Biographie

Gersdorff, Rudolf-Christoph Freiherr von

Herkunft: Schlesien (Ober- u. Niederschlesien)
Beruf: Generalmajor, Widerstandskämpfer
* 27. März 1905 in Lüben/Schlesien
† 27. Januar 1980 in München

In Lüben, damals Garnisonsstadt seines Vaters, des Eskadronchefs Ernst Freiherr von Gersdorff, wurde Rudolf-Christoph als zweiter Sohn geboren und verbrachte dort seine Kindheit und Jugend bis zum Abitur im Jahre 1923. In seinen Erinnerungen schildert Gersdorff seine Eltern – die Mutter, eine Ostpreußin, war eine geborene Burggräfin und Gräfin zu Dohna-Schlodien – als „preußische Menschen im Sinne der philosophischen Bedeutung des Preußentums“ und charakterisiert sie als ebenso traditionsbewußt wie tolerant und weltoffen, gerecht und verantwortungsbewußt. Der väterlichen Familie, die sich bis in das 10. Jahrhundert zurückführen läßt, verzweigte sich in kaiserlichen, sächsischen, preußischen, dänischen und russischen Diensten bis nach Livland; ihr entstammten eine Reihe von hochrangigen Offizieren, aber auch Gelehrte und Künstler. Entgegen dem Wunsch von Rudolf-Christophs Großvater hatte sein Vater ein Jurastudium abgebrochen und war als passionierter Reiter in das Leibkürassierregiment in Breslau eingetreten. Dem Enkel verwehrte eine gestrenge Rekrutierungskommission wegen erheblichen Untergewichts bei überdurchschnittlicher Körperlänge zunächst, in die Fußstapfen des Vaters zu treten. Der Chef der in Lüben stationierten Eskadron des 7. (Preuß.) Reiterregiments hatte jedoch ein Einsehen und übernahm den Abiturienten in seine Einheit. Ende 1926, am Sterbetag des Vaters, der bereits 1920 nach dem Kapp-Putsch als Generalmajor verabschiedet worden war, erfolgte Gersdorffs Ernennung zum Leutnant.

Die militärische Karriere des jungen Offiziers verlief zunächst in den üblichen Bahnen. Außergewöhnlich erfolgreich war Gersdorff dagegen als Rennreiter. Im Jahr 1934, dem Jahr seiner Verheiratung, sah er selbst den Höhepunkt dieser sportlichen Laufbahn. Es war dasselbe Jahr, in dem ihm die ersten Gerüchte über die nationalsozialistischen Konzentrationslager zu Ohren kamen. Politisch konservativ wie die meisten der durchweg adligen Offiziere seines Regiments und wie sein Bruder der Deutschnationalen Volkspartei nahestehend, protestierte er während der Generalstabsausbildung 1938 an der Kriegsakademie in Berlin als Hörsaalältester heftig gegen die Vorfälle der „Reichskristallnacht“. Die Meldung zur Kriegsakademie hatte er Oberst i.G. Erich Marcks zu verdanken, dem er während einer Generalstabsreise aufgefallen war. Wenige Tage vor dem Einmarsch deutscher Truppen in die Tschechoslowakei wurde Gersdorff mit einer Gruppe von Lehrgangsteilnehmern von Hitler in der Reichskanzlei empfangen. Der gehemmt wirkende Reichskanzler, der erst beim Thema Tschechoslowakei auftaute und sich monologisierend dazu erging, machte dabei auf Gersdorff den Eindruck eines „widerlichen, aufgeschwemmten Proleten“.

