Biographie

Gindely, Anton

Herkunft: Sudeten (Böhmen u. Mähren, österr. Schlesien)
Beruf: Historiker
* 3. September 1829 in Prag
† 24. Oktober 1892 in Prag

Anton Gindely entstammte einfachen Verhältnissen. Der Vater, Joseph Gindely, war Tischlermeister. Seine Familie kam aus Schwaben: sie war um 1720 nach Böhmen eingewandert. Als wandernder Geselle hatte Joseph Gindely sich in Prag niedergelassen, nachdem er dort das tschechische Kammermädchen Veronika, geb. Kila, kennengelernt und geheiratet hatte. Da der Vater deutscher und die Mutter tschechischer Herkunft war, wuchs Anton nicht nur zweisprachig auf, sondern fühlte sich auch sein Leben lang dem Deutsch- und dem Tschechentum sowie darüber hinaus dem Magyarentum verbunden. „Mein Vater“, so hat er sich einmal geäußert, „ist ein Magyar, meine Mutter eine Böhmin, meine Erziehung deutsch; so weiß ich mich in die einzelnen Nationalitäten hineinzuleben, ohne im einzelnen von einer befangen zu sein“. Gleichwohl war es das Deutschtum, das ihn am nachhaltigsten prägte, zumal er seine Erziehung an deutschen Ausbildungsstätten erhielt und zudem unter den Einfluß keines Geringeren als des Historikers Konstantin von Hoefler geriet, der aus Memmingen stammte und 1851 nach Prag gekommen war. Mitglied des Görreskreises, wurde er zu einem Vorkämpfer des Deutschtums in Böhmen.

Die Einbindung Gindelys in das Deutschtum, das Tschechen- und das Magyarentum waren für ihn kein Hinderungsgrund, sich im Jahrhundert eines ausgeprägten nationalstaatlichen Denkens als Europäer zu empfinden. Im Anschluß an die Promotion an der Universität Prag und die gleichzeitige Lehramtsprüfung in Geschichte, Geographie, deutscher Sprache, Mathematik und Physik sowie für den philosophischen Unterricht wurde er Supplent (Hilfslehrer) an der Universität Olmütz (bis zu ihrer Aufhebung 1854), dann Realschulprofessor in Prag. 1862, somit in seinem 33. Lebensjahr, erfolgte seine Ernennung zum außerordentlichen Professor für österreichische Geschichte in Prag und gleichzeitig zum Landesarchivar, 1867 zum ordentlichen Professor. Die dadurch gewährleistete materielle Absicherung ermöglichte es ihm, europaweite Forschungsreisen zu unternehmen, damit sicher auch seinem Denken und Empfinden in europaweiten Dimensionen entsprechend. Jahrelang arbeitete er in den bedeutendsten Bibliotheken und Archiven Europas, und zwar denen Roms, Venedigs, Paris‘, Brüssels, Den Haags, Amsterdams, Kopenhagens, Aachens, Kölns, Hamburgs, Dresdens, Berlins, Breslaus, Münchens und Wiens.

Die durch Gindely verfaßten Arbeiten – sie befassen sich insbesondere mit der Geschichte Böhmens im 17. Jahrhundert – sind geprägt durch eine Betrachtung der Ereignisse aus europäischer Sicht. Und diese Betrachtungsweise hat ihm, wie hätte es im nationalstaatlich ausgerichteten 19. Jahrhundert anders sein können, Kritik von deutscher und tschechischer Seite eingetragen. In der Donaumonarchie sah Gindely ein zweckmäßiges staatliches Gebilde, dessen Erhaltung er daher für notwendig erachtete. Dementsprechend schrieb er: „Ich möchte aus meiner Geschichtsschreibung die Lehre hervorgehen lassen, daß, nachdem die Vorsehung es einmal zugelassen hat, daß durch die Tatkraft der einen und die Fehler der anderen das Gebilde des österreichischen Staates herauswuchs und nachdem es unbedingt feststeht, daß, ohne unendliches Weh zu erzeugen, eine Lockerung dieses Verbandes nicht zugegeben werden kann und diejenigen, welche es unvernünftig genug wollen, den Schaden selbst später tragen würden, daß, sage ich, man sich in diesem staatlichen Verband an einander gewöhnen muß, so gut es geht. Eine von dieser Idee getragene Geschichtsschreibung hat nichts Verletzendes in sich, sie ist im Stande, die Gegensätze zu versöhnen, ein gesamtnationales Bewußtsein wach zurufen … Die partikularen Fragen und die separaten nationalen Wünsche lösen sich dann mit einer rapiden Leichtigkeit, wenn über die Haupt- und Lebensfrage kein Zweifel existiert, und die Regierung hört auf im Zustande der Notwehr zu sein“ (Gindely an Helfert am 18.7.1860).

