100 zahlreiche weitere Wohnhäuser, darunter nicht zuletzt für die eigene Familie. Das Wohnhaus „G“ am Hirschpark in Hamburg-Blankenese wurde 1981 fertiggestellt, 1999 das Wohnhaus an der Elbchausse, wohin 1990 bereits das gmp-Büro aus der St. Benedictstraße umgezogen und 1989 das Restaurant ‚Le Canard‘ eröffnet worden war. Als Rückzugsorte fungierten ein Ferienhaus auf dem Graswarder in Heiligenhafen an der Ostsee, wo von Gerkan später einen innovativen Vogelbeobachtungsturm errichtete, und die Finca Es Rafalet in Mallorca.

International reüssierte von Gerkan 1977 mit einem Entwurf für die Nationalbibliothek in Teheran und kurz darauf dem Bau der zwei Wohnsiedlungen Taima und Sulayyil in der Wüste Saudi-Arabiens. Inspiration zog er nicht zuletzt aus seinen Reisen, die ihn auch nach Russland, Japan, in den Nahen Osten, Nordafrika, Amerika, Vietnam und China führten.

In Vietnam baute von Gerkan 2006 das Nationalmuseum und das Nationale Kongresszentrum sowie 2015 das Gebäude der Nationalversammlung in Hanoi. Ab 1999 entwarf er Wohn- und Bürogebäude, Messe- und Tagungszentren, Einkaufszentren, Businessparks, Sportstadien, Hochhäuser und Operngebäude in China, wo gmp auch eigene Büros eröffnete: in Peking, Shanghai und Shenzhen. Zu den wichtigsten Bauten von Gerkans in China zählen das Chinesische Nationalmuseum in Peking und die Planstadt Lingang New City (später Nanhui New City) bei Shanghai mit dem Verwaltungsgebäude des Distrikts Nanhui und dem China Maritime Museum. Ferner entstanden neben Wolkenkratzern in Shanghai, Büros und Forschungszentren für Huawei in Shenzhen, Peking, Shanghai und Chungchen, dem Bürohaus Wangxiang Plaza in Shanghai, dem Development Central Building in Guangzhou, dem Internationalen Messe- und Kongresszentrum Nanning, der Fortune Plaza in Peking, der CYTS Plaza in Peking, dem Westbahnhof in Tianjin und dem Südbahnhof in Hangzhou, dem SOSC Oriental Sports Center in Shanghai und dem Stadionensemble Shenzhen auch Opernhäuser in Chongqing, Tianjin und Qingdao, das Zhuhai Museum, das Museum für Bildende Kunst und Wissenschaft in Changchun, das Museum und Archiv für Stadtplanung in Shanghai sowie die evangelische Haidan-Kirche und die Schule der Deutschen Botschaft in Peking.

Auf die Suche nach den eigenen Wurzeln, einer Rückeroberung der Topographie des eigenen Lebens, begab sich von Gerkan mit seinen Reisen in seine Heimatstadt Riga. Dort war er am 7. Juli 1935 getauft worden, und in der Dorotheenstraße 42 stand sein Elternhaus. Seit den 1990er Jahren unterhielt von Gerkan ständige Kontakte nach Lettland und baute auch dort, darunter das Bankhaus Citadeles Moduli und ein Wohnhaus in Riga. In Jurmala baute er die Villa Marta um und errichtete das Apartmenthaus Bellevue sowie die Villa Guna.

Von Gerkan schuf nicht alleine innovative Architektur, sondern publizierte auch darüber und gab seine Erfahrungen und architektonischen Leitgedanken – Einfachheit, Vielfalt und Einheit, strukturelle Ordnung und Unverwechselbarkeit – an angehende Architekten und Architektinnen weiter. Von 1974 bis 2002 nahm er eine Professur für Entwerfen am Institut für Baugestaltung der Technischen Universität Braunschweig wahr. Nicht wenige der Studenten und Studentinnen, die eine praxis- und dialogorientierte Ausbildung durchliefen, wurden später für gmp tätig. Gebautes habe „primär Lebensraum zu sein“, war eine wichtige Maxime.