Nach dem Polenfeldzug, den Gersdorff als Ic-Offizier im Stab der 14. Armee erlebt hatte, wurde er als Ia einer Infanteriedivision an die Westfront versetzt, wo er zu Beginn des Frankreichfeldzugs zufällig mit dem damaligen Major i. G. Henning von Tresckow zusammentraf, dem er vermutlich durch einige kritische Bemerkungen über den Ausbildungsstand der zum Einsatz kommenden deutschen Truppen auffiel. Jedenfalls erinnerte sich Tresckow an den jungen Generalstabsoffizier und erreichte, daß Gersdorff im April 1941 als Ic zu ihm in den Stab der Heeresgruppe Mitte nach Posen abkommandiert wurde, wo dieser den als Tresckows Ordonnanzoffizier dorthin versetzten Leutnant Fabian von Schlabrendorff und andere kritisch bis oppositionell eingestellte Offiziere kennenlernte. Als der Heeresgruppe die kriegsrechtswidrigen Befehle Hitlers für den geplanten Krieg gegen die Sowjetunion („Kommissarbefehl“ und „Gerichtsbarkeitserlaß Barbarossa“) bekannt wurden, konnte sich ihr Oberbefehlshaber Fedor von Bock, ein Vetter Tresckows, nicht entschließen, dessen Forderung einer persönlichen Intervention bei Hitler zu akzeptieren. In einer hilflosen Geste entsandte er stattdessen Gersdorff zum Oberkommando der Wehrmacht, wo die Empörung des Kreises um Tresckow wirkungslos verpuffte. Als die ausgeblutete Heeresgruppe Mitte das Ziel der Eroberung Moskaus Ende 1941 nicht erreichte und von Bock durch Hans Günther von Kluge ersetzt wurde, kam Tresckow seinem Ziel, den Heeresgruppenstab zu einem Zentrum des Widerstandes gegen Hitler auszubauen, allmählich näher. Obwohl er den neuen Oberbefehlshaber nicht zu oppositionellen Aktivitäten überreden konnte, ließ von Kluge seinen Ia gewähren. Mit Tresckow waren sich Gersdorff, Schlabrendorff, Berndt von Kleist und andere Offiziere des Heeresgruppenstabes seit 1942 einig, daß ein Umsturz nur durch eine gewaltsame Beseitigung Hitlers möglich sei. Gersdorff bedrängten Zweifel am Kriegsausgang wegen Hitlers rücksichtsloser und konzeptionsloser Kriegführung ebenso wie Scham angesichts der verbrecherischen Besatzungspolitik des NS-Regimes, von der er gerüchteweise bereits in Polen erfahren hatte. Letzte Klarheit verschaffte ihm im Oktober 1941 die dienstliche Kenntnis von der Ermordung der jüdischen Bewohner der weißrussischen Stadt Borissow.

Im Sommer 1942 besorgte Gersdorff für Tresckow und Schlabrendorff erstmals Sprengstoff, der für ein Attentat Verwendung finden sollte. Als Beutematerial verfügten die Abwehrstellen beider Heeresgruppen, mit denen Gersdorff als Ic dienstlichen Kontakt hatte, über englischen Plastiksprengstoff, als Zünder standen allerdings nur langsam wirkende und unpräzise auslösende Säurezünder zur Verfügung. Ein erster Attentatsversuch Tresckows und Schlabrendorffs auf Hitlers Flugzeug, das Hitler vom Frontbesuch bei der Heeresgruppe am 13. März 1943 in sein Hauptquartier in Rastenburg (Ostpreußen) zurückflog, schlug fehl, weil der Zünder versagte. Gersdorff übernahm es daraufhin, bei einer Vorführung sowjetischer Beutewaffen im Berliner Zeughaus am 21.März 1943 im Rahmen einer Heldengedenktagsfeier sich zusammen mit Hitler in die Luft zu sprengen. Die Ausstellungsstücke waren bei der Heeresgruppe Mitte erbeutet und von Gersdorff zusammengestellt worden. Obwohl er deshalb als Führer durch die Ausstellung prädestiniert schien, wäre der Attentatsversuch beinahe schon im Ansatz gescheitert, weil Hitler den Kreis der Teilnehmer selbst zusammengestellt hatte. Hitlers Chefadjutant Schmundt, Tresckow seit längerem kameradschaftlich verbunden, nahm es schließlich auf sich, Gersdorff zur Begleitung Hitlers während der Ausstellung zuzulassen. Als Hitler zusammen mit Göring, Himmler, Keitel und Dönitz erschienen war, betätigte Gersdorff den Zünder seiner Sprengladung, der eine Zündzeit von etwa zwölf Minuten hatte, und versuchte neben Hitler herlaufend, Erklärungen zu einzelnen Ausstellungsstücken zu geben. Statt der vorgesehenen 15 Minuten durcheilte Hitler den Saal jedoch kommentarlos in weniger als fünf Minuten und verließ nach knapper Verabschiedung von Gersdorff und Generaloberst Model, mit dem Gersdorff von der Front nach Berlin geflogen war, das Zeughaus, um einen im Freien aufgebauten sowjetischen T-34-Panzer zu erklettern, der ihn offensichtlich mehr interessierte. Gersdorff entledigte sich in der nächsten Toilette schnellstens des Zünders. Einige Zeit nach seiner Rückkehr an die Front brachten die Verschwörer Kluge unter anderem durch die Mitteilung von Gersdorffs Attentatsversuch dazu, sich auf ihre Seite zu schlagen. Neben anderen Aktivitäten entsandte von Kluge seinen Ic zum Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Süd, Generalfeldmarschall von Manstein, um ihn für eine Aktion der maßgeblichen Generale bei Hitler zu gewinnen. Manstein lehnte jedoch jede gegen Hitler gerichtete Maßnahme strikt ab.