Wenn Gyndelys Vorstellungen auch nicht immer akzeptiert wurden, so brachte man ihnen zumindest Respekt entgegen. Das beweist eindrucksvoll seine Berufung zum korrespondierenden Mitglied der Wiener Akademie der Wissenschaften 1861 und zum ordentlichen 1870, mithin in relativ jungen Jahren. Und von hohem Respekt vor seiner wissenschaftlichen Leistung zeugt auch, daß er 1873/74 Kronprinz Rudolf in Geschichte unterrichtete. Zu seinem Schülerkreise zählen so bedeutende Historiker wie Heinrich Friedjung, Emil Werunsky, Josef Pekaf und Camillo Krofta. Gindelys pädagogische Fähigkeiten finden ihren Ausdruck in seinen Schulbüchern, die großen Anklang fanden.

Insgesamt gesehen hat man Anton Gindely maßgeblich denjenigen Repräsentanten deutscher Geistesarbeit zuzurechnen, die „die Kenntnis der slawischen Forschung, die mögliche Zusammenarbeit mit ihr bei allem Festhalten am eigenen nationalen Recht und die möglichste Freiheit von den Postulaten der Gegenwarts- und Zukunftspolitik auf geschichtswissenschaftlichem Boden als ihre sittliche Pflicht bewahrt[en]“ (H. v. Srbik).

Werke (Auswahl): Geschichte der Böhmischen Brüder (1857). – Quellen zur Geschichte der Böhmischen Brüder (1859). – Rudolf II und seine Zeit. 1600 bis 1612 (1863; 21868). – Geschichte der böhmischen Finanzen 1526-1618, in: Denkschriften der kaiserl. Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. KL, Bd. 18 (1869). – Geschichte des dreißigjährigen Krieges (Bd. 1: 1869; Bd. 2 u. 3: 1878; Bd. 4: 1880). – Geschichte des dreißigjährigen Krieges (1882; dreibändige Kurzfassung). – Das Zunftwesen in Böhmen vom 16. bis ins 18. Jahrhundert (Abh. d. kgl. böhm. Gesellsch. d. Wissensch. 1884). – Geschichte der Gegenreformation in Böhmen (1894). – Hrsg.: Monumenta historiae behemica, 5 Bde. (1864-90). – Böhm. Landtagsverhandlungen und -beschlüsse seit 1526, 12 Bde. (1872-92).

Lit.: B. Bretholz, in: ADB, Bd. 49 (Nachtr.), Leipzig 1904, S. 364-67. – A. Huber, in: Almanach der kaiserl. Akademie d. Wissensch., 43. Jg. (1893), S. 296-300. – Die deutsche Karl Ferdinands-Univ. in Prag (1899), S. 439, 477. – H. v. Srbik: Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, 1. Bd. (1951), S. 111f. – Alphons Lhotsky: Geschichte des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 1854-1954 (1954), S. 143, 147, 173, 271. – Richard Georg Plaschka: Von Palacky bis Pekaf. Geschichtswissenschaft und Nationalbewußtsein bei den Tschechen, in: Wiener Archiv des Slawentums und Osteuropas, Bd. l (1955), S. 35-44. – Reinhold Lorenz: Gindely, Anton, Historiker, in: NDB, Bd. 6, Berlin 1964, S. 402.