Die Philipps-Universität Marburg verlieh von Gerkan 2003, die Chung Yuan Christian University im taiwanesischen Chung Li 2005 eine Ehrendoktorwürde. Die School of Design der East China Normal University in Shanghai ernannte ihn 2007 zum Ehrenprofessor. Im Jahr 1988 wirkte von Gerkan als Gastprofessor an der Nihon Universität in Tokio, 1993 an der Universität Pretoria in Südafrika, 1995 als Honorary Fellow am American Institute of Architects, 2014 als Visiting Professor an der Southeast University in Nanjing sowie als Advising Professor an der Tongji University in Shanghai.

Zudem organisierte von Gerkan für die Jürgen Ponto-Stiftung, in deren Kuratorium er 1982 berufen wurde, Workshops zum Entwerfen und Planen unter anderem in Wolfenbüttel und Dresden und reiste mit jungen Architekten und Architektinnen nach Japan, das ihn selbst stark geprägt hatte. Von Gerkan war Mitbegründer der gmp-Stiftung und der Academy for Architectural Culture (aac) in Hamburg zur Förderung und praxisorientierten Fortbildung junger Architektinnen und Architekten aus aller Welt. Dort, wo der west-östliche, vor allem asiatische Wissenstransfer gepflegt wird, entwickelte man 2009 auch Zukunftsvisionen für die Nachnutzung des Flughafens Tegel.

Von Gerkan war Mitglied der Freien Akademie der Künste Hamburg, wurde 1995 zum Ehrenmitglied des American Institute of Architects, 2002 zum außerordentlichen Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und 2004 zum Konvent-Präsidiumsmitglied der Bundesstiftung Baukultur ernannt.

Sein Schaffen wurde vielfach ausgezeichnet: darunter 1997/ 2000 mit der Ehrenauszeichnung der Mexikanischen Architektenkammer, 2000 mit dem Fritz-Schumacher-Preis der Alfred Töpfer Stiftung, 2002 mit dem Rumänischen Staatspreis für seinen städtebaulichen Masterplan für Bukarest aus dem Jahr 1996, 2005 mit der Plakette der Freien Akademie der Künste Hamburg und dem Großen Preis des Bundes Deutscher Architekten, 2008 seitens des Chicago Athenaeum Museum of Architecture and Design, 2009 mit dem Verdienstkreuz Erster Klasse der Bundesrepublik Deutschland, 2013 mit dem ULI Germany Leadership Award, 2016 mit dem Baukultur-Preis des Bundes Deutscher Architekten und 2019 mit dem Liang-Sicheng-Preis der Architectural Society of China. Im Jahr 2021 folgte die Ernennung zum Großoffizier des Verdienstordens der Republik Lettland.

Von Gerkan war zweimal verheiratet, in erster Ehe mit Gerda Kühn, in zweiter mit Sabine Rechenbach. Aus diesen Ehen gingen sechs Kinder hervor: Florence, Franziska Manon, Arved, Alisa, Julian und Jonathan. Von Gerkan starb im Alter von 87 Jahren am 30. November 2022 in Hamburg.

Werke (Auswahl): Die Verantwortung des Architekten. Bedingungen für die gebaute Umwelt, Stuttgart 1982. – Alltagsarchitektur: Gestalt und Ungestalt, Wiesbaden, Berlin 1987. – Architektur im Dialog. Texte zur Architekturpraxis, Berlin 1995. – Black Box BER. Vom Flughafen Berlin Brandenburg und anderen Großbaustellen. Wie Deutschland seine Zukunft verbaut, Berlin 2013.

Lit.: Tietz, Jürgen: Meinhard von Gerkan. Vielfalt in der Einheit/ Biografie in Bauten 1965-2015. Die autorisierte Biografie, Berlin 2015.

Bild: nach www.gmp.de

Sabine Dumschat