Im September 1943 wurde Gersdorff wegen einer Magenoperation zur Führerreserve des Heeres versetzt. Während eines Lehrganges im Januar 1944 lernte er im Hause Schlabrendorffs und im Beisein Tresckows Claus von Stauffenberg kennen. Tresckow teilte ihm außerdem mit, daß er bald als Chef eines Korps an die Westfront versetzt werde und sich im Falle eines Staatsstreiches in Berlin zur Verfügung stellen solle. Ende des Monats war Gersdorff in Posen unter den etwa 300 Generalen und Offizieren, vor denen Himmler bekannte, daß es keine Judenfrage mehr gebe.

Ab Februar 1944 tat Gersdorff als Stabschef des LXXXII. Armeekorps Dienst im Abschnitt Dünkirchen – Boulogne des Atlantikwalls. Wenige Wochen nach der alliierten Invasion nahm von Kluge als neuer Oberbefehlshaber West Verbindung mit ihm auf. Gersdorffs Drängen, in Kontakt mit den Westalliierten zu treten, lehnte er allerdings ab. Nach dem alliierten Durchbruch von Avranches schickte ihn der Feldmarschall als Stabschef zur 7. Armee, wo er kurz vor seinem Selbstmord Mitte August 1944 auftauchte, um sich von Gersdorff zu verabschieden und ihm Abschiedsbriefe für seine Familie zu übergeben.

Im Strudel der deutschen Niederlage an der Invasionsfront gelang es Gersdorff trotz Verwundung, Teile der 7. Armee und der 5. Panzerarmee aus dem Kessel von Falaise–Argentan herauszuführen, wofür er mit dem Ritterkreuz ausgezeichnet wurde, und, zwischenzeitlich Stabschef der 5. Panzerarmee, Ende August 1944 nach der Gefangennahme durch eine britische Panzereinheit aus deren Gewahrsam zu entfliehen. Wieder Stabschef bei der 7. Armee, machte er deren Rückzug durch Frankreich und Deutschland mit und kam, am 30. Januar zum Generalmajor befördert, am 8. August 1945 im Raum Teplitz-Schönau in amerikanische Gefangenschaft. Zunächst noch im Prominentenlager Oberursel an der kriegsgeschichtlichen Aufarbeitung des Zweiten Weltkrieges durch die Historical Division der US Army beteiligt, wurde er im Mai 1946 in Nürnberg als Zeuge vernommen und trat 1948 im sogenannten Südostprozeß als Zeuge der Verteidigung auf. Obwohl Gersdorff schon bei seiner Vernehmung 1946 den Generalstab entlastet hatte und deshalb nicht als Zeuge der Anklage eingesetzt worden war, distanzierte sich ein großer Teil seiner Mitgefangenen im Offizierslager Allendorf, wo er seit Sommer 1946 kriegsgefangen war, von ihm, nachdem Schlabrendorffs Buch Offiziere gegen Hitler mit der Schilderung des Kreises um Tresckow und von Gersdorffs Attentatsversuch in Zürich erschienen war. Eine Abordnung von Generalen verlangte sogar, Gersdorff aus dem Lager zu entfernen. Als einer der letzten kriegsgefangenen Generale wurde er Ende November 1947 entlassen.

Bemühungen von Freunden, Gersdorff beim Aufbau der Bundeswehr zu verwenden, scheiterten offensichtlich an der Abneigung maßgeblicher Kreise, den Widerständler und Beinahe-Hitler-Attentäter dazu heranzuziehen. Von 1951 bis 1963 war er ehrenamtlicher Leiter der Johanniter-Unfallhilfe, die er aufgebaut hatte. Anschließend ging er aus beruflichen Gründen nach München. Eine von einem Reitunfall herrührende Querschnittslähmung fesselte ihn seit 1968 bis zum Ende seines Lebens an den Rollstuhl.

Werke: Soldat im Untergang, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1977.

Lit.: Fabian v. Schlabrendorff: Offiziere gegen Hitler, 1. Aufl. Zürich 1946, 2. durchges. Aufl. Tübingen 1979; – Bodo Scheurig: Henning von Tresckow, Oldenburg u. Hamburg 1973; – Karl Otmar v. Aretin: Henning von Tresckow, in: Rudolf Lill, Heinrich Oberreuter: 20. Juli. Portraits des Widerstands, Düsseldorf, Wien 1984.

Bild: Oberst von Gersdorff, vermutlich im Spätsommer 1944; Bundesarchiv Koblenz.

Hermann Weiß